Fünfzehn Jahre ist es her, seit es in der Zeitschrift für Psychodrama und Soziometrie ein Themenheft zu Soziodrama gab (vgl. Gellert und Ameln 2009) und selbst da spielte das Soziodrama nicht die alleinige Hauptrolle, der Schwerpunkt lag auf Großgruppenarbeit. Vor nunmehr fast zwanzig Jahren legte Thomas Wittinger (2005) mit seinem „Handbuch Soziodrama“ erstmalig einen deutschsprachigen Überblick über die Theorie und Praxis des Soziodramas vor. Ein eigenständiges Themenheft zu Soziodrama gab es bei der ZPS allerdings noch nie. Wir fanden, dass es an der Zeit war.

An der Zeit, weil Soziodrama vor dem Hintergrund kollektiver Polykrisen selten so passend und hilfreich schien. An der Zeit war es aber auch, weil Soziodrama in jüngster Vergangenheit von immer mehr Praktiker*innen (wieder-)entdeckt und in den verschiedensten Feldern zum Einsatz gebracht wird. Dies spiegelt sich auch in dieser Zeitschrift in der zunehmenden Anzahl von Artikeln zu Soziodrama wider (vgl. Adderley 2021; von Ameln 2023; Buckel 2021; Heppekausen und Solovieva 2022; Ius 2020; Kunz Mehlstaub 2022; Psalti und Pichlhöfer 2022; Reineck 2023; Veiga und Coutinho 2022 und Walters 2023). Es werden sogar wieder Bücher zum Themenfeld Soziodrama geschrieben (vgl. beispielsweise Buckel et al. 2021; Damjanov und Westberg 2023 und Galgóczi et al. 2021). Einen Überblick zu bisherigen Artikeln mit Soziodrama-Bezug in der Zeitschrift für Psychodrama und Soziometrie finden Sie außerdem auf der Zeitschriftenhomepage (springer.com/11620) unter dem Menüpunkt „Collections and Calls for Papers“ und unter www.psychodramazeitschrift.com. Collections zu weiteren Themen werden wir dort auch zukünftig nach und nach ergänzen.

Im Thementeil dieses Heftes soll nun ein Einblick zur aktuellen Praxis und Theorie des Soziodramas gegeben werden, schwerpunktmäßig zu der im deutschsprachigen Raum. Zu den vielfältigen internationalen Varianten des Soziodramas sei neben Galgóczi et al. (2021) nach wie vor auf Wiener, Adderly und Kirk (2011) verwiesen sowie auf die mittlerweile in der Regel alle zwei Jahre stattfindenden internationalen Soziodrama-Konferenzen, die nächste im Juni 2024 in BudapestFootnote 1.

Viel mehr noch als das Psychodrama definiert sich das Soziodrama über seine Praxis. Viel weniger wurde von Moreno an Struktur und Theorie vorgegeben, viel weniger gemeinsame Standards wurden entwickelt. Dies ist Fluch und Segen zugleich. Für die Soziodramaleitung ergeben sich dadurch viele Freiheiten, einen persönlichen Stil zu entwickeln, die Methode an das Format und die Fragestellung anzupassen und experimentell das konkrete Vorgehen immer weiter zu verfeinern. Gleichzeitig kann genau diese Freiheit zu Überforderung in der Leitung (und bei den Teilnehmer*innen) führen. Bei dem*der Leiter*in liegt damit sehr viel Verantwortung und es kommt sehr darauf an, auf der Grundlage welcher Haltung und welcher Werte er*sie Soziodrama praktiziert.

Unsere Autor*innen finden für dieses Spannungsfeld in der Leitung ganz unterschiedliche Antworten. Sie greifen auf ganz unterschiedliche Erfahrungshintergründe zurück und nutzen und sehen Soziodrama dadurch ganz unterschiedlich. Viele von ihnen sind auch Psychodramatiker*innen, einige sind es nicht. Schon allein dadurch verändert sich die Perspektive, ob man das Soziodrama durch die Brille des Psychodramas betrachtet oder eben nicht. Die Autor*innen kommen aus verschiedenen Professionen, wie dem Schauspiel, der Psychologie, (Sozial‑)Pädagogik, Theologie, Linguistik, Soziologie oder den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften. Sie bringen Soziodrama in den verschiedensten Feldern zum Einsatz, wie der Organisationsentwicklung, Selbsterfahrung, Mediation, politischen Arbeit oder Weiterbildung.

