1 Wozu Traumapädagogik?

Unsere heutige Gesellschaft bietet eine Reihe von Möglichkeiten für individuelle Lebensformen, ohne jedoch eine „verlässliche Garantie für den Erfolg der biografischen Projekte zu übernehmen“ (Böhnisch et al. 2009, S. 18). Die fortgeschrittene Pluralisierung von Selbst- sowie Weltbildern und die Beschleunigung der Wandlungsprozesse bieten daher nicht nur immer mehr Freiheitsgrade, sondern erfordern von Heranwachsenden und Erwachsenen auch weitreichende Fähigkeiten, vor allem eine hohe Flexibilität (Sennett 2000 [1998]). Während in der Vergangenheit lineare Lebensverläufe üblich waren, sind diese heute selten geworden. Identität kann daher aktuell nicht nur, sondern muss von klein auf viel stärker als früher und insbesondere bei frühkindlichen Verletzungen und Traumata in einer lebenslangen Interaktion mit der Umwelt bzw. dem Umfeld erworben werden. Mit der Verkleinerung vordefinierter Räume und der Vergrößerung individueller Spielräume steigen Variationsmöglichkeiten wie auch Gestaltungsdruck.

Resultat ist Freiraum und Zwang zu aktiver Identitätsarbeit (vgl. das Modell dazu von Keupp et al. 1999, S. 266): Wer mit einer guten Ressourcenausstattung die Bedingungen flexibel zu nutzen weiß, sieht sich einem attraktiven Angebot an Lebenswegen und Gestaltungsmöglichkeiten gegenüber. Zugleich sind aber auch vielfältige Übergänge und Brüche dabei zu bewältigen. Dadurch entsteht ein zunehmender Verlust sozialer Einbindung und kultureller Einbettung, „die Arbeit an der eigenen Identität“, so Keupp (2014, S. 21), wird „zu einem unabschließbaren Projekt“ (ebenda). Benachteiligte und beeinträchtigte Menschen geraten auf diese Weise nicht selten ins Abseits, in Diskriminierungs- und Stigmatisierungsverhältnisse. Diese Tatsache gilt insbesondere für frühe Verletzungen, Vernachlässigung und Gewalt. In einer umfassenden Studie zu frühen Traumata in der Kindheit (Felitti 2002) zeigte sich: Menschen, die frühes Trauma erlitten haben, leiden ungleich häufiger an Armut, Arbeitslosigkeit, Mittellosigkeit, unzureichender oder unsicherer Unterkunft bzw. Wohnungslosigkeit, sind somit stärker sozial gefährdet und sterben deutlich früher als Menschen ohne solche Belastungen.

Um psychosoziale Versorgung an diesem Bedarf zu orientieren, muss daher eine adäquate professionelle Antwort auf die Überforderungen durch psychosoziale Verarbeitungsprozesse aktueller Lebensverhältnisse bereitgestellt werden – für alle darin lebenden Menschen. Dafür bedarf es der Entwicklung geeigneter Konzepte. In diesem Kontext ist Traumapädagogik entstanden: um Antworten auf die Fragen zu finden, die traumatisierte Mädchen und Jungen an MitarbeiterInnen insbesondere in Kinder- und Jugendhilfekontexten, aber nicht nur dort, stellen. Während Traumatherapie und Traumaberatung in der Hilfelandschaft bereits weitgehend etabliert sind, haben traumapädagogische Konzepte, die sich alltagsorientiert auch dem Betreuungskontext widmen, erst in den letzten Jahren an Verbreitung gewonnen (vgl. für einen Überblick Weiß et al. 2016). Der Artikel soll eine kurze Einführung bereitstellen.Footnote 1

2 Woher kommt Traumapädagogik?

Traumapädagogik rekurriert auf eine Reihe von Bezugskonzepten. Insbesondere auf die Psychotraumatologie, die Bindungs- und Netzwerktheorie und auf die Psychotherapie- und Beratungswissenschaften – dort vor allem die psychoanalytische Pädagogik (Weiß 2016) – sowie humanistisches und milieutheoretisches Gedankengut (Gahleitner 2011). Traumapädagogik fußt jedoch in erster Linie auf Traditionen der Pädagogik und Sozialen Arbeit. Die Notwendigkeit der Reflexion bestehender Konzepte entwickelte sich aus der psychosozialen Praxis mit traumatisierten Menschen heraus.

