1 Einleitung

Schulen bilden soziale Kontexte. Insbesondere durch die leistungsbasierte Zuweisung von Schüler:innen zu unterschiedlichen Schulformen (Tracking) werden differenzielle Lernmilieus geschaffen (vgl. z. B. Gamoran 1986; Gamoran und Mare 1989; Pallas et al. 1994), die mit schulformbezogenen Unterschieden in Curricula, Bildungsabschlüssen und auch unterschiedlichen Ausbildungs- und Arbeitsmarktchancen einhergehen. Für die Lernenden bieten differenzielle Lernmilieus zahlreiche Möglichkeiten für Vergleichs- und Identifikationsprozesse, die sich auf die Entwicklung ihrer Kompetenzen und Selbsteinschätzungen auswirken können. Die Wirkmechanismen von Schulen als soziale Kontexte auf die akademischen, arbeitsmarktlichen und motivationalen Selbsteinschätzungen der Schüler:innen sind somit komplex (vgl. z. B. Dumont et al. 2013; Lucas 1999; Marsh und O’Mara 2008). Im bildungspolitischen Diskurs zu Tracking werden für Schüler:innen an nicht-gymnasialen Schulformen häufig positive Referenzgruppeneffekte betont, d. h. der selbstbildschützende Einfluss, der durch das Lernen in einer weniger leistungsstarken Lerngruppe zustande kommt (vgl. z. B. Baumert et al. 2006; Köller 2004; Seaton et al. 2009). Negative Referenzgruppeneffekte erhalten jedoch deutlich weniger Aufmerksamkeit (vgl. z. B. Becker et al. 2012; Dumont et al. 2013; Solga und Wagner 2016). Unter negativen Referenzgruppeneffekten versteht man den selbstbildschädigenden Einfluss der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Lerngruppe. Dieser kann nicht nur durch das Lernen in einer leistungsstärkeren Lerngruppe entstehen, sondern auch von anderen Faktoren verursacht sein, z. B. von einem niedrigen Prestige der besuchten Schulform oder einem niedrigen Bildungsabschluss.

Die Arbeit von Dumont et al. (2017) ist die bislang einzige, die sich den positiven und negativen Referenzgruppeneffekten und gleichzeitig der Bedeutung des Schulabschlusses auf akademische, arbeitsmarktliche und motivationale Selbsteinschätzungen widmet. Dumont et al. (2017) nutzten Daten der BERLIN-Studie von Schüler:innen der Klasse 9 an nicht-gymnasialen Schulformen in Berlin, um zu analysieren, wie sich das mittlere Leistungsniveau der Schule, die besuchte Schulform und der erreichte Bildungsabschluss auf das akademische Selbstkonzept, die berufsbezogenen Selbsteinschätzungen und die Schulverweigerung auswirken. Da der Einfluss des Schulabschlusses auf diese Merkmale bislang nur in der Arbeit von Dumont et al. (2017) untersucht wurde und die dabei genutzte Stichprobe lediglich Schüler:innen eines Bundeslandes umfasst, untersucht die vorliegende Arbeit die Robustheit und Generalisierbarkeit dieser Befunde auf Basis der für Deutschland repräsentativen Daten der National Educational Panel Study (NEPS; Startkohorte SC 3). Es handelt sich bei der vorliegenden Studie um eine konzeptuelle Replikation der Studie von Dumont et al. (2017), da sie zwar die gleiche Fragestellung untersucht, methodisch aber in mehreren Punkten von der Originalstudie abweicht (z. B. bzgl. Stichprobe, Testinstrumente und Datenauswertung; vgl. Rost und Bienefeld 2019). Tab. 1 gibt einen Überblick über die Gemeinsamkeiten und Unterschiede im methodischen Vorgehen.

Tab. 1 Übersicht über die Gemeinsamkeiten und Unterschiede im methodischen Vorgehen zwischen der Studie von Dumont et al. (2017) und der vorliegenden Studie

Ähnlich wie Dumont et al. (2017) untersuchen wir in der vorliegenden Studie, inwiefern der antizipierte Schulabschluss am Ende der Pflichtschulzeit – zusätzlich zu Kontrast- und Assimilationseffekten – auf akademische, arbeitsmarktliche und motivationale Selbsteinschätzungen von Schüler:innen an nicht-gymnasialen Schulformen wirkt. Die genauen Konstrukte wurden gegeben den verfügbaren NEPS-Daten so gewählt, dass sie den in der Studie von Dumont et al. (2017) untersuchten Variablen am nächsten kommen. Als abhängige Variablen untersuchen wir deshalb das domänenspezifische und allgemein schulische Selbstkonzept, die Einschätzung eigener Ausbildungschancen, sowie die leistungs- und berufsbezogene Lernmotivation. Als domänenspezifisches Selbstkonzept wird die fachbezogene Kompetenzüberzeugung bezeichnet, während das allgemeine schulische Selbstkonzept die Gesamtheit der akademischen Kompetenzüberzeugungen umfasst (vgl. Rost et al. 2018). Die leistungs- und berufsbezogene Lernmotivation beschreibt die Bereitschaft Lernhandlungen durchzuführen, um zukünftig entweder in Leistungssituationen gut abzuschneiden oder den beruflichen Erfolg zu sichern bzw. spezifische berufsbezogene Ziele zu erreichen (vgl. Wirtz 2019). Diese Merkmale gelten als wichtige Einflussfaktoren des schulischen und beruflichen Erfolgs. Der Fokus liegt dabei auf Schüler:innen an nicht-gymnasialen Schulformen, von denen die meisten am Ende der Sekundarstufe I in Klasse 9 oder 10 ihre Schullaufbahn beenden, um mit einem Hauptschulabschluss (HSA) oder einem mittleren Schulabschluss (MSA) in das duale Ausbildungssystem, die vollzeitschulische Berufsausbildung der Sekundarstufe II oder den Arbeitsmarkt überzugehen. Dabei ist die Entscheidung für einen HSA oder MSA nicht an die besuchte Schulform gebunden. Schüler:innen an Realschulen (RS), Gesamtschulen (GS) und Schulen mit mehreren Bildungsgängen (SmmBg) können auch den HSA, und Hauptschüler:innen mit gutem HSA später den MSA an z. B. der Hauptschule (HS) erwerben. Zum Ende der Pflichtschulzeit könnte der antizipierte Schulabschluss für die motivationale Entwicklung der Schüler:innen von besonders starker Bedeutung sein, da die Schüler:innen an nicht-gymnasialen Schulen hier entscheiden müssen, welcher beruflichen Tätigkeit sie zukünftig nachgehen wollen. Der schulische Kontext sollte in diesem Prozess der Selbstfindung Einfluss auf die eigenen akademischen, arbeitsmarktlichen und motivationalen Selbsteinschätzungen nehmen. Eine wichtige Frage unserer Arbeit betrifft damit in Erweiterung zu Dumont et al. (2017) auch die zeitliche bzw. kontextuelle Variabilität von Referenzgruppeneffekten: Fallen Effekte der Schulform, der Klassenkomposition und des antizipierten Schulabschlusses gegen Ende der Sekundarstufe I in Klasse 9 anders aus als zu Beginn der Sekundarstufe I in Klasse 5?

1.1 Theoretische Überlegungen und Empirische Befunde

In der Sekundarstufe I und II werden zwei Arten des Tracking unterschieden: Beim externen Tracking erfolgt die leistungsbasierte Zuordnung zu unterschiedlichen Schulformen, sodass starke (mittlere) Leistungsunterschiede zwischen Schulen unterschiedlicher Schulformen, aber innerhalb der Schulformen möglichst leistungshomogene Lerngruppen entstehen. Beim internen Tracking erfolgt die leistungsbedingte Zuordnung der Schüler:innen innerhalb derselben Schule, um möglichst leistungshomogene Lerngruppen in Zweigen oder Kursen zu bilden (vgl. Becker et al. 2017). Im Vergleich zum externen Tracking entstehen so deutlich geringere (mittlere) Leistungsunterschiede zwischen Schulen, aber deutliche (mittlere) Leistungsunterschiede zwischen verschiedenen Schulzweigen oder Kursniveaus innerhalb derselben Schule.

