Die Programmatik „Jeder Mensch ist ein Künstler“ von Joseph Beuys, die Beuys in einem Interview mit dem Spiegel (Brügge 1984, o. S.) deklariert, kann mit der Aussage „die Zukunft einer Kultur steht und fällt mit der Kreativität ihrer Träger“ (Moreno 1996, S. 441) von Jakob Levy Moreno in Relation gesetzt werden und soll im Folgenden näher ausgeführt werden.

1 Kreativitätsdispositive: Prämissen und Entwicklungen

Jakob Levy Moreno (vgl. Moreno 1996) verstand Kreativität im Zusammenspiel mit Spontaneität und Aktion als Grundtendenzen menschlicher Existenz. Wird die Kreativität des Menschen über seine Einbindung in den universellen Entstehungsprozess der Welt, des Universums verstanden, stützt sich diese Kreativitätstheorie vor allem auf die theologische Implikation vom Schöpfertum Gottes. Die jüdisch-christliche Lehre von der Erschaffung der Welt aus dem Chaos, aus dem Nichts, geht von dieser Lehre aus. Das Privileg des Künstlers (männlich bestimmt) aus dem göttlichen Schöpfertum, aus dem Nichts Kunstwerke zu schaffen, dieses Vorrecht künstlerischen Schaffens findet sich in zahlreichen Kunstmanifesten am Beginn des 20. Jahrhunderts. So auch bei J.L. Moreno, der sich als Künstler inszenierte, mit seiner Lyrik, seinen programmatischen Dialogen und mit seinem Stegreiftheater in der Maysedergasse die Wiener Kunstszene reformieren wollte.

Moreno (vgl. Moreno 1923) weist sich selbst als Künstler das Vorrecht auf das göttliche Schöpfertum zu. Die Erklärung der kulturellen Kreativität bleibt für Moreno aber nicht im Verborgenen, Rätselhaften, sondern zeigt einen Menschen, der bewusst durch seine Handlungen Kreativität schaffen und beeinflussen kann. Spontanes, aktives Handeln liegt für Moreno im Prozess künstlerischen Schaffens an sich. Das kreative, künstlerische Potenzial soll auch das soziale, mitmenschliche Verhalten verändern, und eine persönlichkeitsbildende Kreativität im Alltag leben. Die Konstellation eines „Kreativitätsdispositivs“ (vgl. Reckwitz 2013) soll nicht einzelnen Künstler*innen vorbehalten bleiben, sondern zu einer allgemein anzustrebenden Autonomie des Subjekts führen, zu einem gelebten Imperativ werden. Kreativität kann als Innovationskraft und somit als Emanzipationshoffung des Menschen verstanden werden, als Inbegriff des handelnden Menschen. Moreno bezog sich auf kulturelle Muster und Traditionen, gleichzeitig sollte mit ästhetischen Strategien eine Bewältigung belastender Situationen umgesetzt werden (vgl. Moreno 1924; Marschall 1988).

2 Der Homo ludens: Interaktion und ökonomische Interessen der Mediengesellschaften

Die Metakommunikation Spiel, der „homo ludens“ (Huizinga 1961) diente Moreno dabei als Modell für das Erlangen des Schöpferischen. Der spielende Mensch kann Grenzen überwinden, Unaussprechliches, Ängste, Erlebnisse in szenische Situationen übertragen, variable Lebensentwürfe im darstellenden Spiel neu erfahren. Das darstellende Spiel verweist auf die Fähigkeit und zugleich auf die Realität, dynamisch Neues hervorzubringen.

