1 Einleitung

Je nach Quelle und Zeitpunkt der Veröffentlichung existieren unterschiedliche Definitionen für das Long-COVID- oder Post COVID-Syndrom, das auch immer wieder unter anderen Namen wie „post-acute sequelae of COVID-19“ (PASC), „post-acute COVID syndrome“ (PACS), „chronic COVID syndrome“ (CCS) oder „COVID-19 long-hauler“ auftaucht. Die deutsche AWMF-Leitlinie folgt in ihrer Definition in einem zunehmenden Konsensus der von der WHO geleiteten Delphi-Konferenz (Soriano et al. 2022) und definiert ein „Long/Post-COVID-Syndrom“ unter Heranziehung der folgenden Kategorien:

  1. 1.

    Symptome, die nach der akuten COVID-19 oder deren Behandlung fortbestehen,

  2. 2.

    neue Symptome, die nach dem Ende der akuten Phase auftreten, aber als Folge der SARS-CoV-2-Infektion verstanden werden können,

  3. 3.

    Verschlechterung einer vorbestehenden Erkrankung in Folge einer SARS-CoV-2-Infektion (Koczulla et al. 2023)

Merklich verzichtet diese Definition komplett auf die Forderung eines objektivierbaren Diagnosekriteriums oder auch nur eine Beschreibung eines Symptomkomplexes, macht keinerlei Angaben zu Pathomechanismen sondern fordert alleine den zeitlichen Zusammenhang (meist drei Monate) der Beschwerden (bzw. eine Beschwerdeverschlechterung) zu einer „wahrscheinlichen oder nachgewiesenen Infektion mit SARS-CoV-2“ (Soriano et al. 2022).

Eine Schweregradeinteilung erfolgt anhand der funktionellen Einschränkungen im Alltag von Grad 0 („keine funktionelle Einschränkung“) bis Grad 4 („schwere funktionelle Einschränkung)“ (Koczulla et al. 2023). Diese Schwammigkeit der Definition sorgt zunächst einmal dafür, dass alle Symptome, die in einem zeitlichen Zusammenhang mit einer Infektion mit SARS-CoV‑2 auftreten und nicht von einer anderen Diagnose erklärt werden können als Long/Post-COVID-Syndrom bezeichnet werden können.

Inwiefern diese Bezeichnung für Patient*innen oder Behandler*innen hilfreich ist, steht auf einem anderen Blatt. Die beschrieben Prävalenzen und Symptome unterscheiden sich sehr stark in Abhängigkeit von der untersuchten Kohorte, dem Rekrutierungsverfahren, dem zeitlichen Abstand zur Infektion, der Art der Erhebung des Infektionsstatus (anamnestisch oder serologisch) und dem Vorhandensein einer COVID-negativen Kontrollgruppe bei oft moderater bis niedriger Studienqualität (Nasserie et al. 2021). Risikofaktoren beinhalten weibliches Geschlecht, Atemnot während der Akutinfektion, vorbestehende Lungenerkrankung, vorbestehende psychiatrische Diagnose (insbesondere Depressionen, Angststörungen, Fibromyalgie, Reizdarmsyndrom, Essstörungen, Rückenschmerzen) und ein initial schwerer akuter Infektionsverlauf (Joffe and Elliott 2023).

Durch das Fehlen objektivierbarer Kriterien und die Vielfältigkeit oft unspezifischer Symptome, die „medizinisch nicht erklärbar“ sind, ist es oft nicht klar, ob Symptome einem Long/Post-COVID-Syndrom zugeordnet werden können (O’Hare et al. 2022). Diese Schwierigkeiten sowohl in der allgemeinen Definition, als auch in der individuellen Diagnosestellung sollten kein Grund dafür sein, sich nicht mit dem Thema zu beschäftigen oder den damit verbundenen Leidensdruck der Patient*innen nicht ernst zu nehmen, sollten aber vorweg noch einmal deutlich machen, dass wir es bei Long/Post-COVID nicht mit einem abgegrenzten Krankheitsbild, sondern mit einer Vielfalt an Symptomen, die nur ein zeitlicher Zusammenhang verbindet, zu tun haben. Die Pathogenese hingegen ist nicht geklärt, multifaktoriell und nicht bei allen Patient*innen gleich (Koczulla et al. 2023).