1.1.1 Effekte des Trackings über soziale Vergleichs- und Identifikationsprozesse

In beiden Arten des Trackings werden differenzielle Lernmilieus geschaffen, in denen die Schüler:innen unterschiedlich lernen und sozialisiert werden. Die gebildeten Lerngruppen (Schulformen, Zweige, Kurse oder Klassen) stellen außerdem soziale Kontexte dar, die den Schüler:innen als Referenzgruppe dienen. So ließe sich ein Gesamteffekt bzw. Bruttoeffekt der besuchten Schulform begründen, der durch unterschiedliche soziale Vergleichsmechanismen entsteht und den es über mehrebenenanalytische Methoden auszudifferenzieren gilt. Mit dem Begriff „Bruttoeffekt“ meinen wir den Effekt, den die besuchte Schulform insgesamt auf die abhängigen Variablen nimmt (ohne dass erklärende Faktoren wie z. B. die mittlere Klassenleistung berücksichtigt werden). Das referenzgruppentheoretische Modell nach Marsh (1991) unterscheidet mit Blick auf die Wirkung von Tracking zwei soziale Vergleichsmechanismen: Kontrast- und Assimilationseffekte.

Im Rahmen von Kontrasteffekten (vgl. Marsh et al. 1995, 2000) vergleichen Schüler:innen ihre eigenen Kompetenzen mit denen ihrer Mitschüler:innen, um ihr Leistungsniveau zu evaluieren. Ein bekanntes Beispiel für einen Kontrasteffekt ist der Big-Fish-Little-Pond-Effekt (BFLPE), der nach Marsh (1987) beschreibt, inwiefern sich das akademische Selbstkonzept nicht nur unter Bewertung der eigenen Fähigkeiten entwickelt, sondern auch über den Prozess des sozialen Vergleichs vom Fähigkeitsniveau der Mitschüler:innen, d. h. von der mittleren Klassenleistung, beeinflusst wird (vgl. Marsh et al. 1995; Marsh und Parker 1984). Der Theorie des BFLPE folgend, schätzt im Vergleich zweier gleich leistungsstarker Schülerinnen Anna und Berta, Anna in einer eher leistungsstarken Klasse als kleiner Fisch im großen Teich mit Leistungen unterhalb des Klassenmittelwerts ihre akademischen Fähigkeiten schlechter ein als Berta, die in einer eher leistungsschwachen Klasse als großer Fisch im kleinen Teich mit Leistungen oberhalb des Klassenmittelwerts ihre akademischen Fähigkeiten besser bewertetFootnote 1. Der Klassenmittelwert wird bei der Analyse des BFLPE als Referenzmaßstab herangezogen. Der BFLPE ist vielfach repliziert worden und zwar nicht nur für das akademische Selbstkonzept in zahlreichen Domänen (vgl. Fang et al. 2018), sondern auch für andere Selbsteinschätzungen (vgl. z. B. Mathematikinteresse: Köller et al. 2006; Trautwein et al. 2006; Selbstwertgefühl: Suk Wai Wong und Watkins 2001). Der BFLPE wurde auch für die schulische und berufliche Aspiration untersucht (vgl. Marsh und O’Mara 2010; Nagengast und Marsh 2012). Bei gleichem Leistungsniveau zeigten Schüler:innen eine geringere berufliche Aspiration in leistungsstärkeren als in leistungsschwächeren Lerngruppen. Zudem konnte der BFLPE auch für unterschiedliche Altersgruppen repliziert werden (vgl. Fang et al. 2018).

Im Rahmen von Assimilationseffekten (vgl. Marsh 1991; Marsh et al. 1995, 2000) stellen die Lerngruppen, die durch Tracking entstehen, Identifikationsräume dar, denen sich Schüler:innen zugehörig fühlen und die sie nutzen, um sich gegenüber anderen Gruppen abzugrenzen. Dabei wird der positive Assimilationseffekt bei Zugehörigkeit zu einer leistungsstarken Lerngruppe als Basking-In-Reflected-Glory-Effekt (BIRGE) bezeichnet. Der BIRGE impliziert, dass sich Schüler:innen Merkmale ihrer Lerngruppe zuschreiben, auch wenn diese nicht ihrer eigenen Merkmalsausprägung entsprechen. Gleiches gilt auch für Fremdzuschreibungen. Leistungsschwächere Schüler:innen in leistungsstärkeren Lernumwelten (z. B. Gymnasien) würden somit vom Prestige der leistungsstärkeren Lerngruppe profitieren (vgl. Cialdini et al. 1976; Cialdini und Richardson 1980). Solch positive Assimilationseffekte zeigten sich nicht nur für das akademische Selbstkonzept (vgl. Marsh 1991; Marsh et al. 2000), sondern auch für andere Selbsteinschätzungen wie das Selbstwertgefühl (vgl. van Houtte et al. 2012) und die Schulzufriedenheit (vgl. Stäbler 2017; van Landeghem et al. 2002). Umgekehrt ergeben sich für Hauptschüler:innen negative Assimilationseffekte (vgl. Marsh et al. 2007; Solga und Wagner 2016; Zurbriggen 2016), die auf den Stigmatisierungen und Vorurteilen gegenüber dieser Gruppe von Lernenden fußen und so die Selbsteinschätzungen nachteilig beeinflussen können. Wenn Kontrast- und Assimilationseffekte gemeinsam untersucht wurden, fiel die negative Wirkung der mittleren Schulleistung (BFLPE) größer aus als die positive Wirkung des Prestiges der Schule (BIRGE, operationalisiert über den mittleren sozioökonomischen Status der Schule, den wahrgenommenen Status der Schule oder die besuchte Schulform; vgl. Marsh 1991; Marsh et al. 2000, 2007).

1.1.2 Die Variabilität von Referenzgruppeneffekten und die Rolle von Antizipationseffekten

Das referenzgruppentheoretische Modell nach Marsh (1991) kann jedoch nicht vollumfänglich abbilden, wie sich die Selbsteinschätzungen von Schüler:innen im Verlauf der Schulzeit und im Zuge von sich wandelnden sozialen Kontexten entwickeln und verändern (vgl. Dumont et al. 2017), da Kontrast- und Assimilationseffekte nachweislich trotz der Robustheit der Effekte nur einen Teil der Varianz in den Selbsteinschätzungen erklären können. Das bedeutet, dass auch andere Faktoren neben der mittleren Klassenleistung einen Einfluss auf die akademischen, arbeitsmarktlichen und motivationalen Selbsteinschätzungen von Schüler:innen nehmen sollten. Eine wichtige Theorie, die solche Fragen beleuchtet, ist die Transactional Theory von Lazarus und Folkman (1987). Ein Fokus liegt hierbei darauf, wie sich Antizipationsprozesse auf die Veränderung in akademischen, arbeitsmarktlichen und motivationalen Selbsteinschätzungen auswirken können. Eine zentrale Annahme der Theorie ist, dass die Motivation einer Person davon abhängt, wie sie eine Situation oder ein bevorstehendes Ereignis bewertet und wie sie die Verfügbarkeit von Ressourcen einschätzt, die sie zur Bewältigung dieses Ereignisses nutzen kann (vgl. Lazarus 1991). Demnach sollte die Antizipation des erwarteten Schulabschlusses und der bevorstehende Eintritt in den Ausbildungs- und Arbeitsmarkt einen Einfluss darauf haben, wie Schüler:innen ihre eigenen Kompetenzen und Fähigkeiten bewerten (Antizipationseffekt). Da die mit der Art des Schulabschlusses verbundenen Chancen auf dem Arbeits- und Ausbildungsmarkt umso mehr an persönlicher Relevanz gewinnen, je näher der Abschluss der eigenen Schullaufbahn rückt, sollte die Gruppe der Schüler:innen, die den gleichen Schulabschluss erwerben werden wie man selbst, als weitere Referenzgruppe für soziale Vergleichsprozesse mit näher rückendem Schulabschluss zunehmend an Bedeutung gewinnen (vgl. Dumont et al. 2017). Gleichzeitig könnte die eigene Klasse als Referenzgruppe an Bedeutung verlieren, insbesondere wenn sich dort wenige bis gar keine Schüler:innen mit den gleichen beruflichen Zielen und dem gleichen antizipierten Schulabschluss finden lassen. Für Schüler:innen an nicht-gymnasialen Schulen könnten folglich Kontrast- und Assimilationseffekte im Verlauf der Schulzeit zunehmend an Bedeutung verlieren, da sich (1) neue Referenzkategorien und Bewertungsfaktoren, wie z. B. der erwartete Schulabschluss und sein Nutzen, herausbilden sollten und (2) die Antizipation des bevorstehenden Übergangs und die damit einhergehenden Gefühlslagen die Bewertung der eigenen Fähigkeiten und die Herausbildung von Selbsteinschätzungen mitbestimmen könnten. Hinweise auf die zeitliche Variabilität von Referenzgruppeneffekten wurden in zahlreichen Studien dokumentiert (vgl. Fang et al. 2018). Insbesondere zeigten Dumont et al. (2017), dass zusätzlich zum mittleren Leistungsniveau der Schule und zur besuchten Schulform der erlangte Schulabschluss das akademische Selbstkonzept, die Einschätzung eigener Arbeitsmarktchancen und das Ausmaß an Schulverweigerung von deutschen Haupt‑, Real- und Gesamtschüler:innen vorhersagte. Dieses Ergebnismuster könnte ein Hinweis dafür sein, dass Kontrast- und Assimilationseffekte im Verlauf der Schulzeit an Einfluss verlieren, während der Antizipationseffekt durch die Bildung neuer Referenzkategorien an Bedeutung gewinnt (vgl. Dumont et al. 2017).