Der Künstler Moreno setzte auf das kreative Potenzial im darstellenden (Stegreif‑)Spiel, das er als Strategie einsetzte, das ihm in späteren Jahren auch als Modell seiner therapeutischen Behandlungsmethode dienen und zu einer Leidensminderung gegenüber den Ansprüchen der Gesellschaft führen sollte. Die Intervention in das Leben selbst, der Auftrag als selbstbewusstes Kreativsubjekt neue Mittel und Wege zu erproben, Empfindungen auszudrücken, sich von althergebrachten Denkmodellen zu lösen, ist die eigentliche, kreativ gelebte Programmatik dieses Grenzgängers zwischen den Künsten und der therapeutisch-medizinischen Profession. Das kreative Potenzial des darstellenden Spiels als sozial fördernde Komponente prägte die Selbstinszenierung des Künstlersubjekts Moreno. Die ästhetische (Selbst‑)Kreation kann zur Etablierung von kollektiven Kreativsubjekten führen. Eine Entwicklung, die gut 100 Jahre nach Morenos Beschäftigung mit Mechanismen und gesellschaftlichen Prozessen von Kreativität zu einer engen Verflechtung von Ästhetisierung und Alltagsleben führt und eine mittlerweile inflationär gebrauchte Verwendung des Begriffs Kreativität zeigt. In den globalisierten, kapitalistisch orientierten Gegenwartsgesellschaften haben sich die Anforderung und der Wunsch, kreativ zu sein und schöpferisch Neues hervorzubringen, in ungewöhnlichem Maße verbreitet. Das Ideal der Kreativität ist zu einem omnipräsent geforderten Leistungs- und Lebensdruck geworden, potenziert in der medialen Vermarktung von Kreativkonzepten. Die inflationär gewordene Kreativitätsindustrie, die kreative Selbstoptimierung als Produkt, als Ware verkauft und dementsprechend auch vermarktet, ist zu einem Bestandteil des Alltagslebens, der inszenierten Alltagspraxis geworden. Von den Bereichen Fitness, Kochen, Lebensdesign bis hin zu foodporn und diversen Videoportalen ist die Schiene „Kreativität“ ein gewinnbringender Wirtschaftszweig geworden. Kreative Künstler*innensubjekte in den virtuellen Mediennetzwerken sind zum Vorbild geworden, denen mit Inszenierungsstrategien nachgeeifert wird, um Kreativsubjekte massentauglich zu (re)produzieren.

3 Vom göttlichen Schöpfertum zur profanen Ästhetisierung

Der religiös motivierte Kreativitätsanspruch einer göttlichen Weltordnung im Sinne von Moreno hat sich zu einer profanen Kategorie entwickelt. Der Wunsch nach Kreativität ist sowohl im subjektiven Begehren als auch in der sozialen Erwartungshaltung von Bedeutung geworden. Arbeits- und Lebenspraktiken unterliegen der Forderung nach Innovation, nach Neuorientierung und ständiger Bereitschaft tradierte Strukturen gesellschaftlicher Verhältnisse aufzubrechen. Der Anspruch kreativ sein zu müssen, löst sich vom Künstler*innensubjekt, bezieht sich auf alle Individuen, bindet aber gleichzeitig den Alltag, Lebens- und Arbeitsbereiche an künstlerische und ästhetische Komponenten. Diese Tendenzen und Entwicklungen zeigen vermehrt den Anspruch der Künste soziale Modelle zu etablieren, Kunst als Aufforderung zur Intervention und Eingriff in die Lebenswelten zu verstehen. Mobilität, Flexibilität, Experimentierfreudigkeit, Probehandeln, Emotionalisierung garantieren dem Subjekt Lebensfreude, sollen eigenes schöpferisches Potenzial fördern, kreatives Agieren gewährleisten. Kunst als Selbstermächtigung des Menschen und soziale Komponente um das Miteinander schöpferisch neu zu gestalten, ist Programmatik des Aktionskünstlers Joseph Beuys. Die eingangs zitierte Programmatik von Joseph Beuys kann mit Morenos Kreativitätskonzept und seinen eigenen Ansprüchen an das kreative Künstlersubjekt in einen fruchtbaren Austausch gesetzt werden. Die von mir als Eingangsmotto zitierte Programmatik soll den Fokus öffnen, für Fragen zu den kollektiven Kreativsubjekten J.L. Moreno versus Joseph Beuys. Zunächst soll jedoch Morenos Auffassung von Kreativität genauer aufgefächert werden.

