1 Die Corona-Krise als psychische Krise

Viele Menschen reagieren auf die aktuelle Corona-Krise mit einer mehr oder weniger großen psychischen Krise. Psychische Belastungsfaktoren sind: 1. Wir Menschen sind bedroht durch eine schwere Krankheit oder durch den Tod. 2. Der drohende Verlust von Bezugspersonen aktualisiert Verlustängste. 3. Kontaktbeschränkungen können das Gefühl von Vereinsamung hervorrufen. 4. Die Kinder werden oft stiller und verschließen sich mehr. Bestehende Verhaltensauffälligkeiten können sich durch die Zuspitzung der emotionalen Anspannung in Familien aber auch verstärken. 5. Wenn die Mutter der Sechsjährigen verbietet, das Pferd zu streicheln, antwortet das Kind altklug: „Ja, ich weiß, wegen Corona!“ 6. Das Virus ist nicht greifbar. Wir leben in zwei verschiedenen Wirklichkeiten. Alles scheint normal zu sein, die Häuser und Geschäfte sind nicht zerstört. Die Menschen, denen wir begegnen, sind gesund. Und doch gelten plötzlich andere Regeln und Gesetze. Die Regierungen verhängen Kontaktbeschränkungen und eine Maskenpflicht, die unseren spontanen Selbstausdruck in Beziehungen blockieren. Vielen Menschen droht der Verlust des Arbeitsplatzes. Fußballspiele und kulturelle Veranstaltungen sind abgesagt oder finden vor nahezu leeren Zuschauertribünen statt. Der Staat investiert Billionen von Euro in die Erneuerung der Wirtschaft, obwohl es vorher immer hieß, für die Abwendung der Klimakrise wäre nicht genug Geld da. 7. Viele Menschen haben plötzlich ein geringeres oder gar kein Einkommen mehr und leiden unter Existenzangst. 8. Die Defizite in der Organisation der Gesellschaft treten wie unter einem Vergrößerungsglas stärker hervor, zum Beispiel das beengte Wohnen von WanderarbeiterInnen oder die schlechte soziale Absicherung von KünstlerInnen. 9. Die Selbststabilisierung durch Aktivitäten mit Freunden, durch Feste und durch Kulturveranstaltungen ist eingeschränkt.

Viele Menschen erleben die gegenwärtige Zeit der Corona-Krise aber auch als Bereicherung. Die Krise führt oft zu einer Entschleunigung im Alltag. Viele berufliche oder private Termine fallen weg. Die Menschen spüren wieder sich selbst und nehmen das Leben um sich herum intensiver wahr. Sie merken ihre Liebe zu ihren Bezugspersonen und allgemein zu den Menschen und zu der Welt. Sie erleben die eigenen Werte tiefer und spüren in allem vielleicht sogar einen tieferen Sinn.

Der Lockdown in der Corona-Krise war potenziell eine traumatisierende Situation und kann es wieder werden. Eine traumatisierende Situation (Krüger 2020, S. 215 f.) ist definiert als eine Situation, in der man 1. nicht kämpfen kann, aus der man 2. aber auch nicht fliehen kann und in der man 3. trotzdem immer weiter einer existenziellen Bedrohung ausgesetzt ist. In der Corona-Krise ist das die Bedrohung durch den Tod, durch Vereinsamung, durch den drohenden Verlust von Bezugspersonen, durch Existenzangst oder durch das Ausgeliefertsein und die Hilflosigkeit als Kranker. Therapeutisch ist es wichtig, gegebenenfalls die traumatisierende Qualität der aktuellen Situation als solche zu würdigen.