1.2 Die vorliegende Studie

Durch Tracking werden differenzielle schulische Lernmilieus für Schüler:innen geschaffen, die sich vermittelt über soziale Vergleichsprozesse (z. B. BFLPE und BIRGE) auf ihre akademischen, arbeitsmarktlichen und motivationalen Selbsteinschätzungen auswirken können. Je näher der Übertritt in die berufliche Ausbildung oder in den Arbeitsmarkt rückt, desto mehr könnten Vergleichsprozesse deshalb durch Antizipationsprozesse überlagert bzw. abgelöst werden, in denen der erwartete Schulabschluss und sein Nutzen für die berufliche Zukunft eine neue Referenzkategorie bilden. Bislang wurden diese Prozesse nur in der Studie von Dumont et al. (2017) mit Daten von Schüler:innen an nicht-gymnasialen Schulen in Berlin untersucht. Die vorliegende Studie ist als konzeptuelle Replikation angelegt, um die Robustheit und Generalisierbarkeit dieser Befunde für Schüler:innen an nicht-gymnasialen Schulformen in 5 anderen Bundesländern zu analysieren.

Entsprechend der Annahmen zum BFLPE erwarteten wir, dass sich (bei gleicher individueller Leistung) die Zugehörigkeit zu einer leistungsschwächeren Lerngruppe positiv auf die akademischen, arbeitsmarktlichen und motivationalen Selbsteinschätzungen auswirken sollte (Kontrasteffekt bzw. BFLPE). Gleichsam ist aber die Zugehörigkeit zu einer leistungsschwächeren Klasse häufig mit dem Besuch einer Schulform mit weniger Prestige verbunden (negativer bzw. nachteiliger Assimilationseffekt) und die Zugehörigkeit zu einer leistungsstärkeren Klasse mit dem Besuch einer Schulform mit mehr Prestige (positiver Assimilationseffekt bzw. BIRGE). Zudem bietet eine niedrigere Schulform über den Erwerb eines möglicherweise niedrigeren Bildungsabschlusses stärker begrenzte berufliche Zukunftsmöglichkeiten (Antizipationseffekt). Beides sollte sich (auch bei gleicher individueller Leistung) auf die akademischen, arbeitsmarktlichen und motivationalen Selbsteinschätzungen der Schüler:innen auswirken. Hierzu adressieren wir vier Forschungsfragen.

  1. 1.

    Welchen Einfluss nimmt die besuchte Schulform insgesamt (Bruttoeffekt) auf das domänenspezifische und allgemein schulische Selbstkonzept, die Einschätzung eigener Ausbildungschancen und die leistungs- und berufsbezogene Lernmotivation von Schüler:innen an nicht-gymnasialen Schulformen?

  2. 2.

    Wie wirken (a) Kontrasteffekte (Effekte der mittlere Klassenleistung) und (b) Assimilationseffekte (Effekte der besuchten Schulform), wenn sie voneinander differenziert werden? Dabei sollten sich nachteilige Assimilationseffekte bei Hauptschüler:innen gegenüber Real- und Gesamtschüler:innen zeigen. Weiterhin vermuten wir, dass sich entsprechend referenzgruppentheoretischer Annahmen negative Effekte der mittleren Klassenleistung unter Kontrolle der individuellen Testleistung zeigen.

  3. 3.

    Wie prädiktiv ist darüber hinaus die Art des antizipierten Schulabschlusses (HSA vs. MSA) für die akademischen, arbeitsmarktlichen und motivationalen Selbsteinschätzungen der Schüler:innen? Der Transactional Theory von Lazarus und Folkman (1987) folgend, erwarten wir, dass unter Kontrolle von Schulform und mittlerer Klassenleistung Sekundarschüler:innen, die einen MSA anstreben, nicht nur ihre akademischen Fähigkeiten und ihre Chancen auf eine Ausbildungsstelle höher einschätzen, sondern auch eine höhere leistungs- und berufsbezogene Lernmotivation berichten, als diejenigen, die einen HSA anstreben.

  4. 4.

    Wie stark unterscheidet sich die Bedeutung von Kontrast‑, Assimilations- und Antizipationseffekten für das domänenspezifische und allgemein schulische Selbstkonzept der Schüler:innen zwischen Beginn (Klasse 5) und Ende (Klasse 9) der Sekundarstufe I? Diese Frage wurde von Dumont et al. (2017) nicht untersucht und wird zusätzlich in dieser Studie aufgenommen, um die zeitliche Variabilität der Effekte des schulischen Kontexts zu beleuchten. Wir nehmen an, dass Kontrast- und Assimilationseffekte in Klasse 9 schwächer ausfallen als in Klasse 5, während Antizipationseffekte an Bedeutung gewinnen. Dies wäre ein Hinweis darauf, dass die Stärke von Referenzgruppeneffekten zeitlich variabel und von äußeren Umständen oder den jeweiligen Lebensphasen abhängig ist.

2 Methode

Um die Studie von Dumont et al. (2017) konzeptuell zu replizieren (vgl. Rost und Bienefeld 2019; Schmidt 2016; Wirtz 2019), bilden wir zentrale methodische Merkmale der Originalstudie mit den NEPS-Daten nach, insbesondere die Definition der Analysestichprobe sowie die Auswahl der abhängigen und unabhängigen Variablen (vgl. Blossfeld und Roßbach 2019). Wenn wir vom Vorgehen von Dumont et al. (2017) abweichen, stellen wir dies heraus.