4 J.L. Morenos Kreativitätskonzept

J.L. Moreno versteht Kreativität im Zusammenwirken von Universum und Menschheitsgeschichte, eingebunden in den universellen Prozess der Weltentstehung: „Eine Möglichkeit zur Definition von Kreativität ist die Beschreibung ihrer maximalen Erscheinungsform des Universums, das von Anbeginn an von Kreativität durchdrungen war und seit seiner Existenz nicht aufhört, kreativ zu sein. Das Gegenteil dieser maximalen Kreativität wäre die Kreativität an ihrem Nullpunkt, eine völlig unkreative, automatische Welt ohne Vergangenheit, Zukunft, ohne Entwicklung, Wechsel und Sinn“ (Moreno 1996, S. 438). Moreno reflektiert vor diesem Hintergrund sein künstlerisches Schaffen, das er als dynamische Manifestation des Lebens an sich versteht. Die in Dialogform geschriebenen Schriften Die Gottheit als Autor (1918), Die Gottheit als Komödiant (1919) und Die Gottheit als Redner (1919) sind neben dem Testament des Vaters (1922) und dem Königsroman (1923) die programmatischen Werke Morenos, die Bezüge zur göttlichen Trinität assoziieren. Als Prämisse setzt Moreno einen Kosmos, der aus Spontaneität, Kreativität und Aktion besteht. Er glaubte an die Begegnung in der Gruppe und an die Allmacht von Kreativität und spontaner Aktion, die seine Theaterexperimente prägen. Die „Einladung zu einer Begegnung“, die Moreno all seinen Veröffentlichungen als Motto beigegeben hat, vollzog Moreno selbst: er verkörperte das, was er in seiner Lyrik und Prosa schrieb, in seinem Stegreiftheater erprobte und in seiner Gruppenpsychotherapie, dem Psychodrama praktizierte und lehrte. Seine Ausführungen über die Parameter Zeit und Raum, über die Universalien wie Kosmos und Realität zeigen seinen prophetischen Gestus, seinen anthropologischen Ansatz. Das Imaginäre, das Spielerische seiner Methode konstituiert den Wesenszug des Menschen, der aber verlernt hat, seine Kreativität und Spontaneität einzusetzen. Diese durch die Zivilisation geschwächte Kraft muss permanent gepflegt und erschlossen werden.

5 Spielend Kreativität (er)leben

Im (Rollen‑)Spiel mit Kindern, später im darstellenden Spiel aus dem Stegreif in seinem improvisierten Theaterexperiment in der Maysedergasse in Wien erkannte Moreno Grundelemente des verschütteten Potentials Kreativität. Konfliktsituationen werden in angewandte Spielsituationen übertragen. Strategien wie Selbstdarstellung und Rollentausch, Reflexion eigenen Handelns, Nähe und Distanz zu eigenen Verhaltensmustern, können Blockaden aufbrechen, Grenzen überschreiten und zu einem motivierten Schaffensakt führen. Die im Alltag gelebte Kreativität wirkt auf die Persönlichkeit stabilisierend, durch das künstlerische Potenzial kann auch das soziale mitmenschliche Verhalten verändert werden. Diese Strategien können als Lebenstechniken bezeichnet werden, die zu einer Verbesserung der Lebenssituation, zu neuer Lebensfreude des Menschen durch Erweckung seines kreativen Potentials im Kollektiv führen. Soziale Rollen werden als kreative Rollengestaltung präsentiert. Das Spiel ermöglicht gesicherte Übergänge zur Realität, schafft einen „intermediären Raum“ (Winnicot 1973, S. 11). Das darstellende Spiel mit seinen Zwischenräumen weist Analogien zu kreativen Schaffensprozessen auf, ist der Kunst selbst immanent, eröffnet freie Spiel- und autonome Handlungsräume. Das Rollenspiel ist als Selbsttechnik, als Technologie des Selbst zu verstehen, als experimentelle Weiterentwicklung des Subjekts in all seinen (möglichen) Facetten. Der Begriff Selbsttechnik hat sich über Michel Foucaults (vgl. Foucault 1989) Verwendung hinaus, verselbständigt. Damit sind alle Praktiken gemeint, in denen das Subjekt seinen Körper mittels unterschiedlicher Medien sensibilisiert und präsentiert. Diese Selbstinszenierung hat Moreno bis zur Selbststilisierung als Kreator der eigenen Person betrieben.