Fallbeispiel 1: Eine 84-jährige Patientin, Frau B., lebt in einem Altenheim mit 400 anderen BewohnerInnen. Sie ist dort im Heim-Beirat tätig. Sie fühlt sich zu Beginn des Lockdowns völlig überfordert. Die HeimbewohnerInnen haben fast keine Ansprache von den Pflegekräften. Diese sind selbst überfordert. Einige HeimbewohnerInnen lassen trotz der Kontaktsperre Angehörige durch die Gartenpforte ins Heim. Eine halb demente Frau geht jeden Tag in die Stadt und wundert sich, „dass die Kinos immer noch geschlossen sind“. Nur 40 der 400 Bewohner gehen in dem schönen Garten des Heims noch spazieren. Frau B. klagt: „Die sitzen blass in ihren Zimmern und wissen oft nicht, was geschieht. Wenn sie informiert werden, vergessen sie das wieder.“ Der Lockdown ist für die Menschen in dem Heim seelisch eine Katastrophe.

Der Therapeut fordert Frau B. in der Videotherapie auf, in ihrem Zimmer einen zweiten Stuhl neben sich zu stellen: „Das ist Ihr Angst-Stuhl. Der andere Stuhl, auf dem Sie sitzen, ist der Bewältigungs-Stuhl.“ Er teilt der Patientin mit: „Ich selbst habe in der jetzigen Krise ebenfalls Angst. Ich überlege, was die bedrohlichen Informationen über das Corona-Virus für mich bedeuten. Ich spüre Stress. Wenn ich mich damit zu viel beschäftige, habe ich Albträume und werde innerlich taub.“ Der Therapeut stellt auch neben sich selbst einen zweiten Stuhl: „Dieser andere Stuhl steht da für meine eigene Bewältigung der Angst.“ Er wechselt auf diesen zweiten Stuhl: „Ich habe inzwischen verschiedene Möglichkeiten gefunden, die mir guttun und die mir aus dem Gefühl des Nebels heraushelfen. Ich versuche zum Beispiel, einer alten Tante in Dresden zu helfen. Ich arbeite gern in meinem Garten. Ich skype mit meinen Enkelinnen.“

Der Therapeut stellt im Sinne des psychodramatischen Antwortens (Krüger 2020, S. 195 ff.) einen dritten Stuhl neben sich: „Ich bin Ihnen gegenüber aber nicht nur der begegnende Mensch, sondern auch der fachlich kompetente Therapeut. Dafür steht dieser Stuhl.“ Er setzt sich auf den dritten Stuhl und fragt: „Als fachlich kompetenter Therapeut möchte ich von Ihnen wissen: Welche Möglichkeiten haben Sie gefunden, um sich selbst zu stabilisieren? Was tut Ihnen in dieser Zeit gut? Schreiben Sie diese Handlungen bitte auf ein Blatt Papier auf!“ Der Therapeut erfasst mit der Patientin zusammen die Selbststabilisierungstechniken, die sie selbst schon benutzt. Am Ende stehen auf der Liste: 1. Frau B. arbeitet im Bewohnerbeirat ihres Heimes mit. 2. Sie informiert sich über die Bedrohung durch das Corona-Virus. 3. Sie hilft anderen: „Ich winke jeden Tag um 18 Uhr vom Balkon aus einer Bewohnerin zu, die im Haus gegenüber wohnt. Meine Nachbarin macht das jetzt auch schon mit.“ 4. Frau G. macht einmal täglich Tele-Gymnastik. Sie hat den Zugang dazu über „Tele-Gym“ im Fernsehen gefunden. 5. Frau B. telefoniert jeden Tag mit ihrer Schwester in den USA. Der Therapeut benennt weitere Selbststabilisierungstechniken, die die Patientin schon anwendet oder anwenden könnte: 6. „Sie nehmen bei mir Therapiestunden, die Sie unterstützen und stabilisieren.“ 7. „Sie können in der Not den zweiten Stuhl für Ihr Bewältigungs-Ich neben sich stellen und den Zettel mit Ihren Selbststabilisierungstechniken darauflegen. Lesen Sie sich den Zettel dann durch. Sie werden merken, dass tut Ihnen gut.“