2.1 Stichprobe

Um wie in Dumont et al. (2017) Sekundarschüler:innen an nicht-gymnasialen Schulformen auszuwählen, führten wir ein mehrschrittiges Verfahren zur Definition der Analysestichprobe durch. Erstens, als Ausgangsstichprobe nutzten wir die Daten von N = 8317 Schüler:innen der NEPS-Startkohorte 3. Schüler:innen dieser Startkohorte wurden längsschnittlich von Beginn der Sekundarstufe I in Klasse 5 (November 2010 bis Januar 2011) bis zum Ende Klasse 9 (November 2014 bis Juli 2015) und darüber hinaus untersucht (vgl. Leibniz-Institut für Bildungsverläufe e. V. 2020). Zweitens, berücksichtigen wir wie Dumont et al. (2017) nur Schüler:innen an nicht-gymnasialen Schulformen, da wir annahmen, dass vor allem diese Gruppe von Schüler:innen nach Erreichen des Schulabschlusses in das duale Ausbildungssystem, die vollzeitschulische Berufsausbildung der Sekundarstufe II oder den Arbeitsmarkt übergehen. Hierzu schlossen wir mit dem Ziel der besseren Vergleichbarkeit nur Schüler:innen aus Bundesländern ein, die zwischen 2010 und 2015 noch HS, RS und GS in ihrem Regelschulsystem führten und sich somit als dreigliedrig-erweitertes Modell definieren ließen (Baden-Württemberg, Hessen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz; Statistisches Bundesamt 2021b). Anders als in Dumont et al. (2017), nahmen wir jedoch zusätzlich zu HS, RS und GS auch Lernende an SmmBg in die Analysestichprobe auf, da diese Schulen in den ausgewählten Bundesländern auch zu den nicht-gymnasialen Sekundarschulen des Regelschulsystems zählten (vgl. Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2017; Statistisches Bundesamt 2020, 2021a). Nach Anwendung dieses Kriteriums verblieben in Klasse 5 N = 3871 und in Klasse 9 N = 4711 Schüler:innen in der Analysestichprobe. Drittens, um verlässliche statistische Parameter in den von uns gerechneten Mehrebenenanalysen zu erhalten, folgten wir den Empfehlungen von Clarke (2008) und McNeish (2014) und schlossen Schüler:innen aus Klassen mit Daten von weniger als 5 Schüler:innen pro Klasse aus. Weiterhin schlossen wir Schüler:innen ohne Information zur Klassenzugehörigkeit (keine gültige Klassen-ID) aus, sowie Schüler:innen, die als realistische Bildungsaspiration angaben, die Schule ohne Schulabschluss zu verlassen, da diese Gruppe für einen Vergleich zu klein und nicht in allen Schulformen vertreten war. Durch Anwendung dieser Kriterien verbliebenen in der finalen Analysestichprobe in Klasse 5 N = 1572 Schüler:innen aus 126 Klassen bzw. 77 Schulen (mittleres Alter: 11,1 Jahre; 48,7 % Mädchen; 25,9 % mit Migrationshintergrund) und in Klasse 9 N = 1277 Schüler:innen aus 124 Klassen bzw. 72 Schulen (mittleres Alter: 15,1 Jahre; 49,7 % Mädchen; 38,1 % mit Migrationshintergrund). Die mittlere Klassengröße betrug 12 Schüler:innen in Klasse 5 und 10 Schüler:innen in Klasse 9. Die Stichprobe setzten sich in Klasse 5 aus n = 559 Hauptschüler:innen (35,6 %), n = 818 Realschüler:innen (52,0 %), n = 32 Schüler:innen an SmmBg (2,1 %) und n = 163 Gesamtschüler:innen (10,3 %) zusammen. In Klasse 9 waren es n = 267 Hauptschüler:innen (20,9 %), n = 767 Realschüler:innen (60,1 %), n = 128 Schüler:innen an SmmBg (10,0 %) und n = 115 Gesamtschüler:innen (9,0 %). An SmmBg besuchten 0,0 %/31,9 % den Hauptschulzweig, an GS waren es 13,4 %/29,1 %. Alle anderen Schüler:innen an den GS und SmmBg besuchten den Realschulzweig.

2.2 Test- und Befragungsinstrumente

2.2.1 Abhängige Variablen

Abb. 1 gibt einen Überblick über die abhängigen und unabhängigen Variablen und deren Erhebungszeitpunkte. In Klasse 5 und 9 wurden das allgemein schulische Selbstkonzept, sowie das domänenspezifische Selbstkonzept in Mathematik und Lesen mit je drei Items (z. B. „Im Fach Mathematik bekomme ich gute Noten.“, „Ich habe manchmal Schwierigkeiten, einen Text wirklich gut zu verstehen.“, „In der Schule lerne ich schnell.“) erfasst. Die internen Konsistenzen lagen in Klasse 5/9 bei Cronbach’s α = 0,86/0,89 (Mathematik), α = 0,68/0,73 (Lesen) und α = 0,82/0,83 (allgemein schulisches Selbstkonzept).

Abb. 1
figure 1

Übersicht über die Messzeitpunkte der NEPS-Daten in SC3 und die in der vorliegenden Studie als abhängige (oben) und unabhängige (unten) genutzten Variablen

Die Selbsteinschätzung bezüglich der eigenen Ausbildungschancen wurde mit einem Einzelitem zu Beginn der Klasse 9 erfasst („Wenn ich mich im Laufe dieses Schuljahres bewerbe, werde ich vermutlich eine Ausbildungsstelle bekommen.“). Weiterhin nutzten wir zwei in Klasse 8 eingesetzte Skalen mit je vier Items zur Erfassung der leistungsbezogenen Lernmotivation (α = 0,79; z. B. „Ich lerne für die Schule, weil ich die Schule erfolgreich abschließen möchte.“) und der berufsbezogenen Lernmotivation (α = 0,82; z. B. „Ich lerne für die Schule, um später gute Berufschancen zu haben.“). Bei allen Skalen und Einzelitems nutzen die Schüler:innen ein vierstufiges Antwortformat (1 = trifft gar nicht zu bis 4 = trifft völlig zu). Für alle Skalen wurden die Skalenmittelwerte so berechnet, dass hohe Werte eine hohe Merkmalsausprägung abbildeten. Auch wurden die Variablen für die Analysen z‑standardisiert, um die Interpretierbarkeit der Ergebnisse zu erleichtern.

2.2.2 Unabhängige Variablen

Anders als Dumont et al. (2017) nahmen wir nicht den später tatsächlich erreichten Schulabschluss, sondern den von den Schüler:innen zum jeweiligen Messzeitpunkt antizipierten Schulabschluss in die Analysen auf. Als Indikator für den erwarteten Schulabschluss wurde die realistische Bildungsaspiration genutzt, da nur der zum jeweiligen Zeitpunkt antizipierte Schulabschluss die akademischen, arbeitsmarktlichen und motivationalen Selbsteinschätzungen der Schüler:innen beeinflussen sollte, nicht jedoch das noch in der Zukunft liegende Ereignis des Erwerbs eines bestimmten Schulabschlusses. Hier beantworteten die Schüler:innen in Klasse 5/9 die Frage „Wenn du einmal an alles denkst, was du jetzt weißt: Mit welchem Abschluss wirst du wohl tatsächlich die Schule verlassen?“ Für die Analysen wurden die Antworten der Schüler:innen in zwei Kategorien zusammengefasst (0 = HSA und 1 = MSA). Die mittlere Klassenleistung in Mathematik und im Lesen bildeten wir mit Hilfe der Klassen-ID und der gemessenen Testleistungen der Schüler:innen (zu den Testleistungen s. Abschnitt „Kontrollvariablen“). Der local dominance effect beschreibt, dass Individuen in sozialen Vergleichsprozessen dazu tendieren, sich mit ihrem direkten Umfeld zu vergleichen (Zell und Alicke 2010). Somit hat die Analyse der Klassenebene statt der von Dumont et al. (2017) genutzten Schulebene den Vorteil, dass diese eben jenen bevorzugten, unmittelbaren Referenzrahmen von Schüler:innen darstellt. Die laut Schüler:innenangabe besuchte Schulform wurde in vier Kategorien unterteilt (HS, RS, SmmBg und GS), wobei die HS als Referenzgruppe definiert wurde.

2.2.3 Kontrollvariablen

Als Leistungsindikatoren wurden die in der zugehörigen Klassenstufe gemessenen Testleistungen in den Domänen Mathematik und Lesen (vgl. Fuß et al. 2021; Leibniz-Institut für Bildungsverläufe e. V. 32,33,34,a, b, c) eingesetzt. Dabei griffen wir auf die Weighted Likelihood Estimates (WLE) zurück, die für die jeweilige Welle bei querschnittlichen Analysen empfohlen werden (vgl. Scharl et al. 2017; van den Ham et al. 2018). Zusätzlich dazu mittelten wir die domänenspezifischen Testleistungen, um einen Gesamtleistungsindikator zu erhalten. Analog zu Dumont et al. (2017) wurden zudem der sozioökonomische Status der Familie, das Geschlecht (0 = weiblich, 1 = männlich) und der Migrationshintergrund (0 = kein Migrationshintergrund, 1 = Migrationshintergrund) als Kontrollvariablen in die Modelle aufgenommen. Dies hat den Vorteil, dass mehr Varianz in den abhängigen Variablen aufgeklärt wird und so die Effekte noch genauer geschätzt werden können. Der sozioökonomische Status der Familie wurde über den International Socio-Economic Index of Occupational Status (ISEI, Range 16–90; Ganzeboom et al. 1992) operationalisiert, wobei wir den höheren Wert beider Elternteile in die Analysen aufnahmen (HISEI). Ein Migrationshintergrund lag vor, wenn mindestens ein Elternteil im Ausland geboren wurde.

