1 Eine kurze begriffszentrierte Themenannäherung

Das allgemeinste Merkmal eines Phänomens ist seine Differenz (Gegensatz) zur Umwelt. Über diese wird das Phänomen wahrnehmbar und erlangt Existenz. Gleichzeitig resultieren viele Prozesse aus der Interaktion von Gegensätzen. Die menschliche Physiologie liefert hierzu plausible Beispiele: die Atmung besteht aus einem Wechselspiel von Ein- und Ausatmung, oder das autonome Nervensystem funktioniert über das kontinuierliche Zusammenspiel des sympathischen und parasympathischen Nervensystems.

Interagieren Gegensätze, so wird ihr Verhältnis als antagonistisch bezeichnet. Im Unterschied dazu kann die Begegnung von Gegensätzen auch dialektisch verstanden werden. Aus einer dialektischen Betrachtungsweise resultiert, dass die Begegnung von Gegensätzen Neues mit höherer Ordnung schafft. Die Psychodramatikerin Verhofstadt-Deneve kreierte darauf aufbauend ein phänomenologisch-dialektisches Persönlichkeitsmodell für die psychodramatische Arbeit mit Menschen in konflikthaften Beziehungen (Verhofstadt-Deneve et al. 2022). Ebenso findet sich die Wahl von Gegensätzen in der soziometrischen Arbeit wieder, z. B. zur Exploration der Tiefenstruktur einer Gruppe (Carlson-Sabelli et al. 1992).

Gegensätze imponieren gewöhnlich durch ihre Unvereinbarkeit (Dualismus) oder werden entschärft, indem sie zu einem Ganzen verbunden werden (Komplementarität). Gegensätze, die sich begegnen, ohne zu einem Ganzen verbunden werden zu müssen, werden als polar bezeichnet.

2 Systemtheoretische Überlegungen zu psychotherapeutischen Veränderungsprozessen

2.1 Temporäre Selbstorganisation offener Systeme

Ilya Prigogine erhielt 1977 für seine Arbeit zur Selbstorganisation offener Systeme (Systeme, die sich im ständigen Austausch mit ihrer Umwelt befinden) den Nobelpreis für Chemie. Darin beschrieb er das folgende Prinzip: durch Austauschprozesse mit der Umwelt entwickeln offene Systeme laufend, unmittelbar und zeitlich beschränkt Strukturen. Prigogine nannte diese Strukturen „dissipative Strukturen“ (Böcher 1996). Der Nobelpreis für diese Entdeckung war verdient, da sich dieses Strukturbildungsprinzip nicht nur in offenen chemischen, sondern auch in offenen physikalischen und biologischen Systemen finden lässt.

Das folgende Beispiel aus der Meteorologie verdeutlicht dieses Prinzip auf einfache Weise. Die Erdoberfläche ist im ständigen Energieaustausch mit der Sonne und damit ein offenes System. Dieser Austausch wechselwirkt mit dem vorherrschenden lokalen Klima, welches aus der lokalen Temperatur, Luftfeuchtigkeit und den Druckverhältnissen etc. resultiert, woraus sich unmittelbar, selbstorganisiert und temporär eine spezifische Wetterlage entwickelt (z. B. Wolken, Niederschlag oder auch Wirbelstürme). Das vorherrschende lokale Wetter entspricht damit einer dissipativen Struktur.

Zentral für diesen Strukturbildungsprozess ist es, dass Austauschprozesse die vorherrschende Systemstruktur zuerst schwächen (im Psychodrama würde man dies als Erwärmung bezeichnen), um dann bei Fortsetzung des Prozesses und nach Überschreitung eines gewissen Strukturschwächegrades kurzfristig (spontan) eine neue Systemstruktur zu bilden. Wiederum ein Beispiel aus dem Alltag dazu: Wasser nimmt bei Zu- oder Abführung von Energie (= Austauschprozess mit der Umwelt) sprunghaft drei Strukturen an: fest, flüssig oder gasförmig.

Auch Michael Schacht legt seinem Modell für Veränderungsprozesse dissipative Strukturbildungsprozesse zugrunde (Schacht 2009, S. 66):

„Selbstorganisierende Systeme – insbesondere hochkomplexe Systeme wie Menschen und deren Sozialgefüge – befinden sich kontinuierlich im Austausch mit ihrer Umwelt. Dieser verläuft nicht gleichförmig, sondern wird durch ständige Schwankungen, sogenannte Fluktuationen, geprägt. Üblicherweise werden diese durch das System gedämpft. Dessen Struktur wird dadurch aufrechterhalten. Erreichen die Fluktuationen im erhöhten Austausch mit der Umwelt jedoch einen gewissen Schwellenwert, so kommt es zu positiven Rückkopplungsschleifen und einem raschen Anstieg der Fluktuationen. Im Zuge einer Instabilitätsphase organisieren sich neue, ggf. komplexere Prozessstrukturen, die einen umfassenderen Austausch von System und Umwelt ermöglichen. Die neuen Abläufe wiederholen sich zunächst mit erheblichen Variationen, bis sich eine dieser Variationen durch selbstverstärkende Rückkopplungsprozesse allmählich durchsetzt.“

Aktuelle Forschung konnte zeigen, dass abrupte Strukturbildungsprozesse auch in Psychotherapien vorkommen (Schiepek und Strunk 2010; Olthof et al. 2020a) und über sprunghafte Symptomveränderungen von außen wahrnehmbar werden (Aderka und Shalom 2021). Spontan auftretende Symptomverbesserungen werden heute in der klinischen Psychologie als „sudden gain“ bezeichnet (Tang und DeRubeis 1999).