6 Das kreative Künstlersubjekt: J.L. Moreno

Die enge Wechselbeziehung von Kunst und Leben bestimmen Morenos Denken, seine künstlerischen Ambitionen als Schriftsteller und Theaterreformer, auch den Inhalt seiner Selbstbiographie. Sein künstlerischer Habitus bediente das Bild des autonomen Künstlers, kreierte ein Originalgenie. Äußere Merkmale dienten ihm als Erkennungszeichen und charakterisierten seine Person, die immer die Präsenz, die Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit suchte. Die Macht der Ästhetik war Strategie und Vermittlungsinstanz seines soziologischen und politischen Handlungskonzepts. „Ich trug einen knöchellangen, dunkelgrünen Mantel. Jeder begann mich mit ihm zu identifizieren: der Mantel des Propheten. Ich trug ihn im Sommer und im Winter, auch mit der Absicht, mich sofort erkennbar zu machen, wie einen Schauspieler, der für sein Rollenfach ein charakteristisches Kostüm trägt“, schreibt Moreno in seiner Autobiographie (Fox 1987, S. 205). Der Mantel wurde zum Symbol, mit dem Moreno sich über die Kreation einer bestimmten theatralen Rollenfigur hinaus, eine Möglichkeit schuf, die mimetische Wahrnehmungswelt der Selbstinszenierung als Konstrukt seiner Lebenswirklichkeit anzunehmen. Moreno konstruierte mit und durch seine Lebensaufzeichnungen (ebd.) ein Image von sich selbst, indem er persönlich geprägte Episoden in Beziehung zu bekannten Persönlichkeiten quer durch die Jahrhunderte setzte. Aristoteles, Shakespeare, Karl Marx, Sigmund Freud u. a. sind Gewährsmänner, an denen Moreno seinen Maßstab anlegt und sich selbst in Relation als der originäre und schöpferische Erfinder von Ideen und Konzepten preist. Über alle Konfessionen und Nationalitäten hinweg fühlte er sich auserwählt wie Jesus, Buddha und Gandhi. Die Aufzeichnungen und ästhetischen Schriften Morenos skizzieren diesen Ich-Mythos, modellieren durch Stilisierung, Umdeutung und Weglassen die Vergangenheit als wirkendes Sein der Gegenwart. So erinnert sich Moreno an eine Begegnung mit Sigmund Freud, der ihn 1912 in der Psychiatrischen Universitätsklinik nach einer Analysestunde über telepathische Träume nach seinem Tun gefragt haben soll. Moreno antwortete: „Nun Dr. Freud. Ich beginne, wo sie aufhören. Sie treffen die Menschen in der künstlichen Umgebung ihres Büros, ich treffe sie auf der Straße, in ihren Heimen, in ihren natürlichen Lebensräumen. Sie analysieren ihre Träume, ich gebe ihnen den Mut, wieder zu träumen […]“ (J.L. Moreno 1964, S. 16 f.).

