„Die Vorstellung, wir wüssten genau,
was das Gehirn ist und was es tut, ist pure Torheit.
Andererseits wissen wir aber jedes Jahr mehr als im Jahr zuvor.“
Damasio (2010, S. 277)
Zusammenfassung
Die psychodramatische Vorgehensweise hat erheblich Auswirkungen auf die Informationsverarbeitungsvorgänge des Gehirns, indem sie die Denkvorgänge im Gehirn, die auf internalen Simulationen im Kortex beruhen, durch eine externale Simulation auf der Bühne anreichern. Auf diese Weise wird ein größerer Realitätsbezug hergestellt, denn die im Rollenspiel entstehenden externalen sensorischen Signale durchlaufen im Unterschied zu den rein internalen Vorgängen evolutionär früh entstandene Hirnstrukturen (Stammhirn, Amygdala etc.), welche für die unbewusst ablaufende emotionale Bewertung dieser Signale (Neurozeption) zuständig sind. Umgekehrt erhalten auch die mit Denkprozessen stets verbundenen, normalerweise aber gehemmten efferenten Impulse mit der Bühne eine Möglichkeit, sie in reales Probehandeln umzusetzen.
Abstract
The psychodramatic modus operandi has significant effects on the information processing operations of the brain. It enriches the thinking process in the brain, which is based on internal simulations in the cortex, with an external simulation on the psychodramatic stage. This increases the relation to reality, as these external sensoric signals emerging from role-playing—in contrast to those purely internal neuronal processes—have to pass evolutionarily older brain structures (brainstem, amygdala, etc.), which are in charge for the unconsciously emotional evaluation of these signals (neuroception). Contrariwise the psychodramatic stage provides the efferent neuronal impulses inherently connected to thinking processes—which are usually inhibited—with the option to be explored by real trial action.
Notes
http://de.wikipedia.org/wiki/Brechzentrum – Abruf vom 1.5.2012.
„Im Gehirn werden dreierlei Karten zusammengeführt: erstens Karten einer bestimmten Sinneswahrnehmung, die vom jeweiligen Sinnesorgan erzeugt wurden, d. h. von einem Anblick, Geräusch, Geruch und so weiter, zweitens, Karten der Aktivität im sensorischen Portal, in dem das Sinnesorgan eingebettet ist, und drittens Karten der emotional-gefühlsmäßigen Reaktionen auf die Karten, die bei 1) und 2) erzeugt wurden.“ (Damasio 2010, S. 275).
Kürzlich populär gemacht durch die amerikanische Fernsehserie „Lie To Me“.
„Emotionen sind komplexe, größtenteils automatisch ablaufende, von der Evolution gestaltete Programme von Handlungen. Ergänzt werden diese Handlungen durch ein kognitives Programm, zu dem bestimmte Gedanken und Kognitionsformen gehören; die Welt der Emotionen besteht aber vorwiegend aus Vorgängen, die in unserem Körper ablaufen, von Gesichtsausdruck und Körperhaltung bis zu Veränderungen in inneren Organen und innerem Milieu.“ (Damasio 2010, S. 122).
Auch die deutliche Gefahr von Prozessen der Retraumatisierung gehört hierzu. Die psychodramatische Arbeit in solchen Fällen erfordert ein besonders sorgfältig-schützendes Arbeiten.
Hierfür sind in hohem Maße Aktivitäten des Vagusnervs (10. Hirnnerv) zuständig, welcher u. a. auch Mimik, Sprachmodulation, differenziertes Hören, Augenmotorik etc. steuern.
Literatur
Damasio, A. (2010). Selbst ist der Mensch. Körper, Geist und die Entstehung des menschlichen Bewusstseins. München: Siedler.
Damasio, A. (1994). Descartes Irrtum. Fühlen, Denken und das menschliche Gehirn. München: List.
Ekman, P. (2004). Gefühle lesen. Wie Sie Emotionen erkennen und richtig interpretieren. München: Elsevier.
Frohn, E. (2010). Tisch-Inszenierungen aus dem Ressourcenkoffer. Szenisches Arbeiten mit Objekten in Therapie, Beratung und Supervision/Coaching. Familiendynamik, 35(3), 220–229.
Geissler, J., & Klein, U. (1999). Nur einfache Darstellung kann Komplexität vermitteln – und sie erhalten. Darstellungsmedien in der Organisationsentwicklung. Zeitschrift für Organisationsentwicklung, 18(3), 42–50.
Klein, U. (2010). Das Spiel mit der Komplexität. Zu den systemischen Grundlagen szenischer Arbeitsformen. Familiendynamik, 35(3), 196–209.
Porges, S. W. (2010). Die Polyvagal-Theorie. Neurophysiologische Grundlagen der Therapie. Emotionen, Bindung, Kommunikation und ihre Entstehung. Paderborn: Junfermann.
Simon, F. B. (2006). Einführung in Systemtheorie und Konstruktivismus. Heidelberg: Carl-Auer-Systeme.
Singer, W. (2011). Das Gehirn – ein komplexes, sich selbst organisierendes System. In: G. Schiepek (Hrsg.). Neurobiologie der Psychotherapie (2. Aufl., S. 133–141). Stuttgart: Schattauer.
Storch, M. (2003). Das Geheimnis kluger Entscheidungen. Von somatischen Markern, Bauchgefühl und Überzeugungskraft. Zürich: Pendo.
Author information
Authors and Affiliations
Corresponding author
Rights and permissions
About this article
Cite this article
Klein, U. Die Neurophysiologie der Bühne. Z Psychodrama Soziometr 11, 207–215 (2012). https://doi.org/10.1007/s11620-012-0147-8
Published:
Issue Date:
DOI: https://doi.org/10.1007/s11620-012-0147-8