Die 84-jährige Patientin erzählt eine Woche später: „Ich habe mich im Internet über das Grundgesetz informiert unter den Stichwörtern ‚Grundgesetz, körperliche Gesundheit‘. Ich fand darin einen Paragrafen, der das Recht auf körperliche Unversehrtheit beinhaltet. Ich habe daraufhin als Beiratsmitglied die Heimleitung aufgefordert: Sie sollen dieses Verfassungsrecht für die HeimbewohnerInnen garantieren und den Zugang von Angehörigen zum Heim durch die Gartenpforten stoppen. Die Heimleitung hat daraufhin den Code in den Zugangstüren zu den Häusern verändert. Alle BesucherInnen müssen jetzt durch den bewachten Haupteingang kommen und können kontrolliert werden. Das hat mir gutgetan, dass Sie mir auch etwas über Ihre eigenen Ängste erzählt haben!“

2 Krisenintervention und individuelle Selbststabilisierungstechniken

Der oder die TherapeutIn hat in der Krisenintervention die Funktion eines oder einer DoppelgängerIn. Sie oder er hilft den Patienten, persönliche Ängste in der Corona-Krise und Selbststabilisierungstechniken zu erfassen:

  1. 1.

    Der oder die TherapeutIn stellt neben den oder die PatientIn den Stuhl für seine oder ihre Selbstrepräsentanz im Corona-Konflikt und gegenüber davon einen anderen Stuhl für das Corona-Virus. Er oder sie deutet auf den Stuhl neben ihm oder ihr: „Das ist Ihr Angst-Ich, Ihr gestresstes Ich.“

  2. 2.

    Der oder die TherapeutIn fordert den oder die PatientIn auf, die Ängste und Stressfaktoren, die er oder sie zurzeit hat, mit Gegenständen auf dem Angst-Stuhl zu symbolisieren. Das können zum Beispiel sein: 1. finanzielle Existenzangst, 2. die Angst vor dem Verlust der alten Eltern oder von FreundInnen, 3. die Angst, selbst an Corona zu erkranken oder 4. die Angst, die Kontrolle über das eigene Leben zu verlieren.

  3. 3.

    Der oder die TherapeutIn fordert den oder die PatientIn auf, das Ausmaß jeder dieser Ängste auf einer Skala von 0 bis 10 festzulegen.

  4. 4.

    Er oder Sie ersetzt bei einer einzelnen massiven Angst das kleine Symbol durch einen großen Gegenstand, zum Beispiel durch einen Papierkorb. Er oder sie würdigt dadurch die Größe dieser Angst.

  5. 5.

    Der oder die ProtagonistIn wechselt einmal auf den Angststuhl und lässt die schlimmste Angst in sich zu.

  6. 6.

    Er oder sie wechselt wieder zurück in sein Alltags-Ich.

  7. 7.

    Der oder die TherapeutIn fragt: „Wie gehen Sie damit um, wenn Sie ihre schlimmste Angst fühlen? Was tut Ihnen gut? Wie helfen Sie sich, um da herauszukommen?“

  8. 8.

    Der oder die PatientIn schreibt sich die selbst gefundenen Handlungen auf ein Papier auf und legt dieses Papier vor sich auf den Tisch.

  9. 9.

    Der oder die TherapeutIn nennt ihm oder ihr bei Bedarf zusätzliche Selbststabilisierungstechniken.

Selbststabilisierungstechniken sind Handlungen, die helfen, aus der existenziellen Not einer traumatisierenden Situation oder eines Traumafilms herauszukommen. Alles ist erlaubt, was hilft. Der oder die TherapeutIn wertet deshalb auch unauffällige oder scheinbar neurotische Verhaltensweisen radikal positiv um. Der oder die TherapeutIn kann dabei das folgende Verzeichnis von Selbststabilisierungstechniken anwenden. Er oder sie gibt es bei Bedarf auch an PatientInnen weiter:

  1. 1.