Beim Lesen der Artikel des Thementeils bekommen wir einen Eindruck von der methodischen Vielfalt des Soziodramas: Wie werden Szenarien kreiert? Welche Fragestellungen werden untersucht? Welche Rollen betreten die Bühne? Wie werden soziodramatische Sessions strukturiert? Welche Techniken werden verwendet? Mit welchen anderen Methoden bieten sich Kombinationen an?

Der rote Faden über die Artikel hinweg scheint dabei ein gemeinsames Anliegen der Autor*innen zu sein: den Menschen zu helfen, ihre (soziale, kulturelle, politische) Umwelt besser zu verstehen, die immer wieder auftretende Ohnmacht zu überwinden und eine glaubwürdige Hoffnung zu entwickeln.

Sehr differenziert denken die Autor*innen darüber nach, wie ihre soziodramatische Praxis strukturiert werden kann, wo die Stärken und Grenzen der Methode liegen und welche Theorien bei der Einordnung helfen. Doch was ist nun das Soziodrama aus der Sicht unserer Autor*innen und wofür wenden sie es an?

Valerie Monti Holland zitiert unter anderem eine Definition von Rollo Browne (2011, S. 12): „Sociodrama is a learning method that creates deep understanding of the social systems and forces that shape us individually and collectively“. In ihrem englischsprachigen Artikel zeichnet sie die Entwicklungen des Soziodramas seit Moreno nach, mit einem Schwerpunkt auf einem aktuellen europäischen Projekt, bei dem gemeinsame Standards in Soziodrama gesucht und dabei „nebenbei“ auch interessante Unterschiede gefunden wurden. An den unterschiedlichen methodischen Auffassungen werden auch die fließenden Übergänge zum Psychodrama sichtbar, sei es im „protagonist*innenzentrierten Soziodrama“ oder im „Soziopsychodrama“.

Uwe Reineck fasst die gängigen Definitionen des Soziodramas so zusammen, dass das Soziodrama verschiedene Erkundungsfunktionen hat: soziometrische, themenzentrierte und systemische. Neben einer eingehenden Analyse dieser Funktionen formuliert Reineck außerdem Faktoren, die das Soziodrama so wirkungsvoll machen: verfremdendes Externalisieren, Begegnungsdenken, kollektives Embodiment und Evidenz durch Polarisierung.

Jutta Heppekausen stellt fest, dass mit „unterschiedlichen methodischen Ansätzen […] handlungsorientierte Soziodramen als Teil psychodramatischer Theorie und Praxis in aller Welt danach [fragen], wie das WIR, d. h. das soziale, ökonomische, politische, historische System funktioniert“. Unter Zuhilfenahme verschiedener theoretischer Ansätze konstruiert und reflektiert Heppekausen in ihrem Artikel Ansätze, wie auf der soziodramatischen Bühne „hoffnungsvolle Utopien in Zeiten multipler Krisen“ generiert werden können.

Katharina Novy beschreibt den Rahmen soziodramatischen Handelns so, dass „nicht das Individuum und die Psyche im Handeln ergründet und verändert werden sollen, sondern vorrangig gesellschaftliche (und politische) Fragen aufs Tapet kommen; wenn die soziodramatische Rollenebene im Zentrum steht, wenn auf Systeme und Strukturen fokussiert wird; wenn also vorrangig mit soziologischem Blick auf das Geschehen in der Welt und auf der Bühne geblickt wird“. Auch Novy skizziert, welchen Beitrag Soziodrama im Angesicht „der Klima- und anderer Krisen“ leisten kann, insbesondere vor dem Hintergrund des vielfach auftretenden Ohnmachtsgefühls.

Frank Sielecki, Lara Vincent, Siegfried Schütt und Therese Wunram-Falk finden, dass „Soziodrama […] als solches immer politisch-gesellschaftlich ist“. Vor diesem Hintergrund legen sie in ihrem Artikel auch den Schwerpunkt auf das politische Soziodrama und reflektieren, welche Erfahrungen sie damit im Online-Format gemacht haben.

Ariane Mummert bezieht sich bei ihrem Verständnis von Soziodrama auf Moreno und interpretiert die Zielsetzung von Soziodramen so, dass „die Beteiligten aus dem Spiel selbstbestimmt lernen, wie sie ihren konfliktträchtigen Umgang wandeln können“. In ihrem Artikel stellt Mummert das Verfahren der Mediation dem Soziodrama gegenüber und stellt viele Gemeinsamkeiten, Kombinationsmöglichkeiten, aber auch Unterschiede fest.