Dabei sind postvirale Syndrome mit vielfältigen Symptomen kein neues Phänomen, sondern von anderen Erkrankungen wie z. B. dem Eppstein-Barr-Virus schon länger bekannt. Neu ist an dieser Stelle insbesondere die deutlich größere öffentliche und fachliche Aufmerksamkeit, die diesem Thema gewidmet wird, was sicherlich mit den höheren Fallzahlen durch die geballten Infektionswellen, wahrscheinlich aber auch durch die erhöhte psychosoziale Belastung während der Pandemie zu erklären ist. Hier sind ähnliche, ebenfalls multifaktorielle Pathomechanismen zu vermuten, was sich auch in dem neuen Titel der österreichischen Leitlinie „Leitlinie S1 für das Management postviraler Zustände am Beispiel Post-COVID-19“ (Rabady et al. 2023) zeigt.

Eine Sonderstellung nehmen dabei sicherlich Patient*innen ein, die während der akuten COVID-19-Infektion in intensivmedizinischer Behandlung waren und unter einem „Post-Intensive-Care-Syndrom“ (PICS) leiden, bei dem sowohl der kritische Krankheitszustand (z. B. Acure Respiratory Distress Syndrom [ARDS]), daraus folgende Komplikationen (z. B. Multiorganversagen, Schmerzen) und die intensivmedizinische Behandlung an sich (z. B. Beatmung, Sedierung, Immobilisation) (Renner et al. 2022) eine wichtige pathogenetische Rolle spielen, die jedoch für Post-COVID-Zustände meist wenig spezifisch ist.

2 Symptome bei Long/Post-COVID

Wie oben bereits diskutiert sind die Symptome bei Long/Post-COVID vielfältig und nehmen mit größerem Abstand zur Infektion ab. Dabei sind insbesondere Allgemeinsymptome wie Fatigue, Konzentrationsschwierigkeiten, Luftnot und eine eingeschränkte körperliche und geistige Leistungsfähigkeit beschrieben, wobei in einer großen französischen Kohortenstudie bemerkenswerterweise einzig Anosmie mit einer durch serologischen Nachweis bestätigten COVID-Infektion assoziiert war, während die anderen Symptome ausschließlich eine Assoziation zur der Überzeugung, an SARS-CoV‑2 erkrankt zu sein, hatten (Matta et al. 2022). Dabei schätzen Patient*innen den Schweregrad ihrer Erkrankung und die daraus resultierenden Einschränkungen signifikant höher ein als ihre internistischen und psychiatrischen Behandler*innen (Ruzicka et al. 2023).

Fatigue, also eine subjektiv stark einschränkende Erschöpfung auf somatischer, kognitiver und/oder psychischer Ebene, ist eines der am häufigsten beklagten Symptome bei Post/Long-COVID, das die Erkrankung auch immer wieder ins Licht der Öffentlichkeit rückt. Gleichzeitig ist Fatigue jedoch eines der häufigsten Symptome in der Allgemeinmedizin, das multiple Ursachen sowohl auf körperlicher, als auch auf psychosozialer Ebene haben kann und auch ein Symptom verschiedener psychischer Krankheitsbilder, insbesondere Depressionen, ist. Daher kann bei der Entwicklung einer Fatigue-Symptomatik nach COVID-Infektion nicht automatisch von einem Kausalzusammenhang ausgegangen werden, gleichzeitig wird diese von Patient*innen oft hartnäckig darauf attribuiert (Koczulla et al. 2023).