    Die Iren benutzten früher in Krisenzeiten den Spruch: „It could be worse“. Wenn wirklich 3 % der Menschen auf der Welt sterben sollten, überleben immer noch 97 %. Die Menschheit als Ganze überlebt also, anders als bei einem Atomkrieg.

  2. 2.

    Machen Sie sich bewusst, dass die Bedrohung durch eine Corvid-19-Infektion wahrscheinlich in ein oder zwei Jahren vorbei sein wird. Denn dann gibt es vermutlich eine Impfung, die vor einer Infektion schützt.

  3. 3.

    Machen Sie schriftlich ein Verzeichnis von den Handlungen im Alltag, die Ihnen guttun. Nummerieren Sie diese der Reihe nach. Nehmen Sie dabei auch kleine Dinge in die Liste auf. Ergänzen Sie die Liste immer wieder.

  4. 4.

    Stoppen Sie die Aufnahme von Informationen über die Corona-Krise, wenn Sie merken, dass Sie innerlich in einen Nebel tauchen. Ein Übermaß an Informationen löst negativen Stress aus. Sie handeln dann selbstverletzend.

  5. 5.

    Reden Sie mit anderen über Ihr Erleben in der Krise. Bei einem ICE-Unglück gibt es in Deutschland Kriseninterventionsteams. Die HelferInnen lassen sich die Geschichten der einzelnen Betroffenen wieder und wieder erzählen. Das Erzählen aktiviert die Konfliktverarbeitung und hilft, keine Traumafolgestörung zu entwickeln. Wenn Sie sich mit jemand austauschen, kann geteiltes Leid zu halbem Leid werden.

  6. 6.

    Nehmen Sie wieder Beziehung auf zu alten Freundinnen oder Freunden, die Sie sonst nur zu Weihnachten oder zum Geburtstag sprechen. Zum Beispiel per Brief oder per Internet.

  7. 7.

    Richten Sie sich die Möglichkeit ein, über Skype mit anderen Menschen zu kommunizieren. Ich selbst habe damit in der Corona-Krise neu angefangen. Ich selbst skype jetzt mit meinen zwei jugendlichen Enkelinnen etwa 14-tägig zu dem Thema: „Fragen zu Gott und der Welt.“

  8. 8.

    Wenn es Ihnen seelisch schlecht geht, machen Sie die folgende Selbststabilisierungsübung (Christine Rost 2013, mündliche Mitteilung): Strecken Sie hier und jetzt ausgiebig Ihre Glieder und verändern Sie Ihre Atmung. Korrigieren Sie aktiv Ihre Körperhaltung hin zu einer Haltung, die Sie aus Situationen des Wohlgefühls, der Freude oder des sportlich lustvollen Wettkampfes kennen. Das sensomotorische Handeln bei dieser Übung hilft Ihnen eventuell, in Ihr gesundes Alltags-Ich zurückzukehren.

  9. 9.

    Lenken Sie sich ab mit dem Hobby, das sie am liebsten mögen. Ich selbst gehe oft in unseren großen Garten. Ich ziehe Unkraut und fühle dabei die Erde an den Fingern. Aber auch das Sehen von Unterhaltungsfilmen im Fernsehen hilft. ARD und ZDF haben eine große Mediathek, aus denen man Filme auswählen kann. Es gibt da wunderbare neue Märchenfilme, zum Beispiel „Die Prinzessin auf der Erbse“. Lesen Sie Bücher, bei denen Sie innerlich in eine andere Welt eintauchen.

  10. 10.

    Treiben Sie leichten Sport. Gehen sie spazieren, fahren Sie Fahrrad oder joggen Sie. Oder machen Sie zu Hause Turnübungen. Suchen Sie sich online über „Tele-Gym“ ein passendes Angebot aus. In der Traumatherapie ist Sport eine bekannte Methode zur psychischen Selbststabilisierung.

  11. 11.

    Meditieren Sie täglich 30 Minuten oder machen Sie meditative Übungen. Machen Sie Yoga. Gehen Sie meditativ durch Ihren Garten. Nehmen Sie Ihre Gefühle in der Natur, im Wald oder am Fluss achtsam wahr.