Forschung konnte zeigen, dass „sudden gains“ in 17–50 % aller kognitiven Verhaltenstherapien mit Menschen mit affektiven Störungen oder Angststörungen auftreten (Olthof et al. 2020b) und einen signifikanten Prädiktor für den Therapieerfolg darstellen (Shalom und Aderka 2020). Weiters zeigte Forschung, dass „sudden gains“ nicht zufällig auftreten, sondern über das Ausmaß der Symptomvarianz unmittelbar vor der sprunghaften Symptomveränderung und nach Überschreitung eines gewissen Strukturschwächegrades, vorhersehbar sind (Shalom et al. 2018). Es soll hier nicht unerwähnt bleiben, dass auch „sudden losses“, d. h. plötzliche Verschlechterungen in der Symptomatik, in psychotherapeutischen Prozessen auftreten können und zuletzt vermehrt beforscht wurden (Lutz et al. 2013; Odyniec et al. 2019).

Wieder zurück zu spontanen Strukturbildungsprozessen bzw. dem obigen Beispiel: Wasser kann nur eine von drei Strukturen in Austauschprozessen mit der Umwelt annehmen. Gewöhnlich nehmen physikalische, chemische, biologische oder auch soziale Systeme sprunghaft mehr als drei Strukturen im Austausch mit ihrer Umwelt an. Welche Struktur sich dabei selbstständig (d. h. selbstorganisiert) entwickelt, hängt nach der Theorie von Prigogine maßgeblich von zufälligen Umgebungseinwirkungen unmittelbar vor dem Erreichen der maximalen Schwächung der vorherrschenden Systemstruktur ab. An dieser Stelle klingt an, dass (i) das System (z. B. der Mensch) bei entsprechendem Anstoß von außen (z. B. durch die Therapeutin*den Therapeuten oder eine gravierende Änderung in der Beziehung zu nahen Personen) selbstständig Strukturen aufbaut und dass (ii) der Zufall mitbestimmt, welche neue Systemstruktur gebildet wird. Aber findet sich dies auch in psychotherapeutischen Veränderungsprozessen im soziokulturellen Atom der Klientin*des Klienten und im Klient*in-Therapeut*in-System so wieder?

2.2 Ein alternatives Strukturbildungsprinzip

Hector Sabelli, ein argentinischer Psychiater, beschrieb ein neuartiges, nicht-dissipatives Strukturbildungsprinzip, das ebenfalls aus einem spezifischen Austauschprozess mit der Umwelt resultiert (Sabelli 2005). Er nannte den zugehörigen Strukturbildungsprozess biotischFootnote 1 und beschrieb diesen Prozess in vielen Systemen, z. B. innerhalb der Physik (Sabelli und Kauffman 2013), Biologie (Sabelli 2005), Physiologie (Sabelli und Lawandow 2010), Wirtschaft (Sabelli und Kovacevic 2011), Geografie (Temperatur der Ozeane, Sabelli und Carlson-Sabelli 2006), Meteorologie (Sabelli 2005) und Kosmologie (Verteilung von Galaxien; Sabelli und Kovacevic 2006). Der vorliegende Artikel möchte erstmals aufzeigen, dass psychotherapeutische Veränderungsprozesse als biotische Prozesse verstanden werden können und insbesondere das Psychodrama prädisponiert ist, derartige Prozesse zu ermöglichen.

Sabelli startete seine Überlegungen mit der Annahme, dass unser Universum weder eine große mechanische Uhr ist noch zufällig funktioniert. Im Gegensatz dazu beschrieb er einen Strukturbildungsprozess, der maßgeblich aus einem bipolaren Austauschprozess mit der Umwelt resultiert. Ein bipolarer Austauschprozess mit der Umwelt bestätigt und destabilisiert fortlaufend die bestehende Systemstruktur. Halten sich die bestätigenden und destabilisierenden Rückmeldungen (= bipolares Feedback) in etwa die Waage und gewinnt der bipolare Austauschprozess mit der Umwelt eine bestimmte Stärke, wird dieser Prozess biotisch und es kann sich durch diesen Austausch eine neue Systemstruktur bilden (Sabelli und Carlson-Sabelli 2006).

Bipolare Austauschprozesse können in der szenischen Arbeit durch den Einsatz von Handlungstechniken (z. B. Doppeln, Spiegeln, Rollenwechsel oder Rollentausch) bewusst induziert werden. Zentrales Moment dabei ist, dass die Rollenerwartungen der Protagonistin*des Protagonisten in der szenischen Arbeit teilweise bestätigt werden und teilweise unerfüllt bleiben. Übersteigt dieses Wechselspiel aus Bestätigung und fehlender Erwiderung an Rollenerwartungen für die Protagonistin*den Protagonisten ein gewisses Ausmaß, entsteht über den fortgesetzten Austauschprozess auf der Handlungsebene eine neue Handlungsmöglichkeit. Diese neue Handlungsmöglichkeit kann unmittelbar nach der szenischen Arbeit in der Integrationsphase durch ein Rollenfeedback auf der sprachlich-kognitiven Ebene gefestigt werden.