Der ausgeprägt interdisziplinäre Zugang beinhaltet viele Chancen. In der Historie der Pädiatrie, Psychiatrie und Behindertenfürsorge gab es – ganz im Kontrast zu der heutigen Grabenbildung (Bois und Ide-Schwarz 2015) – zahlreiche Beispiele zur Integration und Konvergenz pädagogischen, psychologischen und medizinischen Denkens. So gewann Sigmund Freuds Psychoanalyse Anfang des 20. Jahrhunderts, vor allem über die Arbeiten der KinderanalytikerInnen (Hauser 2012, S. 52 f.), deutlich mehr Einfluss in pädagogischen Kreisen als in der Psychiatrie. Aichhorn (1925) z. B. entwickelte ein Konzept für die Arbeit mit sozial benachteiligten Jugendlichen, Bernfeld (vgl. u. a. 1974 [1929]) prägte die psychoanalytische Pädagogik und ihren Blick auf Kinder und Jugendliche in ihrem Umfeld. Eine Reihe heilpädagogischer Heime fungierte als Vorläufer kinderpsychiatrischer Stationen (Bois und Ide-Schwarz 2015). Aichele (u. a. 1929) gründete 1922 ein Heim, um dort mit psychisch kranken Kindern zusammenzuleben und verband das Wissen der Fachperson mit den Lebensformen der AdressatInnen (vgl. Hauser 2012).

Als weitreichendstes Beispiel sei die Milieutherapie angesprochen. Bettelheim (1970 [1950]) sowie Redl und Wineman (1970 [1951]) entwickelten Konzepte für Kinder mit Problemlagen, die mit Psychotherapie nicht ausreichend behandelbar waren und umfassendere Konzepte benötigten. Nach der Aussage des „therapeutischen Milieus“ (vgl. Redl 1971) haben alle Faktoren in der Lebensumwelt auch therapeutische Auswirkungen. Wie im Psychodrama ist hier der Grundgedanke der Begegnung, der Wertschätzung, des Mutualismus (der Gegenseitigkeit bzw. gegenseitiger Hilfe) „ein durchgängig tragender therapeutischer Wirkfaktor“ (Hutter und Schacht 2014, S. 189). So spricht Buer (2017) davon, jede Psychodrama-Gruppe sei eine „therapeutische Gemeinschaft“ (S. 19) auf Zeit. An diese Überlegungen knüpfen auch Überlegungen zum „pädagogischen Milieu“ an: Ein „biografisch verfügbarer sozialräumlicher und sozialemotionaler Kontext“ (Böhnisch 1994, S. 222) soll Chancen eröffnen, innerhalb der Gemeinschaft biografische Verletzungen real im Lebensraum und nicht nur binnen-psychisch zu aktualisieren und schonend im Rahmen des Alltags neue, alternative Lebenserfahrungen zu machen.

3 Warum „Trauma“pädagogik?

Ein Trauma als ein „vitales Diskrepanzerlebnis zwischen bedrohlichen Situationsfaktoren und individuellen Bewältigungsmöglichkeiten“ (Fischer und Riedesser 1998, S. 79) entsteht durch ein erschütterndes Ereignis und geht mit Kontrollverlust, Entsetzen und (Todes‑)Angst einher. Das Ausmaß der Traumatisierung ist abhängig von der Art, den Umständen und der Dauer des Ereignisses sowie vom Entwicklungsstand. Zu den Umständen zählt auch, ob es vor, während oder nach der Traumatisierung schützende Faktoren gab. Der wichtigste umgebende Schutzfaktor sind stabile Bindungsverhältnisse (Gahleitner 2020). Aus frühen Traumata können daher komplexe Entwicklungsproblematiken entstehen (Felitti 2002). Die Fachrichtung der Psychotraumatologie hat dafür eine Reihe von Handlungsansätzen entwickelt (vgl. u. a. das aktuelle Handbuch von Seidler et al. 2019). Für die Traumapädagogik besonders zentral ist das Konzept der sequenziellen Traumatisierung von Keilson (2005 [1979]), in dem vor allem die Zeit nach der Traumatisierung große Bedeutung erhält.