3 Multifaktorielle Genese und das Bio-Psycho-Soziale Modell

Aus all den oben beschriebenen Gründen besteht die (weitestgehend) übereinstimmende Meinung, dass von einer multifaktoriellen und individuell unterschiedlichen Genese der beschriebenen Beschwerden ausgegangen werden muss. Insbesondere in diesen Fällen ist es unumgänglich, die dualistische Frage nach einer körperlichen oder psychischen Ursache der Beschwerden zu verwerfen und sich stattdessen auf die Komplexität bio-psycho-sozialer Zusammenhänge, wie sie in dem Modell von George Engel (Engel 1978) formuliert werden, einzulassen (Thurner und Stengel 2023). Er formulierte das Konzept von Gesundheit und Krankheit neu und schlägt eine Beurteilung sowohl von Krankheitsfaktoren als auch Symptomen auf einer biologischen, psychologischen und sozialen Ebene vor, die sich gegenseitig beeinflussen.

Bei Patient*innen mit Long/Post-COVID-Syndrom werden verschiedene mögliche biologische Einflussfaktoren diskutiert. So entwickeln sich bei einigen Patient*innen nachweisbare Organschädigungen (z. B. Lunge, Herz, Hirn, peripheres Nervensystem), die zu Einschränkungen führen. Bei den meisten Patient*innen ist jedoch eine solche Organschädigung nicht nachweisbar. Es werden weitere biologische Einflussfaktoren wie eine Viruspersistenz, „low-grade“-Inflammation, Autoantikörper, Durchblutungsstörungen, autonome Dysfunktion sowie Hyperkapnie diskutiert, es ist jedoch weiterhin nicht klar, ob diese in verschiedenen Studien gemessene Veränderungen relevant und spezifisch für die jeweilige Symptomatik sind (Koczulla et al. 2023).

Auch auf psychosozialer Ebene sind Einflussfaktoren bekannt. Patient*innen mit Long/Post-COVID-Syndrom haben mehr psychische Probleme wie Depressionen, Angststörungen und Schlaflosigkeit, die auch mit der Ausprägung der körperlichen Symptome korrelieren. Darüber hinaus sind vorbekannte psychische Erkrankungen ein Risikofaktor für die Entwicklung eines Long/Post-COVID-Syndroms (Yu and McCracken 2023). Zusätzlich konnte ein Zusammenhang zu antagonistischen Persönlichkeitszügen, Perfektionismus, ausgeprägter Alexithymie und Hyperarousal festgestellt werden (Craparo et al. 2022; Kachaner et al. 2022). Auch wenn hier eine erhöhte psychische Belastung als Folge der körperlichen Einschränkungen gesehen werden könnte, gibt es zwischen den verschiedenen psychischen und somatoformen Erkrankungen, die als Risikofaktoren für die Entwicklung eines Long/Post-COVID-Syndroms wahrscheinlich sind, und der Assoziation zu überdauernden Persönlichkeitszügen wie Antagonismus und Alexithymie klare Hinweise, die einen Zusammenhang bestätigen.

4 Long/Post-COVID als Somatic Symptom Disorder (SSD)

Ein Großteil der Patient*innen mit Long/Post-COVID erfüllen die Diagnosekriterien für eine Somatic Symptom Disorder (SSD) (Kachaner et al. 2022). Daher wurde vorgeschlagen, Long/Post-COVID als eine SSD zu begreifen und die Therapie an diesem Konzept auszurichten, das die Beschwerden als vorwiegend funktionelle und dadurch potenziell reversible Phänomene begreift (Joffe and Elliott 2023). Im Gegensatz zu der noch im ICD-10 verhafteten Diagnose der Somatisierungsstörung, die weiter von einer dualistischen Vorstellung ausgeht und explizit die Abwesenheit somatischer Befunde als ein Diagnosekriterium fordert, verzichtet dieses Konzept auf eine Festlegung bezüglich möglicher somatischer Einflussfaktoren. Stattdessen fokussiert es auf den übermäßigen kognitiven, emotionalen und behavioralen Fokus, den Patient*innen auf die Beschwerden legen und die daraus resultierende Funktionseinschränkung. Auch die oben beschriebenen Faktoren, insbesondere Alexithymie, stehen in engem Zusammenhang mit somatoformen Störungen (Pedrosa Gil et al. 2009), ebenso wie die klinisch gut bekannte und oft hartnäckige Weigerung der betroffenen Patient*innen, sich mit der Möglichkeit psychosozialer Einflussfaktoren auseinander zu setzen.