7 Moreno: Kreator seiner eigenen Lebensgeschichte

Zeugenschaft ablegen für das eigene Ich, betrieb Moreno über die Modellierung von Begegnungen mit Persönlichkeiten, Überzeugungsversuche und (Selbst)Vergewisserung des Hier Gewesen Seins. Emil Hoeflich, Schriftsteller, Herausgeber und mit Moreno bekannt durch dessen literarische Aktivitäten, beschreibt in einer Tagebuchnotiz von 1918 Moreno wie folgt: „Ein junger, glattrasierter spanischer türkischer Jude, von ziemlich europäischem Typus kam er mir entgegen und war sofort in einer etwas dozierenden, etwas literarischen, abstrakten Debatte. Er sprach über alles Mögliche, betonte des Öfteren, dass er Feind alles Literarischen sei und die Tat propagiere […]. Er kam mir in manchen Augenblicken wie ein Geschäftsreisender in geistigen Artikeln vor. Aus jeder Tasche zog er eine Idee und pries sie an, ließ sie fallen, um sofort wieder eine andere bei der Hand zu haben“ (Wallas 1999, S. 37). Diese Begegnung beschreibt Morenos Hang zur emphatisch verkauften Selbstpräsentation. Er verstand es, gesellschaftliche Notwendigkeiten zu bedienen und beherrschte die eigene Vermarktung. Durch heldenhaft archetypische Erzählungen in seinen literarischen Schriften, in Autobiographie, Poesie und in seinen medizinisch-therapeutischen Beschreibungen stilisierte er sich zum Star, gewandt in den Künsten, der Psychodramatherapie, der Soziometrie. Ein begnadeter Selbstvermarkter, wie es auch der Aktionskünstler Joseph Beuys gewesen ist.

8 Kreative Akte sozialer Beziehungen: Joseph Beuys

Anlässlich des 100. Geburtstages von Joseph Beuys (1921–1986) wird in zahlreichen Retrospektiven und neuen Publikationen (vgl. Blume und Nichols 2021; Storch 2021; Skrandies und Paust 2021; Ursprung 2021) nach der Relevanz seiner Aktionen, seiner Werke und nach seinem Image als Künstler gefragt. Sein Schaffen ist mit den gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Themen seiner Zeit eng verbunden, steht in den 1970er und 1980er-Jahren im Schnittpunkt historischer Konstellationen. Zu seinen Lebzeiten polarisierte Beuys die Öffentlichkeit, und lässt bis heute Interpretationen florieren, die ihm Scharlatanerie, Deutschtum, Esoterik und völkisches Gedankengut vorwerfen. Anderen ist er zu einer widerständigen, basisdemokratisch denkenden, charismatischen Kultfigur geworden. Kritiker*innen und Anhänger*innen forschen nach Schuld und Unschuld, verweisen auf Lücken und Erfindungen in seiner Biografie. Sind es vor allem die Fiktion und der Mythos, die seine Lebens- und Werkbiografie bestimmen, so ist auch sein Image mit Filzhut, Jeans und Anglerweste Teil des kollektiven Gedächtnisses geworden. Mit festen Stiefeln, seinen „Fluxusstiefeln“ trat er in seinen Aktionen auf, in seiner nach Überlebensstrategie aussehenden Kleidung mit Weste und Pelzmantel gegen die Kälte, gelegentlich ausgestattet mit Stab wie ein Hirte und Wanderer. Natürlich nicht zu vergessen der Stetson-Hut, zu dessen signifikanter Bedeutung Beuys sagte: „Auf einmal habe ich gedacht, innerhalb der Aktionskunst muss der Hut ein bestimmtes Zeichen für eine bestimmte Rolle sein […]. Die Leute erkennen mich, ich habe sofort Kommunikation. Es ist klar, es ist natürlich ein Theaterstück. Das Ganze ist ein Gesamtkunstwerk unter der Methode des Theaters als Schaubild. Aktionskunst heißt eigentlich: eine neue Idee von Theater, aber auch das Theater als normales Leben […]“ (Schreiber 1982, S. 116). Den Deutungshoheiten und dem Gemetzel um Interpretationen und der Suche nach dem „wahren“ Beuys soll hier nicht nachgegangen werden. Vielmehr soll sein Satz, aber vor allem die dahinter liegende Idee, „Jeder Mensch ist ein Künstler“ im Mittelpunkt stehen. „Er demokratisierte die westdeutsche Kunstausbildung und perpetuierte zugleich den Geniekult des 19. Jahrhunderts […]. Für ihn waren alle Menschen Künstler, aber seine Kunst blieb für die Mehrheit unverständlich“ (Ursprung 2021, S. 11). Beuys veröffentlichte kaum Texte über seine universale Theorie, äußerte sich vorwiegend in Interviews, wobei die Gesprächspartner*innen nur geistige Anstöße für seine Monologe liefern sollten, die bisweilen missionarischen Charakter enthalten. Seine kommunikative Person stand als Impuls gebende Instanz im Vordergrund.