  12. 12.

    Helfen Sie ein oder zwei anderen Menschen, zum Beispiel alten Menschen, die einsam und isoliert leben. Bieten Sie ihnen an, für sie bei Bedarf einzukaufen. Oder telefonieren Sie mit ihnen einmal in der Woche. Das Ausleben von Mitgefühl und das Helfen tut nicht nur dem anderen gut, sondern auch Ihnen selbst. Es fördert in Ihrem Gehirn die Ausschüttung von Dopamin und verbessert dadurch Ihre eigene Verarbeitung des negativen Stresses.

  13. 13.

    Schreiben Sie alle Ihre eigenen positiven Eigenschaften und Fähigkeiten untereinander auf ein Blatt Papier. Lesen Sie dieses Verzeichnis immer wieder einmal durch.

  14. 14.

    Finden Sie in der aktuellen Corona-Krise eventuell wieder Anschluss an frühere spirituelle Erfahrungen.

  15. 15.

    Seien Sie kreativ. Finden Sie in alten Situationen neue Lösungen.

  16. 16.

    Wenn es Ihnen in dieser Zeit gerade wieder schlecht geht, stellen Sie neben sich einen zweiten Stuhl für Ihr „Angst-Ich“. Der Stuhl, auf dem Sie gerade sitzen, repräsentiert dann Ihr gesundes Alltags-Ich. Setzen Sie sich auf den Stuhl Ihres Angst-Ichs. Legen Sie Ihre Liste der Selbststabilisierungstechniken auf den anderen Stuhl Ihres Alltags-Ichs. Lesen Sie sich Ihre vielen Möglichkeiten der Selbststabilisierung auf Ihrem Zettel durch. Sie werden merken, Ihr Gefühl von Ohnmacht, Hilflosigkeit und Vergeblichkeit wird geringer.

Eine traumatisierende Situation lähmt die eigene innere Konfliktverarbeitung und die äußere Handlungsfähigkeit. Das führt reaktiv leicht zu Selbstzweifeln. PatientInnen können ihre innere Konfliktverarbeitung bei Bedarf mithilfe der Technik des Bewältigungsmärchens (Krüger 2020, S. 288 ff.) aus der Blockade befreien.

Übung 1: Ein Bewältigungsmärchen besteht aus einer Leidensgeschichte, der märchenhafter Umwandlung und der Erfüllung der eigentlichen Sehnsucht. Schreiben Sie Ihr eigentliches Leiden in der Corona-Krise handlungsnah in der 3. Person auf. Legen Sie dann fest, wonach die Birgit oder der Ulrich sich in dieser Leidenssituation am meisten sehnt: „Was würden Sie stattdessen brauchen? Wie sähe es aus, wenn das geschieht?“ Schreiben Sie handlungsnah auf, wie sich Ihre Sehnsucht erfüllt. Denken Sie sich als letztes den Zwischenteil des Märchens aus, die Phase der märchenhaften Umwandlung.

Die Technik des Bewältigungsmärchens ist komplex. Sie ist eine Methode der Traumaverarbeitung. Der Patient spürt beim Schreiben seine Selbstwirksamkeit. Er hilft sich selbst in der Imagination wie eine gute Mutter oder ein guter Vater aus der Krise heraus. Er entwickelt Selbstempathie für sich in der Krise. Das Märchen ist zwar ein Märchen und also eine Utopie. Es ist als konkrete Utopie aber ein Kompass, der dem Patienten zeigt, was er eigentlich braucht. Seine Selbstaktualisierung kommt wieder in Gang.