2.3 Umgang mit fehlenden Werten

In Klasse 5/9 lag der mittlere Anteil fehlender Werte der in den Analysenmodellen einbezogenen Variablen bei 14,8 %/11,4 %. Den aktuellen methodischen Empfehlungen folgend (vgl. z. B. Graham 2009; Lüdtke et al. 2017), nutzen wir ein multiples mehrebenenanalytisches Imputationsverfahren, um die fehlenden Werte zu ersetzen. Wir nutzten die Pakete jomo (vgl. Quartagno und Carpenter 2016) und mitml (vgl. Grund et al. 2018, 2019) in R 4.2.1, um getrennt für Klasse 5 und 9 zehn vollständige Datensätze zu erstellen. Die Anzahl an Imputationen ergab sich in Orientierung an Graham et al. (2007) auf Basis des Anteils an fehlenden Werten in den Datensätzen. Zur Imputation fehlender Werte gingen alle Variablen gleichzeitig in ein Imputationsmodell ein. Um die Plausibilität der Schätzwerte zu erhöhen und den Imputationsprozess zu verbessern, nahmen wir zusätzlich zu den in den Analysen eingesetzten Variablen noch weitere Variablen (sog. Hilfsvariablen) in das Imputationsmodell auf. Als Hilfsvariablen dienten weitere soziodemografische Informationen (Bundesland, Alter der Schüler:innen, höchster Wert der Eltern in der International Standard Classification of Education (HISCED), Buchbestand im Haushalt, Anzahl der Bildungsressourcen im Haushalt), klassenkontextuelle Informationen (Anteil an Mitschüler:innen mit Migrationshintergrund, besuchter Track) sowie weitere leistungs- und motivationsbezogene Variablen, die in engem Zusammenhang mit den Analysevariablen stehen (Testleistungen in den Naturwissenschaften, Selbstkonzept Deutsch, globales Selbstwertgefühl, Hilflosigkeit in Deutsch und Mathematik, Motivation in Deutsch und Mathematik, wettbewerbsbezogene Lernmotivation, Anstrengung zum Erreichen des Schulabschlusses).

Die Imputation fehlender Werte wurde vor dem Ausschluss von Schüler:innen an Förderschulen, Gymnasien oder gymnasialen Zweigen an SmmBg und GS durchgeführt. Dieses Vorgehen wurde gewählt, um auch fehlende Angaben zum besuchten Schulzweig (6,7 %/8,3 %) zu imputieren. Aus diesem Grund schwankte der Umfang der Analysestichprobe leicht zwischen den imputierten Datensätzen (Klasse 5: 1541 ≤ N ≤ 1613, Klasse 9: 1254 ≤ N ≤ 1301). Der oben bereits angegebene Stichprobenumfang von N = 1572/1277 entspricht dem Mittelwert der Stichprobenumfänge über die zehn Datensätze.

2.4 Datenanalyse

Zur Untersuchung unserer Forschungsfragen spezifizierten wir in IBM SPSS Statistics 28.0.1.0 (IBM Corp. 2021) für jede abhängige Variable zwei Sets von Mehrebenenmodellen mit Schüler:innen auf Level 1 und Klassen auf Level 2. Als abhängige Variablen dienten die Skalenmittelwerte im Selbstkonzept Mathematik, im Selbstkonzept Lesen und im allgemein schulischen Selbstkonzept, das Einzelitem zur Einschätzung der eigenen Ausbildungschancen und die Skalenmittelwerte in der leistungs- und der berufsbezogenen Lernmotivation. Wir spezifizierten die Mehrebenenmodelle getrennt für jede abhängige Variable. Für die domänenspezifischen Selbstkonzepte (Mathematik und Lesen) nahmen wir jeweils nur die Mathematik- bzw. Leseleistung in das Modell als Prädiktoren auf. Für das allgemein schulische Selbstkonzept nutzten wir die Testwerte aus beiden Domänen als Prädiktoren. Modell 1 diente der Analyse der ersten Forschungsfrage und untersucht den Gesamteffekt (bzw. Bruttoeffekt) der besuchten Schulform (Level 2) unter Kontrolle der schulischen Leistungen (Testleistung in Mathematik bzw. Lesen) und soziodemografischer Merkmale (Geschlecht, HISEI und Migrationshintergrund) auf Schüler:innenebene. Somit wird in Modell 1 untersucht, welchen Effekt die besuchte Schulform insgesamt auf die jeweilige abhängige Variable hat, ohne dass dieser durch die Hinzunahme weiterer Variablen in das Mehrebenenmodell in Kontrast‑, Assimilations- und Antizipationseffekte ausdifferenziert wird. In Modell 2 wurde der Effekt der Schulform in Kontrast‑, Assimilations- und Antizipationseffekt ausdifferenziert, indem die mittlere Klassenleistung auf Level 2 (Klassenmittelwert in der Testleistung in Mathematik bzw. Lesen) und der antizipierte Schulabschluss auf Level 1 als weitere unabhängige Variablen in das Modell aufgenommen wurden. Die gleichzeitige Aufnahme der Schulform und der mittleren Klassenleistung als unabhängige Variablen ins Modell ermöglicht die Trennung von Kontrast- und Assimilationseffekt und somit die Untersuchung der zweiten Forschungsfrage danach, inwiefern Kontrast- und Assimilationseffekte zur Erklärung der Schulformeffekte beitragen. Kontrasteffekte (d. h. BFLPE) entsprechen den Effekten der mittleren Klassenleistung auf Level 2 unter Kontrolle der individuellen Testleistung auf Level 1. Assimilationseffekte (d. h. BIRGE) entsprechen den Effekten der besuchten Schulform auf Level 2, wenn für die individuellen Testleistung auf Level 1 und die mittlere Klassenleistung auf Level 2 kontrolliert wird. Mit Modell 2 wird gleichzeitig auch die dritte Forschungsfrage nach Antizipationseffekten untersucht, da auch der erwartete Schulabschluss (d. h. die realistische Bildungsaspiration) auf Level 1 in das Modell aufgenommen wurde. Zur Analyse der vierten Forschungsfrage, die mögliche Veränderungen in der Wirkung von Kontrast‑, Assimilations- und Antizipationseffekten auf das domänenspezifische und allgemein schulische Selbstkonzept von Schüler:innen über die Schulzeit hinweg thematisiert, wurden identisch zu den Modellen in Klasse 9 je zwei Modelle für Klasse 5 aufgestellt. Hier untersuchte Modell 1 erneut den Bruttoeffekt der Schulform und Modell 2 Kontrast‑, Assimilations- und Antizipationseffekte. Für die Analysen wurden alle metrischen Variablen am Grand Mean z‑standardisiert. Jedes Modell wurde für jeden der zehn imputierten Datensätze analysiert. Die Ergebnisse wurden dann auf Basis der Pooling-Regeln nach Rubin (1987) zusammengefasst.

3 Ergebnisse

Tab. 2 zeigt die Ergebnisse der Mehrebenenanalysen in Klasse 9, sowohl für das Modell 1 zur Analyse des Bruttoeffekts der Schulform als auch für das Modell 2 zur Untersuchung von Kontrast‑, Assimilations- und Antizipationseffekten. Analog dazu sind die Ergebnisse in Klasse 5 in Tab. 3 abgebildet.

3.1 Erste Forschungsfrage: Bruttoeffekte der Schulform

Die Ergebnisse des Modell 1 zur Untersuchung der Bruttoeffekte der Schulform bestätigten z. T. unsere Annahme, dass die von Schüler:innen an nicht-gymnasialen Sekundarschulen berichteten akademischen, arbeitsmarktlichen und motivationalen Selbsteinschätzungen auch unter Kontrolle der schulischen Leistungen von der besuchten Schulform beeinflusst werden. In Klasse 9 zeigten die Ergebnisse, dass Real- und Gesamtschüler:innen ihre Chancen auf eine Ausbildungsstelle im Mittel besser einschätzten als die befragten Hauptschüler:innen (BRS = 0,17, p = 0,046; BGS = 0,19, p = 0,168) und auch eine höhere berufsbezogene Lernmotivation vorwiesen (BRS = 0,11, p = 0,233; BGS = 0,19, p = 0,234). Jedoch war nur der Unterschied zwischen Real- und Hauptschüler:innen in der Einschätzung der Ausbildungschancen signifikant. Gleichzeitig schätzten Real- und Gesamtschüler:innen in Klasse 9 entgegen unserer Erwartungen ihre Leistungen in Mathematik (BRS = −0,39, p < 0,001; BGS = −0,30, p = 0,037) und in der Schule allgemein (BRS = −0,26, p = 0,002; BGS = −0,32, p = 0,049) signifikant schlechter ein als die Hauptschüler:innen. Unterschiede zwischen Schüler:innen an SmmBg und Hauptschüler:innen waren in Klasse 9 nicht statistisch signifikant, jedoch berichteten Schüler:innen an SmmBg im Mittel auch ein niedrigeres mathematisches Selbstkonzept (B = −0,20, p = 0,118) und – anders als die Real- und Gesamtschüler:innen – ein höheres Selbstkonzept im Lesen (B = 0,18; p = 0,124). Bedeutsame Unterschiede in der leistungsbezogenen Lernmotivation zeigten sich zwischen keiner der Gruppen.