Häufig ist gerade bei schwerer Traumatisierung das schützende Umfeld jedoch nicht verfügbar und die Zeit nach der Traumatisierung von Diskriminierung und Stigmatisierung gekennzeichnet. Diese Nichtverfügbarkeit stabiler Bindungspersonen erhöht nach Bowlby (2006 [1969]) nicht nur das Traumarisiko, sie stellt auch ein eigenes Traumarisiko für sich dar und erschwert zusätzlich viele Bewältigungschancen. Ein destruktiver Teufelskreis entsteht. Nicht selten kommt es zu einem chaotisch-desorganisierten Bindungsstil (Brisch 2019 [2009]). Schacht und Pruckner (2010) sprechen von einer „Begegnungsabsage“ (ebenda, S. 239), in die sich verletzte KlientInnen zurückziehen. Die Veränderungen manifestieren sich bis hinein in neurophysiologische Strukturen (Perry und Pollard 1998). Bereits früh in desolate Verhältnisse eingebundene Menschen sind daher existenziell auf soziale Ressourcen angewiesen, die dazu positive Gegenhorizonte bieten (vgl. dazu die grundlegende Dialogizität und Möglichkeiten eines Hilfs-Ich bei Schacht und Pruckner 2010).

Der unumstritten wichtigste Schutzfaktor sind daher „schützende Inselerfahrungen“ (Gahleitner 2005, S. 63). Wie aber stellt man solche Erfahrungen, sich erstmals im Leben weitgehend sicher und aufgehoben zu fühlen – und dies möglichst in alltagsnahen Settings – her? Die Bindungsforschung hat dazu eine Reihe von Ergebnissen für die Hilfepraxis zugänglich gemacht wie z. B. die verschiedenen Bindungsformen und die Bedeutung von Bindungssicherheit für die Entwicklung. Noch grundlegender jedoch erweist sich hier der Bezug zu interaktionistischen Überlegungen. Demnach konstituiert sich im Zusammenleben im Alltag und den damit verknüpften sozialen Beziehungen interaktiv und fortlaufend – Stück für Stück – die Identität eines Menschen, denn Menschen sind „von Anfang an sozial“ (Schacht 2014, S. 139). Der Säugling ist nicht „actor, sondern sozial handelnder interactor“ (ebenda; Hervorh. i. Orig.). Moreno (1961) spricht treffend von der „Interpsyche“ (ebenda, S. 234; vgl. auch Schacht 2014; vgl. auch entsprechende Vorgehensweisen wie das soziokulturelle Atom). Demnach bedeutet therapeutisches Milieu, dass der Raum zwischen den Individuen einer Gemeinschaft zu einem affektiven Kraftfeld wird, in dem sich Resonanz- und Bindungsprozesse und somit Verbundenheit einstellen (Kronberger und Aichhorn 2015). In diesem von vielen Risiken und Verletzungen bedrohten Entwicklungsgeschehen bieten bindungs- und traumasensible Vorgehensweisen – wie u. a. die Traumapädagogik – daher lebenslang Entwicklungs‑, Heilungs- und Veränderungsmöglichkeiten (Gahleitner 2020).Footnote 2

4 Wie geht Traumapädagogik? – Im Zusammenspiel mit Psychotherapie!

Insbesondere bei Entwicklungstraumata besteht der wichtigste Schutzfaktor in den bereits erläuterten „schützenden Inselerfahrungen“ (Gahleitner 2005, S. 63; siehe oben). Denn vor allem früh in problematische Verhältnisse eingebundene Menschen sind existenziell auf Beziehungsressourcen angewiesen und benötigen möglichst viele Alternativerfahrungen. Bindungskompetente Interaktionen in Traumatherapie, -beratung und -pädagogik stellen auf diese Weise einen Mikrokosmos an Veränderungspotenzialen dar. Unter anderem aus diesen Überlegungen heraus hat sich in allen drei Arbeitsfeldern ein „Drei-Phasen-Modell“ herauskristallisiert (vgl. für Psychotherapie: Herman 2018 [1992]; Lebowitz et al. 1993; für Traumapädagogik und Traumaberatung: Gahleitner 2011) und als hilfreich erwiesen. Mit seiner Hilfe lässt sich das Vorgehen der verschiedenen Interventionsformen in ihren Gemeinsamkeiten und Unterschieden gut veranschaulichen.