Übung 2: Auch Sie als Leserin oder Leser achten in der aktuellen Corona-Krise wahrscheinlich mehr oder weniger bewusst auf Ihr seelisches Gleichgewicht. Vielleicht kommen Sie aber doch einmal in Not oder sind sehr gestresst. Stellen Sie dann einen zweiten Stuhl neben sich für Ihr Angst-Ich. Befreien Sie sich aus der inneren Lähmung, indem Sie Ihre verschiedenen Ängste darauf mit Gegenständen symbolisieren. Sie geben auf diese Weise den eigenen Ängsten Berechtigung und distanzieren sich gleichzeitig von ihnen. Sie merken wieder, dass Ihnen zu anderen Zeiten die eigenen Kompetenzen voll zur Verfügung stehen.

3 Die verschiedenen Ängste und ihre Behandlung

Die Corona-Krise aktualisiert in der Seele der Menschen neben neuen Ängsten auch alte Konflikte und Abwehrformen. Die gegenwärtige Krise macht allgemein sensibler für Konflikte. Der oder die TherapeutIn sollte deshalb bei Bedarf den persönlichen Umgang des oder der KlientIn mit sich selbst in der gegenwärtigen Corona-Krise ansprechen und erkunden. Der oder die TherapeutIn erfasst dabei zunächst die verschiedenen individuellen Ängste der PatientInnen. Denn die Art der individuellen Ängste der PatientInnen bestimmt das weitere therapeutische Vorgehen (Krüger 2020, S. 315 ff.). Der oder die TherapeutIn unterscheidet bei den einzelnen Ängsten der PatientInnen, ob es sich 1. um eine potenziell traumatisierende Situation handelt (siehe Kap. 1), 2. um eine Realangst, 3. um eine übertriebene Angst, 4. um einen drohenden Identitätsverlust oder 5. um eine drohende Retraumatisierung durch die aktuelle Krise.

Real begründete Ängste kann man nur vermindern, indem man real etwas gegen die Angst tut. Es tut der Seele gut, durch äußeres Handeln real die Bedrohung zu vermindern. Angemessene Selbstschutzhandlungen in der Corona-Krise sind: 1. Der oder die Betroffene informiert sich über das Corona-Virus und die Corona-Krise in den Fernsehnachrichten, im Radio, in der Zeitung und im persönlichen Gespräch. Er oder sie hört z. B. das inzwischen preisgekrönte „Corona-Update im Radiosender NDR-Info“ an oder lädt sich dieses aus der Mediathek herunter. Der Virologe Prof. Drosten beantwortet darin die Fragen einer Wissenschafts-Journalistin. 2. Der oder die Einzelne hält sich in der jetzigen Corona-Krise in der Begegnung mit anderen Menschen an die Abstandsregeln und trägt eine Mund-Nasen-Maske. 3. Er oder sie lädt sich die Corona-App herunter, die ihn bzw. sie möglicherweise warnt, dass er oder sie Kontakt mit einem oder einer Infizierten hatte.

Wichtige Informationen über die Corona-Pandemie sind:

  1. 1.

    Wir und unsere Bezugspersonen sind individuell gefährdet, schwer zu erkranken oder sogar zu sterben, je älter man ist, desto mehr.

  2. 2.

    Die Infektionsgefahr ist nach Prof. Drosten (NDR-Info, Corona-Podcast) in geschlossenen Räumen ohne Durchzug von Luft bei engem Kontakt mit vielen Menschen neunzehn Mal größer als draußen im Freien.

  3. 3.

    Solange unser Gesundheitssystem gut funktioniert, werden in Deutschland innerhalb der nächsten zwei Jahre ungefähr 0,3–0,5 % der Bevölkerung direkt oder indirekt durch das Virus sterben. Das sind zusätzlich 100.000 bis 200.000 Personen über das normale Maß von ca. 750.000 Toten im Jahr hinaus. Bei einem totalen Zusammenbruch des Gesundheitssystems würden aber zusätzlich ungefähr 3 % oder 1–2 Mio. Menschen sterben. Diese Zahlen schließen die sogenannte „Übersterblichkeit“ mit ein. Das sind die nicht erfassten Corona-Toten und die Menschen, die in der Zeit der Corona-Krise an anderen Krankheiten sterben, weil sie nicht oder zu spät zum Arzt oder ins Krankenhaus gehen.