Tab. 2 Vorhersage des akademischen Selbstkonzepts, der Einschätzung eigener Ausbildungschancen und der schulischen Motivation in Klasse 9

3.2 Zweite und dritte Forschungsfrage: Effekte von mittlerer Klassenleistung (Kontrasteffekte), Schulform (Assimilationseffekte) und antizipiertem Schulabschluss (Antizipationseffekte)

In Modell 2 wurden zusätzlich zur individuellen Testleistung und besuchten Schulform die mittleren Klassenleistungen in Mathematik und Lesen als unabhängige Variablen aufgenommen, um zwischen Kontrast- und Assimilationseffekten differenzieren zu können. Zudem wurde zur Untersuchung von Antizipationseffekten der zum jeweiligen Messzeitpunkt erwartete Schulabschluss als unabhängige Variable ins Modell 2 aufgenommen.

Die Ergebnisse zeigten entgegen unserer Erwartungen nur wenige signifikant negative Effekte der mittleren Klassenleistung im Sinne eines BFLPEs. In Klasse 9 konnte dieser nur für das mathematische Selbstkonzept (B = −0,15, p < 0,001) inferenzstatistisch abgesichert werden. In allen anderen Modellen war der Zusammenhang mit der mittleren Klassenleistung sehr gering, insbesondere bei der Vorhersage der Einschätzung eigener Ausbildungschancen und der leistungs- und berufsbezogenen Lernmotivation.

Im Vergleich zu Modell 1 zeigten sich auch in Modell 2 in Klasse 9 zum Teil deutliche Vorteile der Hauptschüler:innen im akademischen Selbstkonzept. Im allgemein schulischen Selbstkonzept waren diese sogar noch etwas angestiegen (BRS = −0,38, p < 0,001, BGS = −0,37, p = 0,025). Und auch die positiven Effekte des Besuchs einer HS auf das Fähigkeitsselbstkonzept in Mathematik (BRS = −0,27, p = 0,010, BSmmBg = −0,19, p = 0,133, BGS = −0,23, p = 0,108), die Einschätzung der Ausbildungschancen (BRS = 0,17, p = 0,101, BGS = 0,20, p = 0,163) und die berufsbezogene Lernmotivation (BGS = 0,15, p = 0,345) blieben bestehen, obgleich die meisten dieser Effekte auch in Modell 2 nicht inferenzstatistisch abgesichert werden konnten.

Übereinstimmend mit unseren Erwartungen zeigen die Ergebnisse von Modell 2 überwiegend signifikante Zusammenhänge zwischen den abhängigen Variablen und dem von den Schüler:innen antizipierten Schulabschluss. Schüler:innen, die einen MSA anstrebten, schätzten in Klasse 9 ihre allgemein schulischen Leistungen (B = 0,33, p = 0,002), ihre leistungsbezogene Lernmotivation (B = 0,29, p = 0,001) und ihre berufsbezogene Lernmotivation (B = 0,30, p = 0,001) deutlich höher ein als Schüler:innen, die berichteten, die Schule voraussichtlich mit dem HSA zu verlassen.

3.3 Vierte Forschungsfrage: Zeitliche Variabilität von Referenzgruppeneffekten und Antizipationseffekten

Für den Bruttoeffekt der Schulform zeigte sich in Klasse 5 im Vergleich zu Klasse 9 ein anderes Bild in den Ergebnissen zur Einschätzung eigener schulischer Fähigkeiten. Hier zeigten sich einige Nachteile des Besuchs einer HS im Vergleich zu den anderen Schulformen mit Unterschieden von bis zu 0,37 SD. Dabei war jedoch nur der Unterschied zur RS im Selbstkonzept Lesen statistisch signifikant (B = 0,25, p < 0,001). Gemittelt über alle abhängigen Variablen fanden wir unter Kontrolle der eigenen Testleistung für den Prädiktor Schulform in Klasse 5 leichte Nachteile der Hauptschüler:innen gegenüber den Schüler:innen der anderen Schulformen (BRS = 0,11, BSmmBg = 0,14, BGS = 0,03), wobei jedoch nur einer der Effekte signifikant war. In Klasse 9 schätzten sich die Hauptschüler:innen hingegen im Mittel etwas günstiger ein als die anderen Gruppen (BRS = −0,05, BSmmBg = 0,02, BGS = −0,06) mit z. T. hohen und statistisch signifikanten Effekten in einzelnen abhängigen Variablen.

Kontrasteffekte in Form von BFLPEs konnten ähnlich wie in Klasse 9 auch in Klasse 5 nur für eine der untersuchten abhängigen Variablen inferenzstatistisch abgesichert werden (allgemein schulisches Selbstkonzept: B = −0,12, p = 0,011). Somit ließ sich auch das von uns angenommene Absinken des BFLPE im Verlauf der Schulzeit anhand unserer Ergebnisse nicht bestätigen, da zwar in Klasse 9 im Vergleich zu Klasse 5 der negative Effekt der mittleren Klassenleistung auf das allgemein schulische Selbstkonzept niedriger ausfiel (B = −0,06 vs. B = −0,12), im mathematischen Selbstkonzept war es jedoch umgekehrt (B = −0,15 vs. B = −0,08) und im Leseselbstkonzept war der Zusammenhang mit der mittleren Leseleistung der Klasse zu beiden Zeitpunkten nahe Null.

Interessanterweise blieben die Zusammenhänge der besuchten Schulform mit allen abhängigen Variablen nicht nur in Klasse 9, sondern auch in Klasse 5 durch die Hinzunahme der mittleren Klassenleistung und des antizipierten Schulabschlusses in das Modell nahezu unbeeinflusst. Ähnlich den Ergebnissen aus Modell 1 waren die Unterschiede zwischen den besuchten Schulformen in Klasse 5 auch in Modell 2 zwar nicht signifikant, aber fielen hier im Vergleich zu Klasse 9 für die Hauptschüler:innen deutlich nachteiliger aus und lassen somit einen Assimilationseffekt (zuungunsten der Hauptschüler:innen und zugunsten der Schüler:innen an RS oder SmmBg) vermuten. So berichteten z. B. Schüler:innen an RS oder SmmBg unter Kontrolle der mittleren Klassenleistung im Mittel ein höheres Selbstkonzept in Mathematik (BRS = 0,11, p = 0,278, BSmmBg = 0,18, p = 0,404) und Schüler:innen an SmmBg schätzten ihre allgemein schulischen Fähigkeiten günstiger ein als Hauptschüler:innen (B = 0,30, p = 0,174).

In Klasse 5 fanden sich zudem ähnliche Antizipationseffekte wie in Klasse 9. Diese waren im Selbstkonzept Lesen (B = 0,29, p < 0,001) und im allgemein schulischen Selbstkonzept (B = 0,30, p < 0,001) signifikant und fielen auch hier zugunsten derjenigen Schüler:innen aus, die einen MSA planten.

Tab. 3 Vorhersage des akademischen Selbstkonzepts in Klasse 5

4 Diskussion

Das übergeordnete Ziel dieser Studie war zu untersuchen, inwiefern am Ende der Pflichtschulzeit der antizipierte Schulabschluss – zusätzlich zu Kontrast- und Assimilationseffekten – die akademischen, arbeitsmarktlichen und motivationalen Selbsteinschätzungen von Schüler:innen an nicht-gymnasialen Schulformen beeinflusst. Hierzu führten wir auf Grundlage der repräsentativen NEPS-Daten eine konzeptuelle Replikation der Studie von Dumont et al. (2017) durch, die diese Frage erstmals analysierte. Die Ergebnisse lassen sich folgendermaßen zusammenfassen.