An dieser Stelle ergibt sich folgende Frage: wer schafft denn diese neue Handlungsmöglichkeit in der Begegnung? Ist es, wie die Theorie dissipativer Systeme behauptet, das System (die*der Protagonist*in) aus sich selbst heraus? Das nächste Kapitel versucht darauf eine Antwort zu geben.

2.3 Neue Handlungsmöglichkeiten resultieren aus einem fortlaufenden Abstimmungsprozess der Interaktionspartnerinnen

Daniel Stern und Kolleg*innen haben mit mikroanalytischen Verfahren die Interaktion von Säuglingen mit ihren Bezugspersonen minutiös beobachtet und festgestellt, dass in diesen Interaktionen fortlaufend wechselseitige Abstimmungsprozesse stattfinden (Lyons-Ruth et al. 1999).

Der Säugling versucht grundsätzlich seine Bedürfnisse (z. B. nach Nahrungsaufnahme oder Schlaf) und seine Affektlage über Interaktionen mit einer Bezugsperson zu regulieren. Der Säugling vermittelt dabei seine Bedürfnisse und Affektlagen über Gesten (z. B. spezifische Bewegungen, Mimik oder Körperhaltungen) und Laute. Die Bezugsperson versucht wiederum aus der einfühlenden Beobachtung das Bedürfnis und die Affektlage des Säuglings zu erschließen. Aus dieser Abschätzung und dem eigenen Handlungsimpuls der Bezugsperson ergibt sich eine Antwort (Reaktion) auf den Säugling. Der Säugling und die Bezugsperson produzieren damit in ihrer Interaktion nicht nur ihre eigenen Gesten/Handlungen, sondern beeinflussen gleichzeitig zentral die Ausgestaltung der Gesten/Handlungen des Anderen. Die Rollentheorie im Psychodrama beschreibt dies sehr ähnlich: wechselseitige Rollenerwartungen als role giver und role receiver steuern und beeinflussen die Interaktion (Kern 2022, S. 339).

Stern stellte weiters fest, dass der Säugling in Austauschprozessen mit Bezugspersonen von Anfang an implizites Beziehungswissen nützt, d. h., der Säugling weiß „[…] wie man zusammen mit anderen Menschen etwas tut oder wie man mit ihnen zusammen ist“ (Bruschweiler-Stern et al. 2004, S. 939). Der Begriff der Rollenkonserve im Psychodrama ist diesem Konzept nahe. Nach Stern benutzt nicht nur der Säugling, sondern bereits der Fötus implizites Beziehungswissen, um aktiv Interaktionsprozesse mit der Mutter zu gestalten. Diese Idee hat jüngst mit der Einführung der (uteral-)somatopsychischen Rollenebene auch Eingang ins Psychodrama gefunden (Biegler-Vitek 2018, S. 80).

Säugling-Bezugsperson-Interaktionen dienen nach Stern damit nicht nur ausschließlich der Bedürfnisbefriedigung und Affektregulation des Säuglings, sondern sind gleichzeitig Abstimmungsprozesse mit teilweise unbestimmtem Ausgang. Diese Abstimmungsprozesse bauen auf dem Beziehungswissen jeder Interaktionspartnerin*jedes Interaktionspartners auf und werden von den unmittelbaren Reaktionen der Interaktionspartnerinnen zentral mitbestimmt. Bedürfnisbefriedigung und gemeinsame Abstimmung sind auf diese Weise zwei zentrale Bestandteile jeder Begegnung. Nicht nur das. Aus dem Wechselspiel bestätigender und enttäuschter Rollenerwartung im fortlaufenden Abstimmungsprozess kann Neues innerhalb der Begegnung entstehen. Neues generiert sich damit nicht innerhalb einer Person, sondern im und durch einen fortlaufenden Abstimmungsprozess (Nahum 2022).

3 Spontaneität, Kreativität und Veränderungsprozesse in der Psychodrama-Psychotherapie

Für Moreno sind Spontaneität und Kreativität Urkräfte, über die Heilung passiert und zu denen der Mensch über das Psychodrama wieder Zugang finden kann. Für Moreno startet ein gelungener Veränderungsprozess in der Psychotherapie mit einer Erwärmungsphase, die in eine Spontaneitätslage mündet, welche wiederum einen kreativen Prozess anstößt und neue Rollenkonserven entwickeln lässt (Moreno 1953, S. 46). Michael Schacht übernahm dieses Konzept und beschrieb dazu ein handlungsbasiertes Problemlöse-Modell („kreativer Zirkel“), in welchem eine prä-dezisionale Erwärmungsphase, von einer anschließenden prä-aktionalen Spontaneitätslage und einer nachfolgenden aktionalen kreativen Phase unterschieden wird (Schacht 2009, S. 196 ff.).