  4. 4.

    Die Gefahr einer Infektion durch das Covid-19-Virus wird vermutlich in einem Jahr vorüber sein, weil wir uns dann gegen das Virus impfen lassen können.

Übertriebene Ängste setzen sich zusammen aus einer Realangst und einer neurotischen Angst. Der oder die PatientIn soll gegen den real berechtigten Anteil seiner/ihrer Ängste real etwas tun. Die Corona-Krise kann aber auch alte schmerzhafte Erfahrungen aus der Kindheit aktualisieren, zum Beispiel den Verlust einer nahen Bezugsperson, die frühere Hilflosigkeit angesichts des Chaos in der Familie, eine alte Existenzangst oder alte Minderwertigkeitsgefühle. Der oder die TherapeutIn behandelt in einem solchen Fall auch den neurotischen oder traumatischen Anteil an der übertriebenen Angst: Er oder sie lässt den oder die PatientIn mit dem psychodramatischen Dialog eine nicht vollendete Trauerarbeit aus der Kindheit nachholen. 2. Er oder sie macht einen drohenden Identitätsverlust kenntlich. Er oder sie symbolisiert zum Beispiel mit einem zusätzlichen Stuhl den Beruf des oder der PatientIn, der zurzeit nicht ausgeübt werden kann, oder die verlorene Arbeitsstelle. Oder er oder sie repräsentiert neben ihm oder ihr mit einem Stuhl einen alten individuellen Kompensationsmechanismus, den Abenteurer oder den Arbeitssüchtigen. Der oder die PatientIn kann sich von diesem Teil der eigenen Identität in einem psychodramatischen Dialog verabschieden. Im Psychodrama nennen wir einen solchen Identitätsanteil eine „Rolle im kulturellen Atom“.

Wir Menschen entwickeln durch den Widerspruch zwischen der Alltags-Wirklichkeit und der Corona-Wirklichkeit (siehe Kap. 1) eine mehr oder weniger starke Ich-Konfusion zwischen Alltags-Ich und Angst Ich. Wir sollten beide Wirklichkeiten ernst nehmen, um unser Leben zu bewältigen. Die durch den Corona-Virus entstandenen Bedrohungen und Ängste lassen sich nur durch reale Schutzmaßnahmen reduzieren. Aber auch das Alltags-Ich will gelebt sein, sonst werden wir psychisch krank. Wir Menschen entwickeln in der Corona-Krise idealerweise die Fähigkeit, zwischen dem Alltags-Ich und dem Angst-Ich frei hin und her zu wechseln. Wir vollziehen dabei eine Ich-Spaltung im Dienste unseres Ichs (siehe Kap. 4). Manche Menschen haben damit Mühe. Sie sind durch Traumata oder Defiziterlebnisse in der Kindheit in einen starren Selbstschutz durch Anpassung oder Grandiosität fixiert. Die starre Abwehr hilft ihnen, negative Gefühle von Ausgeliefertsein, Minderwertigkeit oder Ohnmacht abzuspalten und auf diese Weise nicht in ihren Traumafilm aus der Kindheit abzugleiten. Sie geben ihrem Kindheitstrauma auf diese Weise keine Bedeutung. In der Corona-Krise verstärkt sich dieser starre Selbstschutz gegen negative Gefühle.

Fallbeispiel 2: Frau F. meint in ihrer Einzeltherapie: „Ich habe jetzt in der Corona-Krise keine Angst.“ Sie ist stark christlich orientiert und glaubt: „Das Leben auf der Erde ist Leiden, das eigentliche Leben kommt erst nach dem Tod. Gott hilft uns. Deshalb kann mich die Krise nicht erschrecken. Ich bete viel.“ Das Gläubigsein hilft ihr in schwierigen Situationen, nicht in ihren alten Traumafilm aus der Kindheit wegzurutschen. Es dient ihr als Selbstschutz gegen eigene negative Gefühle von Verlorensein. Es öffnet ihr auch den Zugang zu eigenen spirituellen Erfahrungen.