Erster Schritt im Drei-Phasen-Modell

Innere wie äußere Sicherheit ist demnach in einer ersten Phase der Stabilisierung und Ressourcenerschließung Grundvoraussetzung. Dazu gehört, mindestens eine bindungs- und beziehungssensible professionelle Beziehung aufzubauen und weitere soziale Ressourcen zu erschließen. In der Psychotherapie realisiert sich diese Sicherheit häufig in einer dyadischen, nach außen geschützten, therapeutischen Beziehung. Über die Dyade hinaus aber haben sich – behutsam angebahnt – Gruppensettings bewährt. Hintermeier (2016) z. B. sieht die Herstellung von verlässlichen Rahmenbedingungen und einem klar strukturierten Ablauf mit immer wiederkehrenden Elementen sowie die Herstellung einer tragfähigen Gruppen-Kohäsion als sehr bedeutsam an (ebenda, S. 267). Eine tragfähige Beziehungsbasis sowohl zu den TherapeutInnen als auch zwischen den Gruppenmitgliedern soll also Stabilität bzw. Sicherheit ermöglichen und auf dieser Basis die Erfahrung von Rollenerweiterung bieten (vgl. dazu auch den Beitrag „Halt geben – Die offene Stabilisierungsgruppe bei FAIRTHERAPY“ von Eisterer und Dungl-Nemetz in diesem Heft). Pruckner (2018) spricht von der Arbeit auf der Sozialen Bühne. Aufbauend auf diesen und ähnlichen Gedanken sieht das traumapädagogische Konzept (Kühn 2008) die Gestaltung eines sicheren Orts als Basis an – allerdings im Alltag. Kühn zufolge bedarf das Wiedererlangen eines „‚innere[n] sichere[n] Ort[s]‘ eines ‚äußeren sicheren Ortes‘“ (ebenda, S. 323), d. h. verlässlicher, einschätzbarer und zu bewältigender Lebens- und Alltagsbedingungen (vgl. auch Hofer-Temmel und Rothdeutsch-Granzer 2015). Hier geht es also bewusst nicht um ein von der Außenwelt abgeschottetes Setting. Denn besonders früh belastete Menschen benötigen nicht nur einzelne dyadische Beziehungen, sondern umfassende Beziehungsnetzwerke – bis hinein in konstruktive Vernetzungssettings unter Institutionen (Weiß et al. 2016; sog. tertiäre Interventionsnetzwerke bei Gahleitner 2011).

Voraussetzung für den gesamten Prozess – traumapädagogisches Verstehen

Entsprechend dem „Konzept des guten Grundes“ (vgl. u. a. Weiß 2016) wird das Verhalten der Kinder und Jugendlichen stets als verstehbare Reaktion auf eine extreme Stressbelastung betrachtet. Daher ist das diagnostische Vorgehen besonders stark einem dialogisch angelegten Verstehensprozess verpflichtet (Gahleitner und Weiß 2016; vgl. auch Schacht und Pruckner 2010). Dafür eignen sich psychosoziale Diagnostikmodelle, die auf interdisziplinäre Wissensbestände, insbesondere auf fallverstehende Modelle der Biografie- und Lebensweltorientierung, zurückgreifen (vgl. ausführlich an einem Fallbeispiel Gahleitner 2011; Gahleitner et al. 2014). Da Bindungs- und Beziehungsaspekte eine zentrale Rolle spielen, lässt sich sinnvoll eine Kurzform des Adult-Attachment-Interviews (AAI; Main und Goldwyn 1996), ein diagnostisches Instrument zur Erhebung der Bindungsformen, einsetzen. Dies gelingt sehr gut in Kombination des von Moreno (2014 [1934]) entwickelten „sozialen Atoms“ (S. 159–166; vgl. auch Moreno und Jennings 1938).Footnote 3 Die sich stetig interaktional entwickelnde Identität wird aus dieser Perspektive nicht als etwas Statisches gesehen (Schacht und Hutter 2016), sondern „das Zusammenspiel von Rollen- und Beziehungsmustern formt das soziokulturelle Atom“ (ebenda, S. 201). Die konsequente Dialogizität verpflichtet die Fachkräfte, KlientInnen ihr Fachwissen zur Verfügung zu stellen, aber sie als ExpertInnen für ihr Leben zu betrachten – ein Gedanke, der dem Psychodrama von der Grundhaltung her sehr vertraut ist. Ziel ist eine lebens-, subjekt- und situationsnahe Diagnostik im interprofessionellen Gefüge, die „Diagnose und Intervention letztlich zirkulär“ (Buer 2017) versteht.