Startpunkt jedes kreativen Zirkels ist nach Schacht ein inneres oder äußeres Handlungsproblem, welches aus der Anwendung unzureichender Handlungsroutinen entsteht. In der anschließenden Erwärmungsphase muss nun die*der Therapeut*in mit der Klientin*dem Klienten (i) ein nachvollziehbares und ausreichend komplexes Narrativ für das Handlungsproblem und (ii) Handlungsalternativen für das Handlungsproblem erarbeiten. Die Erwärmungsphase schließt mit einer Veränderung der Volitionsstärke für die bisherige (unzureichende) Handlungsroutine und die erarbeiteten neuen Handlungsalternativen ab. Mit der (bewussten oder unbewussten) Wahl für eine Handlungsalternative bzw. zu explorierende Szene erreicht die*der Klient*in schließlich eine Spontaneitätslage. Diese ist Voraussetzung für den Start einer kreativen Phase, in welcher zuerst eine Umsetzung der gewählten Handlungsalternative im geschützten therapeutischen Raum erarbeitet wird. Diese wird anschließend im Alltag erprobt. Besteht sie diese Probe, d. h. die Handlungsalternative löst das Handlungsproblem, kann sie als neue Handlungsroutine ins Rollenrepertoire aufgenommen werden. Besteht sie die Realitätsprobe nicht, bleibt das Handlungsproblem bestehen. Dies kann zum Beginn eines nächsten kreativen Zirkels führen.

Das Modell des kreativen Zirkels hat breite Zustimmung in der Psychodrama-Gemeinschaft erfahren und wird in vielen Publikationen zitiert. Nichtsdestotrotz erscheint das Modell in den folgenden Aspekten angreifbar: (i) es vermittelt eine Ordnung in therapeutischen Veränderungsprozessen, die sich so in der Realität selten finden lässt; (ii) die Arbeitsschritte innerhalb der Erwärmungsphase (Erarbeitung von Handlungsalternativen und bewusste Veränderung der Volitionsstärke) erinnern an die Arbeitsschritte einer manualisierten Verhaltenstherapie und (iii) die Trennung in prä-dezisionale, prä-aktionale und aktionale Phase verwirrt, da bereits das Erarbeiten von Handlungsalternativen in der Erwärmungsphase als spontaner und kreativer Akt verstanden werden könnte.

Im folgenden Kapitel soll dem handlungsorientierten Modell von Schacht ein begegnungsorientiertes Modell (Begegnung von Gegensätzen) gegenübergestellt werden.

4 Die Begegnung von Gegensätzen als elementarer Baustein psychotherapeutischer Veränderungsprozesse

Die folgenden siebzehn Thesen sollen prägnant das Konzept der Begegnung von Gegensätzen für die szenische Arbeit von Psychodramatiker*innen zusammenfassen.

These 1

Alles Leben resultiert aus Austauschprozessen (Begegnung) mit der Umwelt und/oder sich selbst.

These 2

Austauschprozesse zielen auf Bedürfniserfüllung und Affektregulierung und sind gleichzeitig auch Abstimmungsprozesse.

These 3

Innere und äußere Handlungsprobleme der Klientin*des Klienten sind Ausgangspunkt jeder Psychotherapie. Sie gehen mit reduzierten Austauschprozessen mit der Umwelt und/oder sich selbst einher.

These 4

Handlungsprobleme beinhalten das Erleben innerer und/oder äußerer Gegensätze.

These 5

Die Gegensätze im Handlungsproblem erscheinen zu Beginn entweder unvereinbar oder werden nicht in Beziehung zueinander gesehen.

These 6

Die szenische Arbeit im Psychodrama ermöglicht eine Annäherung und Begegnung von Gegensätzen auf einer sicheren Bühne. Die als-ob Realität der Bühne erweitert maßgeblich das Handlungsspektrum der Klientin*des Klienten.

These 7

Eine Szene kann mehr als eine Rolle beinhalten, die im unterschiedlich starken Widerspruch zu den Rollenerwartungen der Klientin*des Klienten steht.

These 8

Gegensätze resultieren im Fortlauf der Therapie aus dem ursprünglichen Handlungsproblem der Klientin*des Klienten oder zeigen sich innerhalb der Beziehung zwischen der Klientin*dem Klienten und der Therapeutin*dem Therapeuten.

These 9

Dass sich Gegensätze begegnen können, erfordert vorab eine stabile Beziehung zwischen der Klientin*dem Klienten und der Therapeutin*dem Therapeuten.

These 10

Die*der Therapeut*in lädt die Klientin*den Klienten zur Begegnung der Gegensätze ein. Die*der Klient*in folgt entweder der Einladung im Vertrauen oder lehnt diese Einladung ab.

These 11

Je nach Bereitschaft der Klientin*des Klienten besteht die Begegnung der Gegensätze (d. h. die Begegnung mit dem Handlungsproblem oder die Beziehungsklärung zwischen der Klientin*dem Klienten und der Therapeutin*dem Therapeuten) aus drei Schritten: (i) eine konkrete Szene finden und aufstellen (ohne dass die*der Klient*in bereits in der Szene agiert), (ii) die*der Klient*in exploriert in ihrer*seiner Rolle die Szene, d. h. sie*er nimmt Kontakt zu allen Interaktionspartner*innen/Rollen auf; es wird dabei für die Therapeutin*den Therapeuten ersichtlich bzw. spürbar, zu welchen Interaktionspartner*innen der Austauschprozess stockt und (iii) die*der Therapeut*in setzt gezielt psychodramatische Handlungstechniken ein, um den ins Stocken geratenen Austauschprozess, die Begegnung von Gegensätzen, fortzusetzen.