Andere Menschen aber werden durch die Bedrohungen in der Corona-Krise direkt in ihren Traumafilm hineingezogen und entwickeln masochistische Tendenzen. Sie erleben die gegenwärtige Situation dann so, als ob ihr Kindheitstrauma jetzt in der Gegenwart geschehen würde.

Fallbeispiel 3: Frau L. äußert in der Einzeltherapie: „Ich denke jetzt in der Corona-Krise manchmal daran, mir das Leben zu nehmen.“ Sie befürchtet, dass durch die Corona-Krise und die wirtschaftlichen Folgen die staatliche Ordnung in Deutschland zusammenbrechen wird: „Es kommt dann zu Gewalt. Man ist nirgends mehr sicher. Überall sind Hunger und Chaos. Banditen überfallen uns in unserem Haus.“ Die masochistischen Katastrophenfantasien von Frau L. schützen sie davor, in der Zukunft irgendwann unvorbereitet wieder in eine Chaossituation zu kommen, in der sie sich ohnmächtig und ausgeliefert fühlt. Sie hatte als Kind in ihrer Familie real mehrere Katastrophen erlebt. In ihrer Familie wurde aber über Ängste und Gefühle nie gesprochen. Jeder hatte gut zu funktionieren und nach außen nicht aufzufallen. Frau L. hatte also nie lernen können, mit negativen Gefühlen angemessen umzugehen.

4 Theorie der Krisenintervention in einer potenziell traumatisierenden Corona-Krise

Die gegenwärtige Corona-Krise ist für unsere PatientInnen und KlientInnen und ebenso für uns TherapeutInnen und BeraterInnen eine Chaossituation. Wir Menschen entwickeln eine mehr oder weniger große Ich-Konfusion zwischen unserem Alltags-Ich und unserem Angst-Ich. In dieser Situation ist es wichtig, die Fähigkeit zur Ich-Spaltung zwischen dem Alltags-Ich und dem Angst-Ich zu entwickeln. Das Ziel der Therapie oder Beratung ist also nicht, dass die PatientInnen keine negativen Gefühle mehr haben.

Übung 3: Erzählen Sie einmal einer Freundin oder einem Freund fünf Minuten lang von Ihren Ängsten in der Corona-Krise. Fangen Sie dann das Gespräch noch einmal von vorn an und stellen Sie dabei aber einen zweiten Stuhl neben sich auf für Ihr Angst-Ich. Legen Sie auf diesen zweiten Stuhl Symbole für Ihre einzelnen Ängste. Was ist der Unterschied in Ihrem Erleben ohne und mit dem zweiten Stuhl?

Sie werden merken, in der Version mit dem Angst-Stuhl neben sich fühlen Sie sich frei von Ihren Ängsten. Denn die liegen ja neben Ihnen auf dem anderen Stuhl. Sie geben Ihren Ängsten innerlich aber doch auch Berechtigung. Wenn Sie von der Rolle Ihres Alltags-Ichs in die Rolle Ihres Angst-Ichs wechseln und wieder zurück, aktivieren Sie in jedem der beiden Ich-Zustände getrennt von dem anderen die zugehörigen Denk‑, Fühl- und Handlungsmuster. Sie lernen dadurch, psychosomatisch zwischen den beiden Ich-Zuständen zu unterscheiden. Dieses störungsspezifische psychodramatische Vorgehen ist scheinbar ganz einfach, aber therapeutisch sehr wirksam. Es hebt die metakognitive Störung der Ich-Konfusion auf, indem es den unbewussten Wechsel zwischen dem Angst-Ich und dem gesunden Alltags-Ich mithilfe der Zwei-Stühle-Technik im Als-ob-Modus des Spiels nachvollzieht.