9 Selbstbestimmung und Autonomie als Quelle der Kreativität

Wiederholt äußerte sich Beuys in Interviews und in der Phase der Gründung der deutschen Studentenpartei in der Studentenbewegung 1967 mit dem Satz „Jeder Mensch ist ein Künstler“. Variiert und in erweiterter Satzkombination wurde er zu einer Sprachschöpfung deren ursprüngliche Quelle nicht mehr eruiert werden kann. Hat ihn doch nicht nur Beuys selbst, sondern auch die Rezeption inflationär verwendet. Auch der unter der Regie von Werner Krüger 1979 gedrehte Film trägt den Titel: „Joseph Beuys: Jeder Mensch ist ein Künstler.“ Beuys hat den Menschen und die ihm eigene Kreativität ins Zentrum seines künstlerischen Schaffens gestellt. Beuys sieht im Menschen die Möglichkeit zum*r Erschaffer*in zu werden: die Kreativität ist Ausdruck des freien Denkens. In einem Interview führt Beuys aus: „Was ich meine, ist: Jeder Mensch ist Träger von Fähigkeiten, ein sich selbst bestimmendes Wesen, der Souverän schlechthin in unserer Zeit. Er ist ein Künstler, ob er nun bei der Müllabfuhr ist, Krankenpfleger, Arzt, Ingenieur oder Landwirt. Da, wo er seine Fähigkeiten entfaltet, ist er Künstler“ (Brügge 1984, o. S.). Kreativität ist somit nicht ausschließlich auf den Bereich Kunst bezogen, sondern sie liegt in der Natur aller menschlicher Wesen, und kann auf jedem Gebiet ausgedrückt werden, in der Ausübung jeden Berufs, jeder Tätigkeit. Beuys sieht ein lebensnotwendiges Bedürfnis, da der kreative Mensch Motor und Kreator einer neuen Gesellschaft ist. Für Beuys ist der Mensch gleichsam ein*e Revolutionsträger*in. Während einer Diskussion im Mai 1984 zur Aktion Difesa della Natura in Bolognano legte Beuys sein Kreativitätskonzept dar: „Wir müssen uns dessen bedienen, was die wichtigste unserer Fähigkeiten ist, und zwar die Kreativität. Der wichtigste Teil der Kreativität, bzw. der realste Teil innerhalb des Kreativitätsbegriffs ist die Freiheit zu handeln oder etwas zu tun, andererseits ist jeder auf sich allein gestellt und muss die Gesamtheit seiner Individualkraft einsetzen, wenn er sich den anderen nähern will […]“ (De Domizio Durini 2011, S. 262). Kreativität ist eine dynamische, fluide Essenz, die sich im Menschen zum Ausdruck bringt, die in der Kunst als Lebenspolitik begriffen wird. Das Kreativitätsprinzip kann nur in der Konnotation von Freiheit gedacht werden. Das Freiheitsprinzip betrifft sowohl das Individuum als auch die zwischenmenschlichen Beziehungen. Die Bereiche der Kreativität sind in sämtliche Sozialverhältnisse einzubinden, ist die ästhetische Existenz schlechthin. Beuys spricht von der „dreigeteilten menschlichen Kreativität, die sich in Denkkraft, Gefühl und Willen ausdrückt […]“ (ebd., S. 264). Beuys strebt nach der Entwicklung realer Modelle für eine soziale Orientierung, um die menschlichen Fähigkeiten in ihrer Ganzheit zu verwirklichen. Diese Forderung enthält auch seinen Kritikpunkt an Kapitalismus und Warenkonsum. Der sozialpolitische und sozialgestalterische Standpunkt ist Idee und vehemente (Auf)Forderung zugleich: kreativ zu werden und sich selbst zu entfalten. In der Selbstbefreiung und im Bewusstsein eigenständige Handlungen zu setzen, das Potenzial der Kreativität aktiv im Leben einzubeziehen, können als mögliche Bezugspunkte zu Morenos Ideen gesehen werden, obgleich die sozialen und politischen Zeitbefunde nach 1945 im Schaffen von Beuys mitzudenken sind.