These 12

Die Fortsetzung der ins Stocken geratenen Interaktion erzeugt Neues, wenn (i) die Gegensätzlichkeit innerhalb der Interaktion ausreichend stark ist (und damit die innerpsychische Struktur der Klientin*des Klienten oder ihr*sein ursprüngliches Begegnungsmuster ausreichend erschüttert wird), (ii) in der Begegnung keine Rolle zu stark wird (siehe Abschn. 2.2: bipolares Feedback) und (iii) die Fortsetzung ausreichend lange andauert, um in einem wechselseitigem Abstimmungsprozess neue Handlungsmöglichkeiten entstehen zu lassen. Das Neue entsteht damit nicht durch Zufall, sondern durch einen fortgesetzten Abstimmungs- und Austauschprozess (siehe Abschn. 2.3).

These 13

Der fortgesetzte Austauschprozess kann darin münden, dass der Klientin*dem Klienten eine assoziierte, neue Szene bewusst wird. Diese beinhaltet zumeist stärkere Gegensätze als die ursprüngliche Szene. Auch diese stärkeren Gegensätze warten auf ihre Begegnung (falls die*der Klient*in hierzu bereit ist und der Einladung der Therapeutin*des Therapeuten folgt).

These 14

Die neuen Handlungsmöglichkeiten bergen das Potenzial für die Klientin*den Klienten, zu neuen Rollen im Alltag zu werden.

These 15

Ein erweitertes Rollenrepertoire geht mit erweiterten Austauschprozessen mit der Umwelt und/oder sich selbst einher. Daraus resultieren mehr Lebendigkeit und Begegnungsmöglichkeiten (siehe These 1).

These 16

Im Fortlauf einer gelingenden Psychodrama-Therapie begegnen sich mit dem gewonnenen Vertrauen in eine konstruktive Begegnung von Gegensätzen schrittweise stärker werdende Gegensätze in der szenischen Arbeit der Klientin*des Klienten.

These 17

Das Psychodrama wird damit zu einem Handlungsritual, über welches sich Gegensätze begegnen können und über welches über Begegnung neue Handlungsmöglichkeiten geschaffen werden. Es ist damit nicht nur der Konflikt, der aus der Begegnung von Gegensätzen resultiert, sondern auch das Potenzial der gemeinsamen Schaffung von Neuem.

4.1 „Abstrakte Konkretisierung“ der Idee der Begegnung von Gegensätzen im Rahmen eines begegnungsbasierten psychotherapeutischen Veränderungsmodells

In Analogie zum handlungsbasierten Modell von Schacht (kreativer Zirkel) soll hier ein siebenschrittiges begegnungsbasiertes Modell von psychotherapeutisch-begleiteten Veränderungsprozessen skizziert werden.

Eine sichere Bindung zur Therapeutin*zum Therapeuten, Veränderungsbereitschaft der Klientin*des Klienten und das Vorliegen eines Handlungsproblems sind zentrale Voraussetzungen für die szenische Arbeit („Start“ in Abb. 1). Für das Handlungsproblem muss im ersten Arbeitsschritt eine Szene gefunden werden.

Abb. 1
figure 1

Ein auf Begegnung von Gegensätzen basierendes psychotherapeutisches Veränderungsmodell (graue Sterne symbolisieren Aspekte des Modells, die zentral aus der Begegnung von Gegensätzen hervorgehen)

Eine Szene liegt entweder bereits von der Klientin*dem Klienten erzählbar vor oder wird in der therapeutischen Arbeit in Gruppen durch die Themen der Gruppenmitglieder oder über ein gruppenbasiertes Stegreifspiel für die Klientin*den Klienten erinnerbar („1“ in Abb. 1). Andererseits kann eine Szene auch über Symbolarbeit (z. B. Körperarbeit) gefunden werden. Da sich auf der Beziehungsbühne mit der Therapeutin*dem Therapeuten und/oder den anderen Gruppenmitgliedern laufend, mehr oder weniger deutlich, vergangene Interaktionsmuster reinszenieren, bergen auch diese das Potenzial direkt inszeniert zu werden oder eine Szene für die Klientin*den Klienten erinnerbar zu machen. Auch über eine umfassende Diagnostik (z. B. soziokulturelle Atom; Kern 2022, S. 337) zu Beginn der Therapie können gelebte und ungelebte Rollen, das Beziehungsnetzwerk und Beziehungskonflikte der Klientin*des Klienten sichtbar gemacht und daraus gemeinsam mit der Klientin*dem Klienten eine Szene für die nachfolgende Arbeit gefunden werden.

Nachdem die Szene verbalisiert wurde, ist es notwendig, diese zu konkretisieren („2“ in Abb. 1). Kushnir und Orkibi (2021) beschrieben jüngst vier Wirkfaktoren dieses wichtigen Arbeitsschrittes: (i) die Szene ordnet das Handlungsproblem, (ii) die Szene externalisiert das Handlungsproblem und schafft Distanz zwischen der Klientin*dem Klienten und ihrem*seinem Problem, (iii) die Szene bereitet den Begegnungsraum für das szenische Handeln vor, (iv) die Szene macht das Problem für die Therapeutin*den Therapeuten umfassender sichtbar und (v) die*der Therapeut*in kann physisch (Seite an Seite) die Klientin*den Klienten innerhalb der Szene in der Problembearbeitung begleiten. Der vorliegende Artikel soll weiters deutlich machen, dass mit einem Auffinden einer Szene Gegensätze im Handlungsproblem einen Begegnungsraum erhalten können.