Zweiter Schritt im Drei-Phasen-Modell

In der zweiten Phase – der Auseinandersetzung mit dem Trauma – geht es in der Psychotherapie um den behutsamen Versuch, traumatische Erinnerungen zuzulassen, ohne von den begleitenden Gefühlen überwältigt zu werden. Die – keineswegs in jedem Fall – mögliche Integration des Unannehmbaren und Furchterregenden in das Selbstkonzept ermöglicht eine Rekonstruktion der Gefühle und Gedanken, die mit dem Trauma in Zusammenhang stehen. In der Traumatherapie hat sich dafür eine Reihe von Verfahren etabliert, die sich zur Traumakonfrontation und -aufarbeitung eignen (DeGPT 2019; vgl. das Vorgehen im Psychodrama Pruckner 2018). Durch den Einsatz traumakonfrontativer Verfahren kann es jedoch auch zu Überforderungen kommen. Diesen Überlegungen ähnlich unterscheidet Traumapädagogik unterstützende und traumareflektierende traumapädagogische von aufdeckenden traumatherapeutischen Interventionen (vgl. z. B. Weiß 2016, S. 169 f.). Traumapädagogik ist daher nicht selten 24 Stunden am Tag gefordert, behutsam und zugleich strukturierend selbstexplorative Prozesse zu ermöglichen und alltagsnah ein Mehr an (kognitivem) Selbstverstehen, Selbstwahrnehmung und schlussendlich an Handlungskompetenz und Selbstregulation zu erreichen (ebenda, S. 120–133).

Dritter Schritt im Drei-Phasen-Modell

In der Phase der Integration geht es darum, auf Basis des Erarbeiteten mehr Einblick in das eigene Geschehen und mehr Kontrolle über Gefühle und Erfahrungen zu erhalten. Dies ermutigt traumatisierte Menschen, auch auf der Interaktions- und Handlungsebene mehr Verantwortung zu übernehmen – nicht für die Erfahrungen selbst, jedoch für den Umgang damit sowie für das eigene Leben. Nach einer ausreichenden Stabilisierung und/oder Bearbeitung des Traumas wird daher in Therapie, Beratung sowie Pädagogik eine Neuorientierung ermöglicht, die eventuell auch in posttraumatische Wachstumsprozesse einmünden kann (Tedeschi et al. 1998). Dafür wurden in allen drei Hilfebereichen zahlreiche Verfahren und Vorgehensweisen entwickelt, wobei hier insbesondere auf biografieorientierte Methoden wie z. B. Lebensbücher oder Lebenspanorama zu verweisen ist (vgl. Übersicht bei Gahleitner 2020). Das Psychodrama kann u. a. die Arbeit mit der Lebenslinie als „verkörperte bewegte Biographie“ (Lenz 2013) oder das Bewältigungsmärchen (Krüger 2015, S. 236 f.) anbieten, wo nach dem Grundprinzip der Surplus-Realität individuell und auch interpersonell auf der Ebene der Gruppenerfahrung eine Korrektur der Trauma-Erfahrung möglich ist (Sáfrán und Csáky-Pallavicini 2013).

Abschließend sei noch bemerkt: Es muss im Kontext des Psychodramas als eines dem Prozess zutiefst verpflichteten Verfahren sicher nicht darauf hingewiesen werden, dass auch Phasenmodelle stets nur Anregungen bieten sollen und können. Letztlich muss vor Ort der intuitive – und nicht immer regelhafte – Einsatz die eigentliche Qualität der Hilfestellung ausmachen.

5 Fallbeispiel

Arnar wurde aufgrund einer schweren Abhängigkeitserkrankung der Mutter mit zwei Jahren fremd untergebracht. Im Alter von 14 Jahren kam er in eine therapeutische Wohngruppe. Die Jugendamtsmitarbeiterin bat die MitarbeiterInnen der Wohngruppe zu einem ausführlicheren persönlichen Gespräch. Laut Akten ist Arnar seit seinem zweiten Lebensjahr in elf verschiedenen Einrichtungen gewesen. Die Gründe für die jeweiligen Entlassungen waren u. a.: wiederholtes Fernbleiben, Impulsdurchbrüche, Verweigerung des Schulbesuchs. In einer der Einrichtungen erfuhr Arnar sexualisierte Gewalt durch Peers. Statt einer Auseinandersetzung mit dem Geschehen erfolgte eine Entlassung.