In der Behandlung dieser oft als schwierig empfundenen Patient*innen ist eine enge Kooperation zwischen Allgemeinmediziner*innen, Fachärzt*innen je nach Symptomen, Psychiater*innen und Psychotherapeut*innen auf der Basis des biopsychosozialen Modells unumgänglich (Henningsen 2018). Dabei sollte der Fokus darauf liegen, auf einem individuellen Level biologische, psychische und soziale Einflussfaktoren zu er- und bearbeiten. An erster Stelle steht dabei natürlich eine ausführliche Anamnese, die all diese Bereiche mit einbezieht und dabei sowohl überdauernde als auch aktuell veränderte Muster ins Auge fasst und eine erste orientierende Einschätzung erlaubt. In der Behandlung spielen neben der Behandlung abgegrenzter Symptome innerhalb der jeweiligen Fachrichtung (z. B. Depressivität und Ängstlichkeit im Rahmen der Psychotherapie, Einschränkungen der Lungenfunktion beim Pneumologen) insbesondere auch die Zusammenhänge zwischen den verschiedenen Feldern, wie zum Beispiel die kognitive, emotionale und behaviorale Reaktion auf das Auftreten körperlicher Symptome, die Reaktion des sozialen Umfelds auf die Beschwerden, ein sekundärer Krankheitsgewinn sowie die psychoneuroimmunologische Reaktion auf emotionale Belastungen eine wichtige Rolle. Auch rehabilitativ orientierte Maßnahmen, die auf die Steigerung der Funktionalität abzielen, wie eine stufenweise Steigerung der körperlichen Aktivität bei Vermeidung einer Überforderung (Pacing), neurokognitives Training sowie Ergotherapie sind wichtig, um einen zum Symptomkomplex beitragenden Trainingsmangel auszugleichen und Funktionalität aufzubauen. Daneben ist auch die oft langwierige und mit Widerständen verbundene Behandlung der Alexithymie zentral. Alexithyme Patient*innen haben große Schwierigkeiten damit, eigene Affekte zu erkennen, zu differenzieren und auf einer innerpsychischen Ebene zu regulieren, was auch oft zu sozialen Problemen und Beziehungsstörungen führt. Eben dadurch, dass das Konzept differenzierter Affekte so wenig ausgereift ist, ist eine Vorstellung über einen Zusammenhang zu den körperlichen Beschwerden kaum denkbar und noch weniger fühlbar und kann nur in einem längeren Prozess stückweise erarbeitet werden.

5 Fazit

Patient*innen mit Long/Post-COVID-Syndrom haben vielfältige Symptome, für die es meist keinen objektiven Nachweis gibt und die sich durch eine multifaktorielle und individuell unterschiedliche biopsychosoziale Pathogenese auszeichnen. Letztendlich ist es durchaus möglich, dass die Forschung noch zur Entdeckung spezifischer Pathomechanismen für die eine oder andere Subgruppe führt, die perspektivisch auch zur Entwicklung von weiteren Therapiemöglichkeiten führen könnte. In der aktuellen, höchst diversen Gruppe von Patient*innen, bei der Charakteristika einer „Somatic Symptom Disorder“ vorherrschen, sollte das biopsychosoziale Modell die Basis einer interdisziplinären Therapie sein.