Die szenische Arbeit setzt sich mit der Einnahme der eigenen Rolle als Protagonist*in der Szene fort. An dieser Stelle ergibt sich die Frage, in welchem Beziehungsverhältnis sie zu den anderen Rollen/Objekten der Szene steht und ob eventuell noch Rollen unbesetzt sind. Gegensätze in der Szene zeigen sich durch Beziehungsverhältnisse, die die Rollenerwartungen der Klientin*des Klienten herausfordern, nicht erfüllen oder komplementär gegenüberstehen. Beispielsweise lassen sich mithilfe des inneren Monologs die Beziehungsqualitäten zu allen Rollen innerhalb der Szene erforschen („3“ in Abb. 1). Dabei kann sichtbar werden, dass gleich mehrere polare Rollen innerhalb der Szene existieren.

Schließlich lädt die*der Therapeut*in die Klientin*den Klienten ein, mit einer spezifischen polaren Rolle in einen Interaktionsprozess einzutreten („4“ in Abb. 1). Der Gegensatz sollte die etablierten Rollenerwartungen der Klientin*des Klienten herausfordern, sie jedoch nicht überfordern.

Die*der Protagonist*in nimmt nun entweder direkt über den Rollentausch die Perspektive des Gegensatzes ein und erzeugt so ein bipolares Feedback in sich selbst, oder erfährt mit Unterstützung von Hilfs-Ichen innerhalb der Szene (über das Doppeln) oder außerhalb der Szene (über das Spiegeln) ein bipolares Feedback („5“ in Abb. 1). Gerade in der Gruppentherapie können an dieser Stelle auch (Handlungs‑)Impulse der Hilfs-Iche oder des Publikums die Klientin*den Klienten und die Therapeutin*den Therapeuten unterstützen, die Begegnung von Gegensätzen fortlaufen zu lassen. Dahingegen kann in der Einzeltherapie die*der Therapeut*in durch eine kurzfristige Übernahme von Rollen der Klientin*dem Klienten Handlungsimpulse geben.

Mit dem Fortlaufen der Begegnung kann es einerseits vorkommen, dass sich die*der Klient*in an eine weitere, ähnliche, ursprünglichere und möglicherweise stärker polare Szene erinnert (oftmals auch angeleitet durch die Frage der Therapeutin*des Therapeuten: „woran erinnert Sie diese Szene?“). Andererseits kann die*der Klient*in innerhalb der Szene in der Begegnung mit dem Gegensatz neue Handlungsalternativen entwickeln („6“ in Abb. 1).

Mit der erfolgreichen Umsetzung der Handlungsalternative im Lebensalltag der Klientin*des Klienten kann diese zu einer neuen Rolle im Rollenrepertoire werden („7“ in Abb. 1).

Abschließend dazu zwei Anmerkungen.

Im fortlaufenden therapeutischen Prozess werden zumeist Szenen bearbeitet, in denen sich zunehmend größere Gegensätze begegnen. Mit jeder geglückten Begegnung von Gegensätzen gewinnt die*der Klient*in Vertrauen in ihre*seine Begegnungsfähigkeiten und in die Fähigkeit, neue Handlungsalternativen zu entwickeln. Gleichzeitig steigt auch das Vertrauen der Klientin*des Klienten in die Beziehung zur Therapeutin*zum Therapeuten und in ihre*seine therapeutischen Fähigkeiten.

Auch und gerade die Begegnung der Klientin*des Klienten mit der Therapeutin*dem Therapeuten auf der Spielbühne (Pruckner 2012) kann, darf und soll gegensätzlich verlaufen. Die*der Therapeut*in ist hierbei einerseits role receiver, indem sie*er die Klientin*dem Klienten in der szenischen Arbeit empathisch begleitet und ihre*seine Bedürfnisse erkennt und erfüllt und andererseits role giver, indem sie*er gezielt Psychodrama-Handelstechniken einsetzt, um den Austauschprozess in der Szene (die Begegnung der Gegensätze) in Gang zu halten (dies ist besonders dann relevant, wenn ein Gegensatz in der Begegnung zu mächtig wird).

4.2 Ein Anwendungsbeispiel aus der psychotherapeutischen Einzeltherapie

Frau H. arbeitet in leitender Funktion im Pflegebereich. Sie ist alleinerziehende Mutter und fühlt sich zunehmend überfordert, erschöpft und zweifelt, ob sie ihren Beruf weiter ausüben kann. Sie leidet unter Bluthochdruck und Magenbeschwerden und sorgt sich sehr um die Entwicklung ihrer Tochter („START“ in Abb. 1).

Ihre eigene Mutter war und ist eher distanziert, sehr leistungsorientiert und vermittelte ihr ein Frauenbild, das überwiegend aus starken und kämpferischen Rollen bestand. Den Vater, der vor einem Jahr verstorben ist, erinnert sie als liebevoll, zugewandt und unterstützend. Sie betont, dass sie ihn sehr vermisse.