4.1 Erste Forschungsfrage: Bruttoeffekte der Schulform

Insgesamt zeigten sich ohne Kontrolle weiterer Merkmale auf Klassenebene gemischte Effekte der Art der besuchten nicht-gymnasialen Schulform auf die akademischen, arbeitsmarktlichen und motivationalen Selbsteinschätzungen von Sekundarschüler:innen (s. Modell 1). Im Mittel fanden wir in Klasse 5 leichte Nachteile für Hauptschüler:innen, mit jedoch nur einem signifikanten Effekt. In Klasse 9 fanden wir hingegen im Mittel Vorteile für Hauptschüler:innen, mit z. T. hohen und statistisch signifikanten Effekten.

4.2 Zweite Forschungsfrage: Kontrast- und Assimilationseffekte

Unsere Befunde zeigten nur in wenigen Selbstkonzeptskalen signifikante Effekte der mittleren Klassenleistung und damit eher schwache Kontrasteffekte in Form negativer Zusammenhänge der abhängigen Variablen mit der mittleren Klassenleistung. Dass der BFLPE in den meisten Modellen schwach ausfällt könnte u. a. auf die Datengrundlage zurückzuführen sein. Zum einen könnte die Varianz in den Klassenmittelwerten durch den Ausschluss aller Gymnasiast:innen eingeschränkt sein. Zum anderen wurden oft keine ganzen Klassen befragt. So beträgt die Anzahl der befragten Schüler:innen in der Analysestichprobe in der 9. Klasse durchschnittlich nur 10 Schüler:innen und in der 5. Klasse 12 Schüler:innen. Eine weitere Erklärung für unsere schwachen Kontrasteffekte könnte sein, dass Schüler:innen an GS und SmmBg mitunter Kurse unterschiedlichen Leistungsniveaus besuchen, anstatt in allen Fächern im Klassenverband unterrichtet zu werden, was die Zusammenhänge mit dem mittleren Leistungsniveau der Klasse zusätzlich abschwächen sollte.

Die Schulformeffekte, die in unserer Studie inferenzstatistisch auch unter Kontrolle der mittleren Klassenleistung abgesichert werden konnten, betrafen das mathematische und allgemeine schulische Selbstkonzept in Klasse 9. Sie lassen sich jedoch nicht als BIRGE bzw. als aus Stigmatisierung resultierender negativer Assimilationseffekt für Hauptschüler:innen deuten, sondern eher im Sinne eines BFLPE, da Hauptschüler:innen hier ihre Fähigkeiten günstiger einschätzten als die Lernenden anderer Schulformen. Wir nehmen an, dass diese über die Schulformvariable vermittelten BFLPEs in den Leistungsunterschieden zwischen den Schulformen begründet liegen. Interessant ist hier, dass sich die positive Wirkung des Besuchs einer HS auf die Fähigkeitsselbsteinschätzungen nicht auf die Einschätzung der eigenen Ausbildungschancen zu übertragen scheint. So schätzten die Hauptschüler:innen trotz höherer akademischer Selbstkonzepte ihre zukünftigen Ausbildungschancen im Mittel ungünstiger ein als die Schüler:innen anderer nicht-gymnasialer Schulformen. Dieses Ergebnis könnte als Resultat eines niedrigeren schulformspezifischen Aspirationsniveaus (vgl. Fend 1976; Fend et al. 1973), einer nachteiligen kollektiven Identität (vgl. Knigge und Hannover 2011) und somit einer gewissen Perspektivlosigkeit der Hauptschüler:innen gedeutet werden. Zudem kann vermutet werden, dass die arbeitsmarktlichen Selbsteinschätzungen am Ende der Schulzeit entscheidender für die weitere Bildungs- und Berufslaufbahn sind als die schulischen Fähigkeitsselbstkonzepte. Gesamtschüler:innen und Realschüler:innen scheinen hier die beste Ausgangsposition zu haben, da sie ihre Ausbildungschancen im Mittel am höchsten einschätzten. Jedoch war keiner der Unterschiede zwischen den Schulformen statistisch signifikant.

4.3 Dritte Forschungsfrage: Antizipationseffekte (HSA vs. MSA)

Wie von uns angenommen, bestätigten die Ergebnisse, dass Schüler:innen, die einen MSA anstreben, ihre schulischen Fähigkeiten und ihre Lernmotivation höher einschätzen, als Schüler:innen, die planen, die Schule mit dem HSA zu verlassen, auch dann, wenn für individuelle Leistung, mittlere Klassenleistung und Schulform kontrolliert wird. In etwa der Hälfte der betreffenden gerechneten Modelle war der Antizipationseffekt signifikant. In diesen Fällen lag die Effektgröße zwischen B = 0,29 und B = 0,33.

4.4 Vierte Forschungsfrage: Vergleich der Ergebnisse zwischen den beiden Messzeitpunkten (Klasse 5 vs. 9)

Die von uns aufgestellte Annahme, dass der Antizipationseffekt zum Ende der Schulzeit einen stärkeren Einfluss auf die akademischen, arbeitsmarktlichen und motivationalen Selbsteinschätzungen ausübt als zu Beginn der Sekundarstufe, konnte nicht bestätigt werden. Sowohl in Klasse 5 als auch in Klasse 9 fanden wir statistisch signifikante positive Antizipationseffekte eines höheren erwarteten Schulabschlusses auf viele der hier untersuchten Merkmale. Überraschend ist hier jedoch, dass wir keine Antizipationseffekte auf die Einschätzung der eigenen Ausbildungschancen finden konnten. Möglicherweise wird in erster Linie die besuchte Schulform als Chancenöffner oder Schranke auf dem Ausbildungsmarkt wahrgenommen. Dass die Antizipationseffekte zu beiden Messzeitpunkten ähnlich ausfielen und nicht, wie vermutet, in Klasse 9 stärker als in Klasse 5, könnte darauf zurückzuführen sein, dass die Wahl der Sekundarschulform auch in Abhängigkeit vom gewünschten Bildungsabschluss erfolgt. Möglicherweise ist die realistische Bildungsaspiration kurz nach dem Übergang noch besonders salient, verliert dann im Laufe der Sekundarschulzeit an Bedeutung, um gegen Ende der Schulzeit wieder an Salienz zu gewinnen.