In zwei Vorgesprächen mit Arnar, gemeinsam mit dem Psychotherapeuten der Einrichtung und den künftigen BezugsbetreuerInnen, wurde deutlich, dass es bei Arnar – aufgrund der frühen und komplexen Traumatisierungen – zunächst um die behutsame Anbahnung von Vertrauen gehen würde und es einer trauma- und bindungssensiblen Beziehungsgestaltung bedurfte, die Arnar hält und aushält. Zu Beginn zeigten sich vor allem gravierende Schwierigkeiten in der Beziehungsgestaltung mit den anderen Jugendlichen, auf die er agressiv und offensiv zuging. An gemeinsame methodenorientierte Arbeit war zu Beginn noch nicht zu denken.

Arnar begann früh, über Nacht der therapeutischen Wohngruppe fernzubleiben. Er gab auf diese Weise immer wieder zu erkennen, dass es für ihn vor allem um die Frage ging, ob die Einrichtung und seine BezugsbetreuerInnen ihn wirklich halten und aushalten können. Er kam immer mit einer „Straferwartung“ in die Einrichtung zurück. So war jede einzelne Rückkehr für Arnar potenziell ein Korrektiv. Das feinfühlige Gespräch mit partieller Selbstoffenbarung der BetreuerInnen über die große Sorge um ihn war für ihn zunächst schwer aushaltbar. Er „bekämpfte“ dann genau diese Sorge u. a. mit dem Satz: „Mir doch scheißegal, ob ihr euch Sorgen macht“.

Zu einem wesentlichen gemeinsamen Moment in der Arbeit wurde die Entscheidung zu einem Schulwechsel. Arnars Wunsch, keine Schule besuchen zu wollen, wurde respektiert. Stück für Stück wurde das Thema immer wieder behutsam von seinen BezugsbetreuerInnen eingebracht, bis hin zu einem ausführlichen Gespräch über Arnars bisherige Schulerfahrungen, seine Interessen und Wünsche. In weiteren Gesprächen wurde es möglich, erste traumapädagogische diagnostische und interventive Elemente, z. B. die „Fünf Säulen der Identität“ (in der Vertiefung mit Einbezug des Sozialen Atoms, vgl. Gahleitner 2011), Arnars Interessen entsprechend computergestützt umzusetzen. Die Ergebnisse dieser Gespräche wurden im interdisziplinären Team besprochen und lieferten wertvolle Hinweise für die Therapie wie auch den Alltag.

Der therapeutische Prozess befand sich zu diesem Zeitpunkt in der Stabilisierungsphase und hatte bisher nur wenige biografische Aspekte ermöglicht. Dem Betreuungsteam war etwa zur gleichen Zeit aufgefallen, dass Arnar Fotos von sich und anderen in seinem Zimmer hängen hatte. Als der Therapeut diese Beobachtungen aufgriff, stellte sich heraus, dass es sich um Freunde aus anderen Einrichtungen und Familienmitglieder handelte. Mithilfe dieser Fotos war der Einstieg in eine behutsame biografische Arbeit gefunden.

Auf diese Art und Weise gehalten, gesehen und ernst genommen, konnte im Alltagsgeschehen wie in der Therapie gezielter traumapädagogisch gearbeitet werden. So brachte Arnar nach und nach eigene Wünsche ein, die ihm Selbstwirksamkeitserfahrungen ermöglichten und über „Umwege“ seine Ängste adressierten. Aufgrund seines neuen Zugangs zur Realität traf er langsam mehr und mehr auf Solidaritätserfahrungen mit anderen Jugendlichen. Arnar hatte angefangen, sich seinen sicheren Ort aktiv zu gestalten.

Auf der Basis dieser verschiedenen Vorarbeiten konnte sich Arnar an zentrale Themen wie seine Mutterbeziehung herantasten. Es gelang trotz anfänglichen Widerstands der Mutter auch hier durch ein Halten und Aushalten, Arnars Mutter zu regelmäßigen therapeutischen Gesprächen zu bewegen, die das Verhältnis der beiden zueinander deutlich verbesserten. Nach etwa zwei Jahren nahmen Arnars aggressive und größenwahnähnliche Geschichten ab. Er konnte einen stabilen Platz in der Gruppe einnehmen.