10 Kreativsubjekte in den Gegenwartsgesellschaften

„Die kulturelle Produktion, d. h. die Produktion von Informationen, adaptiert zunehmend künstlerische Prozesse. Kreativität wird ihre Devise“ (Han 2021, S. 21). So die Erkenntnis des Philosophen und Medientheoretikers Han über die Umbrüche der Lebenswelten. Identitätsstiftende Wertegemeinschaften wie Familie und Religionen sind brüchig geworden, selbst politische Bewegungen und Ideologien bieten nur kurzfristige Befriedigungen. Das Ästhetisch-Kreative übernimmt sinnstiftende Aspekte, ist zum Träger einer leistungsorientierten Arbeits- und Freizeitkultur geworden. Ästhetik ist zu einer Komponente sozialen Handelns geworden, bestimmt Handlungskompetenzen, wird zur Motivation der Selbstpräsentation. Selbst Konsumprodukte, Objekte des täglichen Lebens werden mit dem Faktor „kreativ“ aufgeladen, verheißen sie doch sinnlich-emotionale Augenblicke. „Man kann nicht genug betonen, dass die Prozesse der Ästhetisierung nicht antisozial oder dem Sozialen gegenüber indifferent sind, sondern eine eigene Version des Sozialen hervorbringen. […] Die Besonderheit der ästhetischen Sozialität besteht darin, dass sie vier spezifische Instanzen und Einheiten miteinander verknüpfen, nämlich, Subjekte als Kreateure, ein ästhetisches Publikum, ästhetische Objekte und eine institutionalisierte Regulierung von Aufmerksamkeit. Dies ist das tragende Gerüst der Kreativitätsdispositive“ (Reckwitz 2013, S. 322 f.). Handeln und Wahrnehmung sind auf eine permanente Selbsttransformation fixiert, die nach mediatisierten Modellen und Mustern von Kreativität ausgerichtet ist. Die Selbstverwirklichung wird zur Suche nach dem eigenen, originären Selbst, das sich unter Leistungsdruck ständig neu erfinden muss. Das Subjekt wird zum Gegenstand, zum Objekt einer ästhetischen Selbstgestaltung vor einem Publikum. Die Generierung von Aufmerksamkeit wird Selbstzweck und legitimiert das öffentlich zur Schaustellen von gesellschaftlichen Prozessen. Der Zwang nach Kreativität bringt nicht zwangsläufig Innovationen hervor, sondern greift auf standardisierte Elemente von Narrationen, Netzwerken und Rollenbilder von Menschen aus Politik, Sport, Wirtschaft und Kultur zurück. Die Aneignung der (Um)Welt wird zum Modus des Erlebens mit Affektcharakter. „Standardisierung und Singularisierung, Rationalisierung und Kulturalisierung, Versachlichung und Affektintensivierung haben die Moderne in gewisser Weise von Anfang an geprägt“ (Reckwitz 2020, S. 19). Inszenierung und Performance, Erlebnis und Genuss gewinnen an Bedeutung, bestimmen selbst die Ökonomie, die in ihrer kulturellen Phase spielerische Züge aufweist. Das öffentliche Leben ist in ästhetische Kategorien gefasst, bestimmt von Bilderwelten und dazwischengeschalteten Medien, in dem Leben nur mehr als Tauschwert und Bruchstelle sichtbar wird.