Christoph Buckel, Michael Picker, Michael Fuchs und Jessica Färber zitieren Reineck (2023, S. 106), der über Soziodrama schreibt: „Soziodrama weitet den Blick und wird als systemische Simulation den beschriebenen gesellschaftspolitischen Anforderungen besser gerecht als die psychologische Perspektive“. Die Autor*innen nutzen Soziodrama, um in der mikropolitischen Komplexität eines Großkonzerns als Change-Berater*innen wirksame Arbeit tun zu können und berichten in ihrem Artikel von ihren Erfahrungen.

Jörg Jelden bezieht sich bei seiner Einleitung zu Soziodrama auf Ron Wiener: „Sociodrama is … an action method to help groups better understand their situation and – where appropriate – to change it. As a sociodramatist you guide the group through this process using action methods“ (Ron Wiener, zitiert nach Jelden 2018). In seinem englischsprachigen Artikel werden Soziodrama und Social Presencing Theatre gegenübergestellt. Neben Gemeinsamkeiten und Unterschieden beschreibt Jelden auch verschiedene Kombinationsmöglichkeiten.

Thomas Wittinger schreibt, dass „grundsätzlich […] alle soziodramatischen Inszenierungen von dem Motiv geleitet [werden], verschiedene Formen von Leid und Unheil überwinden zu wollen“. In seinem Artikel betrachtet er das Bibliodrama aus verschiedenen Blickwinkeln und ordnet dieses als Axiodrama und Variante des soziokulturellen Soziodramas ein.

In ihrem Toolbox-Beitrag beschreibt Ulrike Altendorfer-Kling die Imaginative Videokonferenztechnik, welche sie auch schon in ihrem Beitrag im ZPS-Sonderband zu Trauma vorstellte. Ausgehend von einem Fallbeispiel erfahren wir mehr über Einsatzmöglichkeiten, Ausgestaltung und Potenziale dieser Technik, bei der mit Klient*innen über die Imagination einer Videokonferenz gearbeitet wird.

Der offene Teil dieses Heftes wird eingeleitet von dem Beitrag von Carmen Zahn. In ihrem theoretischen Artikel legt sie dar, wie der kognitionswissenschaftliche 4E-Kognitionsansatz als Erklärungsmodell für die Erforschung und Implementierung psychodramatischer Methoden in die Hochschullehre herangezogen werden kann.

Christian Stadler und Daniela Dähler-Kämmermann beschreiben in ihrem Artikel, wie psychodramatische Techniken und Arrangements zur Diagnostik und Beschreibung des Strukturniveaus von Patient*innen entsprechend der Kategorien der Operationalisierten Psychodynamischen Diagnostik genutzt werden können. Sie zeigen außerdem auf, wie psychodramatische Interventionen je nach Fragestellung und Strukturniveau ausgewählt werden können.

Es folgt der Beitrag von Jakob Kriz, in welchem die Einsatzmöglichkeiten psychodramatischer Interventionen innerhalb der Gruppentherapie im teilstationären psychiatrischen Setting beleuchtet werden. Dabei stellt er anhand von Fallbeispielen drei von ihm erprobte Arrangements dar und beschreibt deren Voraussetzungen und Rahmenbedingungen.

Benjamin Lechner stellt in seinem Artikel einige zentrale Ergebnisse seiner Masterarbeit dar, in welcher er sich im Rahmen einer qualitativen Forschungsstudie mit dem Beziehungsaufbau in der forensischen Psychotherapie mit männlichen jugendlichen und jungen erwachsenen Straftätern beschäftigt hat.

Für den folgenden Beitrag hat Bernd Laudenberg eine psychodramatische Fallvignette aus einem Protagonist*innenspiel an verschiedene erfahrene Psychodramatiker*innen geschickt und deren Antworten hinsichtlich Hypothesen und weiterführender Interventionen nach verschiedenen Aspekten und Themen geordnet und aufbereitet.

Den Abschluss des offenen Teils bildet das per E‑Mail geführte Gespräch zwischen der Schriftstellerin Margit Schreiner und Helmut Kronberger. Die beiden setzen sich darin mit autobiografischem Schreiben bzw. lebensgeschichtlichem Erzählen sowie Parallelen zum Psychodrama auseinander.

Im Forum finden Sie Nachrufe auf Manfred Drücke und Joachim Gneist. Im Vernetzungsbeitrag schreibt Hilde Gött über den Berliner Psychodrama Salon. Es folgen wie gewohnt Rezensionen, Ankündigungen neuer Bücher, Abstracts zu Psychodrama-relevanter Literatur, Veranstaltungshinweise für die kommenden Monate sowie das aktuelle Verzeichnis der bisher erschienenen und kommenden Bände der ZPS.

Viel Freude bei der Lektüre wünschen im Namen der gesamten Redaktion

Christoph Buckel und Katja Kolmorgen