Auch wenn an Traumaexposition nicht zu denken war und eventuell auch nie zu denken sein wird: Der Weg führte von einem fragmentierten, fast beziehungslosen Selbst hin zu einer deutlich besser integrierten, kohäsiven Existenz. Nach etwa dreieinhalb Jahren der Betreuung und mit Blick auf Arnars 18. Geburtstag scheint es heute durchaus realistisch, dass er nach Ende der Jugendhilfe selbständig leben wird. Ob er später im Leben erneut eine Traumatherapie aufsucht, wird seine Entscheidung sein. Er hat jedoch zahlreiche Erfahrungen gemacht, die ihm diesen Weg ebnen.

6 Schluss und Ausblick

Voraussetzung für einen solchen oder ähnlichen begonnenen Bewältigungsprozess ist, dass die Gedanken und Gefühle des Jungen auf die oben beschriebene Weise professionell diagnostiziert, verstanden und angenommen werden (wie z. B. über das Säulenmodell und das Soziale Atom). Diese Überlegungen führen zurück zur Bedeutung von emotional korrigierenden Beziehungserfahrungen (Gahleitner 2020). Auch sie stellen aktive Traumabearbeitung dar (Weiß 2016). Eine traumasensible psychosoziale Herangehensweise bedeutet demnach, den traumabezogenen Inhalten, Erinnerungen und Erfahrungen der Betroffenen, die immer wieder Einfluss auf das gegenwärtige Erleben, Handeln und auf bestehende Beziehungen haben, im Alltag respektvoll, mit Verständnis und der Bereitschaft zu einem feinfühligen und versorgenden Beziehungsangebot zu begegnen, die bisherige (Über‑)Lebensleistung traumatisierter Menschen anzuerkennen und zu schätzen und ihr Verhalten als eine normale Reaktion auf extreme Stressbelastung und sie selbst als ExpertInnen für ihr Leben anzusehen (Hofer-Temmel und Rothdeutsch-Granzer 2015).

Das verlangt von den Fachkräften ein hohes Maß an Traumasachkompetenz und Selbstreflexion sowie die ständige Beachtung ausreichender Selbstfürsorge (vgl. dazu auch die Curricula der DeGPT). Unterstützung bei der Traumabewältigung ist so verstanden Selbstbemächtigung in sozialen Beziehungen (Weiß 2016). Sie ist mehr als Traumaexposition im klassischen therapeutischen Rahmen, die laut Krüger und Reddemann (2007) „nur einen bescheidenen Baustein im Sinne der Heilung, Verarbeitung und Heilung von traumatischen Lebenserfahrungen“ (S. 34) darstellt. Traumabewältigung erfordert auch eine politische, eine gesellschaftliche Bewältigung, wie wir es z. B. in der Beschäftigung mit der Problematik ehemaliger Heimkinder erfahren haben. Bereits Moreno (1957) drückte aus, dass allein die Heilung der soziometrischen Matrix „eine dauernde und wahrhaftige Lösung sozialer Übel“ (Moreno 1991 [1957], S. 28; vgl. auch die fünf Dimensionen einer Szene nach Hutter und Schacht 2014) leisten kann. Zur Bearbeitung dieser gesellschaftlich relevanten Dimensionen hat Moreno als szenisch-darstellerische Methode das Soziodrama, zur Thematisierung der Werte- und Sinnorientierung das Axiodrama entwickelt (Hutter und Schacht 2014). Damit erweist sich das Psychodrama im Unterschied zur „kalten“ als „heiße Soziologie“ (Buer 2017, S. 11).

In den letzten 20 Jahren wurde hierzu viel erreicht. Die Enttabuisierung schwerer Traumata ist fortgeschritten, und es hat eine – zumindest teilweise – Vergesellschaftung und Demokratisierung von notwendigem Wissen dazu stattgefunden. Das zeigen Entwicklungen wie die Einrichtung eines unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs in Deutschland und andernorts. Traumapädagogik macht Mut und Hoffnung, dass das Lebendige über gemeinsames Verstehen und schöpferisches Handeln die Verwundungen in Schichten überwachsen kann. Die aktuellen Konzeptentwicklungen unterstützen Fachkräfte der Sozialen Arbeit und es gibt eine kontinuierliche, empirisch unterstützte Suche nach neuen Methoden und Standards zur Verbesserung dieser Hilfen (vgl. dazu abermals die Entwicklungen in der DeGPT). Dennoch gibt es bezüglich der weiteren Fundierung, empirischen Unterfütterung und konkreten praktischen Ausgestaltung dieser Wissensbestände noch viel zu tun.