Im Gespräch spürt die Therapeutin, dass der Vater für Frau H. sehr präsent ist und lädt sie zu einem „Gespräch mit dem Vater“ ein (siehe „2“ und „3“ in Abb. 1). Im Dialog erfolgt ein RollentauschFootnote 2, in welchem sie von der Rolle der leistungswilligen, überforderten Managerin in die antagonistische Rolle des liebevoll unterstützenden Vaters tauscht (siehe „5“ in Abb. 1). Die Rolle des Vaters stellt einen Gegenpol zu ihrer derzeit gelebten Rolle dar. Frau H. belebt durch den Rollentausch die Rollenkonserve „unterstützend“ und „liebevoll“, die sie sich selbst gegenüber im Alltag nicht aktualisiert. Zum anderen wird durch die Gegensätzlichkeit der beiden Rollenerfahrungen (bipolares Feedback) Raum für die Entwicklung von Neuem geschaffen.

In den darauffolgenden Stunden beschäftigt sich Frau H. mit den Beziehungen, die ihr guttun (ein neuer Kreislauf hat begonnen; siehe „1“ in Abb. 1). Dies könnte als Weiterentwicklung der ersten Szene („Gespräch mit dem Vater“) gesehen werden. Sie baut dazu eine Szene mit Personen aus ihrem Freundeskreis auf, die sie als wichtig erachtet (siehe „2“ in Abb. 1). In jeder dieser Beziehungskonstellationen nimmt sie jene Körperhaltung ein, in der sie sich gegenüber den Freunden wahrnimmt und wechselt jeweils auch in die Rolle der Freunde (siehe „3“ in Abb. 1). Sie wählt schließlich jene Beziehungskonstellation zur weiteren Exploration aus, in der sie selbst die größte Gegensätzlichkeit erlebt (siehe „4“ in Abb. 1).

In dieser Rolle (gegenüber einem Freund) positioniert sie sich selbst in gebückter Haltung als die Haltende und Stützende. Sie folgt in der Szene einem Impuls und lässt den Freund fallen („Ich will nicht mehr tragen“). Im Rollentausch mit dem fallengelassenen Freund assoziiert sie ihre eigene Geschichte von Missbrauch, Ohnmacht und Demütigung, welche als Szene in einer folgenden Stunde bearbeitet wird (siehe „5“ in Abb. 1).

Erst in der Rolle, die einen Gegenpol zu ihrem bisherigen Handeln bildet („schützend“ und „liebevoll“ in der Szene mit dem Vater und „haltend“ und „stützend“ in der Szene mit dem Freund), erschließt sich für Frau H. die Erfahrung und Rolle aus der Vergangenheit.

Anmerkung: Psychodramatiker*innen intervenieren in solchen Szenen oftmals mit folgender Frage: „Was hätten Sie in dieser Situation als Kind gebraucht?“ (dieser Ansatz findet sich zentral auch in der Pesso-Therapie; Pesso 1999) Frau H. wurde als Kind in ihren Bedürfnissen (z. B. sich vertrauensvoll an jemanden zu wenden und liebevolle Zuwendung zu erfahren) unzureichend wahrgenommen. Der zugehörige Abstimmungsprozess fand nicht statt. Stattdessen entwickelte Frau H. als kreative Antwort die Rolle der starken Frau. Dies ist allerdings eine Rolle, die bei ihrer zunehmend steigenden Belastung zu scheitern droht. Im Rahmen der Therapie ließ sich dieser fehlende Abstimmungsprozess aus der Kindheit gut szenisch umsetzen und damit nachholen. Frau H. konnte dadurch eine Alternative zu ihrer starken und kämpferischen Rolle entwickeln.

4.3 Artikelspezifische Betrachtung einiger psychodramatischer Begriffe

In der Psychodrama-Literatur finden sich Begrifflichkeiten, die im Lichte des vorliegenden Artikels möglicherweise verändert erscheinen.

Antagonistische Rolle

[bisher] Die*der Protagonist*in begegnet in der Szene einer antagonistischen Rolle. [artikelspezifisch] Eine Szene kann mehrere Rollen beinhalten, die im Gegensatz zu den Rollenerwartungen der Klientin*des Klienten stehen.

Partiell komplementäre Beziehungsgestaltung der Therapeutin*des Therapeuten

[bisher] Die*der Therapeut*in erfüllt auf der Begegnungsbühne oftmals einen Großteil der Rollenerwartungen der Klientin*des Klienten, lässt aber auch einen kleineren Teil dieser unbeantwortet (= „bipolares Feedback mit Schlagseite“). [artikelspezifisch] Der vorliegende Artikel knüpft an diesem Beziehungsgestaltungsprinzip an und führt es in die szenische Arbeit als auch in die Beziehungsgestaltung der Therapeutin*des Therapeuten mit der Klientin*dem Klienten auf der Spielbühne ein.

Spontaneität

[bisher] Nach Moreno ist Spontaneität eine angemessene Antwort auf eine neue Situation oder eine neue Antwort auf eine alte Situation. Gleichzeitig versteht Moreno Spontaneität als transpersonale Urkraft. [artikelspezifisch] Im Artikel wurde herausgearbeitet, dass in der Begegnung von Gegensätzen Rollenerwartungen lediglich partiell erfüllt werden. Gerade diese partielle Erfüllung eröffnet die Suche nach neuen Handlungsmöglichkeiten in der Begegnung im Hier und Jetzt.