11 Die Zeitgenossenschaft der Kreativitätskonzepte von J.L. Moreno und Joseph Beuys: Chancen und Gefahren

Morenos Konzept des kreativen Menschen, der durch ein konfliktorientiertes, liminales (Probe)-Handeln zu einem selbstbewussten Verhalten gelangt, erweist sich 100 Jahre später als brauchbar und zeitgemäß. Nach seinen Vorstellungen besitzt jeder Mensch die ihm eigene schöpferische, die Welt bestimmende Fähigkeit zur Kreativität. Dieser Grundkonstellation folgt auch der Aktionskünstler Joseph Beuys, der den Begriff der Kunst auf sämtliche Arbeits- und Lebenswelten erweitert hat. Beuys fordert Kreativität und die aktive Teilnahme des dynamisch denkenden Menschen, um die soziale Gemeinschaft zu transformieren, zu verbessern. Moreno und Beuys – bedenkend die jeweiligen Zeitumstände und gesellschaftspolitischen Möglichkeiten – rufen auf zur freien Entfaltung der je eigenen schöpferischen Kraft. Beiden ist auch der Habitus, die Spektakulisierung eines kreativen Künstlersubjekts eingeschrieben. Ihr Kreativitätsmodell, das über den*die Künstler*in hinaus geht, zeigt in den marktorientierten globalisierten Gesellschaften auch Tendenzen zu einer Performance-Kreativität, die zu einer Ästhetisierung und zur Überschwemmung mit Kreativangeboten für sämtliche Lebensbereiche führt. Der Begriff Kreativität ist inhaltsleer geworden, hat zur Etablierung neuer Wirtschaftssektoren geführt, die seit den 1980er-Jahren ständig wachsen und gewinnbringend kulturell-kreative Güter und Dienstleistungen produzieren und vermarkten. Die kreative Selbstkonstruktion wird gesellschaftlicher Konsens, transformiert das Subjekt zu kollektiven Kreativitätssubjekten, die zu einer konsumorientierten Masse werden, abhängig von Zeitgeschmack, Moden und Role Models im Mainstream. Dennoch sind wir als Zivilgesellschaft aufgerufen, den manipulativen Strategien von Werbung und den medialen Bilderfluten ein selbstbestimmtes kreatives Leben entgegenzusetzen. Morenos Kreativitätskonzept bietet trotz Veränderung der Strukturen gesellschaftlicher Verhältnisse Ansätze für eine lohnende Auseinandersetzung nicht nur in der Theorie, sondern auch in der Praxis durch kreative Planspiele im Alltagsleben. Beuys manifestiert sein Konzept der Kreativität in einem ideologischen, politisch globalen Zusammenhang. Beuys kann durch seine öffentlichen Auftritte und Appelle als ein Wegbereiter der Grün- und Umweltbewegungen gesehen werden. Beuys strebt nach einer Gesellschaft, die sich der Ressourcen der Lebensbedingungen auch im Sinne des Anthropozäns, bewusst werden sollte. Die Bedingungen und Chancen mit dem Potenzial der Kreativität verantwortungsvoll in den Zivilgesellschaften umzugehen, liegen bei jeder*n von uns. Nützen wir diese Chancen!