Kreativität

[bisher] Moreno gibt keine eindeutige Definition von Kreativität (Zeitlinger-Hochreiter 1996, S. 161). Unter Kreativität versteht man heute nicht nur die Fähigkeit, Neues zu schaffen. Das Neue muss sich auch als nützlich erweisen. [artikelspezifisch] Im Artikel wurde herausgearbeitet, dass durch den Abstimmungsprozess in der Begegnung von Gegensätzen gemeinsam Handlungsalternativen im Hier und Jetzt für die Klientin*den Klienten geschaffen werden. Erst mit der Erprobung der Handlungsalternativen im Alltag erweist sich die Nützlichkeit für die Klientin*den Klienten.

4.4 Drei Schlussbemerkungen

Die Begegnung von Gegensätzen birgt das Potenzial, die Klientin*den Klienten für Veränderungsprozesse zu erwärmen.

Der Einsatz spezifischer Psychodrama-Techniken in der szenischen Arbeit kann in der Supervision in Zukunft unter der Perspektive der Begegnung von Gegensätzen und unter dem Aspekt des bipolaren Feedbacks betrachtet werden.

Wir haben den Artikel gegensätzlich zu den klassischen Ideen von Erwärmung, Spontaneität und Kreativität angelegt. Der Artikel soll zu einem inneren Austausch- und Begegnungsprozess mit diesen neuen Ideen einladen.

5 Epilog

Bilder erzählen wortlose Geschichten. Einiges, das in diesem Artikel beschrieben wurde und auch in Abb. 1 abgebildet ist (Schritt 2 bis Schritt 4), findet symbolisch Ausdruck im Bild „Begegnung“ von M. C. Escher (1944) (Abb. 2).

Abb. 2
figure 2

Begegnung von M. C. Escher (© 2023 The M. C. Escher Company – The Netherlands. All rights reserved. www.mcescher.com)

Welchen Bezug stellen Sie zwischen den Ideen dieses Artikels und dem Bild von M. C. Escher her? Lassen Sie sich Zeit dafür. Folgend geben wir darauf unsere Antwort.

Das Bild zeigt einen räumlich-zeitlichen Prozess, der in einem zweidimensionalen Hintergrund beginnt und mit der Begegnung zweier Gestalten im Vordergrund endet. Diese Begegnung im Vordergrund kann als Gegenwart des Bildes begriffen werden.

Bezug zum Artikel: Das Bild zeigt einen Prozess, der mit einer Begegnung von Gegensätzen endet.

Zwei Gestalten lösen sich aus dem zweidimensionalen Hintergrund, weil es eine zusätzliche dritte Ebene gibt. Diese Ebene ist teilweise begehbar. In der Mitte gibt es eine große, kreisrunde Öffnung.

Bezug zum Artikel: Die*der Klient*in und die*der Therapeut*in konstruieren (im Fall der Gruppentherapie mit der Hilfe einzelner Gruppenmitglieder) eine Szene (die dritte Ebene). Diese muss „auf der richtigen Höhe“ angelegt sein (damit die Gestalten den Hintergrund verlassen können und dreidimensional/lebendig werden) – siehe auch Schritt „2“ in Abb. 1.

Der Weg der beiden Gestalten beginnt in die entgegengesetzte Richtung. Damit sehen sie sich nicht und wissen wohl nichts voneinander. Die Körperhaltung der Gestalten gleicht ihren Körperhaltungen im Hintergrund. Sie sind stark gegensätzlich. Die Körperhaltungen der beiden Gestalten haben aber auch etwas Gleichsinniges: eine erhobene linke und eine ausgestreckte rechte Hand.

Bezug zum Artikel: Die Szene enthält zwei gegensätzliche Protagonist*innen. Diese haben aber auch etwas Verbindendes (Gleichsinniges), das sie für die Begegnung in der Zukunft öffnet.

Beide Gestalten bewegen sich entlang der kreisrunden Öffnung. Ein Fehltritt genügt, um den Prozess der Fortbewegung zu beenden. Sie bewahren auf ihrem Weg ihre Körperhaltung weitestgehend bei. Ihr Blick trifft sich nicht, aber ihre räumliche Distanz wird geringer. Eine Begegnung scheint unumgänglich.

Bezug zum Artikel: Der Prozess in Richtung Begegnung beinhaltet die Gefahr, jederzeit abgebrochen zu werden – siehe auch Schritt „3“ in Abb. 1.

Nun findet die Begegnung der Gestalten statt. Im letzten Schritt haben sie ihre rechten Hände eingedreht. Dies ermöglicht Kontakt. Es schließt sich der Bewegungskreis. Sie betrachten sich und sehen ihren Gegensatz. Sie bewahren beim Händeschütteln mit der linken Hand ihre ursprüngliche Geste. Eine Geste, der etwas Warnendes innewohnt.

Bezug zum Artikel: Der Prozess endet mit der Begegnung von Gegensätzen. Ein Moment höchster Spannung, der es erlaubt, gemeinsame neue Handlungsalternativen zu schaffen. Gegensätze können jetzt ihre Wirkkraft in der Begegnung entfalten – siehe auch Schritt „4“ in Abb. 1.

Das Bild beinhaltet noch ein verborgenes Detail: beide Gestalten werfen auf ihrem Weg Schatten, die von einer unsichtbaren Lichtquelle in der Mitte des kreisrunden Loches, leicht oberhalb der beiden Figuren, erzeugt wird. Was bedeutet dieses Licht? Warum ist diese Lichtquelle unsichtbar?