Entsprechend den Annahmen der Transactional Theory erwarteten wir zudem, dass mit dem Bedeutungszuwachs von Antizipationseffekten über die Zeit, ein Abschwächen von Kontrast- und Assimilationseffekten einhergehen sollte. Im Schnitt fielen die standardisierten Koeffizienten der Antizipationseffekte zu beiden Messzeitpunkten deutlich höher aus als die der Kontrast- und Assimilationseffekte. Dies lässt die Schlussfolgerung zu, dass dem Abschlussziel eine hohe Bedeutung zukommt, wobei jedoch zu beachten ist, dass Schulform, antizipierter Schulabschluss und die leistungsbezogene Zusammensetzung der Klasse keine voneinander unabhängigen Merkmale sind. Der Vergleich der Höhe der Effekte zwischen den beiden Messzeitpunkten weist jedoch nicht darauf hin, dass Kontrast- und Assimilationseffekt über die Zeit an Bedeutung verlieren. So zeigten sich zu beiden Messzeitpunkten nur wenig und eher schwache Kontrasteffekte in Form negativer Zusammenhänge der abhängigen Variablen mit der mittleren Klassenleistung (B = −0,15 für das Selbstkonzept in Mathematik Klasse 9 und B = −0,12 für das allgemein schulische Selbstkonzept Klasse 5). Währenddessen fielen die Effekte der besuchten Schulform mit Unterschieden von bis zu 0,38 SD deutlich stärker aus, wenn auch nur in Klasse 9 mit signifikanten Koeffizienten. Dass in unserer Studie in Klasse 5 ein Effekt der mittleren Klassenleistung nur für das allgemein schulische Selbstkonzept gefunden wurde, könnte damit zu erklären sein, dass es für Schüler:innen kurz nach dem Übergang von der Grundschule auf die weiterführende Schule aufgrund der noch eher unbekannten Referenzgruppe schwieriger ist, fachspezifische Vergleiche anzustellen. Zwar konnten wir sowohl zu Beginn als auch gegen Ende der Sekundarschulzeit nur wenig Evidenz für den BFLPE auf die hier untersuchten Merkmale finden, doch da Unterschiede in der Leistungszusammensetzung zwischen den Schulformen bestehen und die Effekte der Schulform in Klasse 9 in ihrem Vorzeichen einem BIRGE bzw. nachteiligem Assimilationseffekt für Hauptschüler:innen widersprechen, liegt es nahe anzunehmen, dass der BFLPE auch in den Effekten der besuchten Schulform zum Ausdruck kommt. So fielen die Effekte der Schulform in Klasse 9 teilweise stärker aus als in Klasse 5 und nur für die leistungs- und berufsbezogene Lernmotivation war der antizipierte Schulabschluss in Klasse 9 prädiktiver als die besuchte Schulform und das mittlere Leistungsniveau der Klasse. Die gefundenen Schulformeffekte implizieren nur in Klasse 5 einen BIRGE, da nur hier ein höheres Prestige der Schulform mit günstigeren Fähigkeitsselbsteinschätzungen einherging und Hauptschüler:innen einem möglichen nachteiligen Assimilationseffekt entsprechend ihre schulischen Leistungen niedriger einschätzten. In Klasse 9 fielen die Schulformeffekte hingegen eher umgekehrt aus. Dass die für Hauptschüler:innen in Klasse 5 gefundenen Nachteile in Klasse 9 in Vorteile umschlagen, könnte ein Hinweis dafür sein, dass das niedrige Prestige der Hauptschule und die mit der Hauptschule verbundenen Stereotype die Selbsteinschätzungen kurz nach dem Übergang in die Sekundarstufe I stärker beeinflussen als zu späteren Zeitpunkten in der Schulzeit. Dies könnte damit erklärt werden, dass nach dem Wechsel von der Primar- in die Sekundarstufe die alte Referenzgruppe (d. h. die ehemalige Grundschulklasse) nicht sofort in Vergessenheit gerät. So wäre z. B. anzunehmen, dass die Hauptschüler:innen zu Beginn der Sekundarstufe noch verstärkt mit dem Gedanken befasst sind, dass viele der ehemaligen Mitschüler:innen und Peers nun höhere Schulformen mit mehr Prestige besuchen. Dieser Annahme entsprechen die Ergebnisse von Becker und Neumann (2016), die zeigen, dass die Effekte der Grundschul-Referenzgruppe auch kurz nach dem Übergang noch nachweisbar sind, jedoch nicht mehr ein Jahr später. Demgegenüber gewann die neue Vergleichsgruppe der Sekundarschule über die Zeit an Bedeutung.

4.5 Robustheit und Generalisierbarkeit der Ergebnisse von Dumont et al. (2017)

Unsere Befunde sind überwiegend im Einklang mit denen aus der Studie von Dumont et al. (2017). Auch Dumont et al. (2017) fanden nur in den von ihnen untersuchten Selbstkonzeptskalen signifikante Effekte der mittleren Klassenleistung, die zudem mit Effektstärken von B = −0,11 bis B = −0,21 im Vergleich zu anderen Studien (z. B. BSTEM = −0,30; Fang et al. 2018) eher schwach ausgeprägt waren.

Unter Kontrolle der mittleren Klassenleistung zeigten sich in der vorliegenden Studie im Mittel über alle abhängigen Variablen in Klasse 5 leichte Nachteile der Hauptschüler:innen gegenüber den Schüler:innen der anderen Schulformen (BRS = 0,10, BSmmBg = 0,08, BGS = 0,01). Dies entspricht zwar in der Richtung einem nachteiligen Assimilationseffekt bzw. BIRGE, jedoch war keiner der Effekte signifikant. In Klasse 9 schätzten sich die Hauptschüler:innen unter Kontrolle der mittleren Klassenleistung hingegen im Mittel etwas günstiger ein als die anderen Gruppen (BRS = −0,09, BSmmBg = −0,02, BGS = −0,08) mit nur wenigen signifikanten Effekten in einzelnen abhängigen Variablen. Dies entspricht in etwa den Ergebnissen von Dumont et al. (2017), die für Klasse 9 gemittelt über alle untersuchten abhängigen Variablen für den Prädiktor Schulform auch eher leichte Vorteile der Hauptschüler:innen fanden (für Schüler:innen mit HSA: BRS = 0,04, BGS = −0,04; für Schüler:innen mit MSA: BRS = −0,11, BGS = −0,06).

Die bei uns gefundenen Antizipationseffekte fielen etwas niedriger aus als die von Dumont et al. (2017) gefundenen Effekte, hier nach Schulform getrennt berichtete Effekte der Art des später erreichten Schulabschlusses. Während unsere Ergebnisse für den Prädiktor antizipierter Schulabschluss unter Kontrolle der eigenen Testleistung, der Testleistungen der Mitschüler:innen und der besuchten Schulform einen über alle abhängigen Variablen gemittelten positiven Effekt des Erwartens eines MSA statt eines HSA von B = 0,20 aufzeigten, war der mittlere Effekt bei Dumont et al. (2017) an HS B = 0,41, an RS B = 0,26 und an GS B = 0,39. Somit liefert unsere Studie zusätzlich zu den Ergebnissen von Dumont et al. (2017) weitere Evidenz dafür, dass der Antizipationseffekt über Kontrast- und Assimilationseffekte hinweg wirksam ist und so auch die weitere Laufbahn nach dem Verlassen der Schule vermittelt über die akademischen, arbeitsmarktlichen und motivationalen Selbsteinschätzungen prägen könnte.

4.6 Unterschiede im Vorgehen zu Dumont et al. (2017)

Zwar handelt es sich bei der vorliegenden Studie um eine konzeptionelle Replikation der Studie von Dumont et al. (2017), jedoch weicht das Vorgehen in unserer Studie in einigen Aspekten von der Originalstudie ab (siehe Tab. 1), so dass keine direkte Überprüfung der Ergebnisse vorgenommen wurde und Unterschiede in den Ergebnissen durch Abweichungen in Stichprobe, Instrumenten und Analysemethode begründet sein könnten. Während Dumont et al. (2017) das mittlere Leistungslevel der Schule zur Untersuchung von Kontrasteffekten nutzten, nahmen wir die mittlere Klassenleistung in unsere Analysen auf. Dies entspricht dem local dominance effect (Zell und Alicke 2010), nach dem die Klasse den unmittelbaren Bezugsrahmen für soziale Vergleichsprozesse darstellt, so dass die Nutzung der mittleren Klassenleistung statt der mittleren Schulleistung die Effektschätzung verbessern sollte. Des Weiteren nutzten wir nicht den tatsächlich erreichten Schulabschluss, sondern operationalisierten den erwarteten Schulabschluss anhand der realistischen Bildungsaspiration, da nur der zum jeweiligen Zeitpunkt antizipierte Schulabschluss die akademischen, arbeitsmarktlichen und motivationalen Selbsteinschätzungen der Schüler:innen beeinflussen sollte, nicht jedoch das noch in der Zukunft liegende Ereignis des Erwerbs eines bestimmten Schulabschlusses (auch wenn beide Indikatoren in Klasse 9 womöglich nur gering voneinander abweichen). Zudem wurden die von Dumont et al. (2017) untersuchten Daten zur Schulverweigerung nicht in vergleichbarer Weise für die Startkohorte 3 in der NEPS-Studie erhoben, sodass wir alternativ auf die bereits in Klasse 8 erhobene leistungs- und berufsbezogene Lernmotivation zurückgreifen mussten. Diese steht zwar konzeptuell in engem Zusammenhang mit Schulverweigerung und auch Wechselbeziehungen zu den Selbsteinschätzungen der eigenen Ausbildungschancen erscheinen plausibel, doch könnte deren zeitliche Variabilität unsere Ergebnisse verzerrt haben. Möglicherweise wurden die Effekte der unabhängigen Variablen auf die leistungs- und berufsbezogene Lernmotivation unterschätzt, weil diese Merkmale bereits in Klasse 8 erhoben wurden und die Zusammenhänge zwischen Variablen mit zunehmendem zeitlichem Abstand zwischen den Erhebungszeitpunkten geringer ausfallen. Gleiches gilt für die Modelle zur Vorhersage der abhängigen Variablen ohne Domänenbezug, in denen die erst später erfasste Lesekompetenz als Prädiktor aufgenommen wurde. Anders als Dumont et al. (2017) betrachteten wir zudem Schüler:innen nicht-gymnasialer Schulformen nicht aus Berlin, sondern über mehrere andere Bundesländer hinweg. Dass die Struktur der Bildungssysteme Entscheidungshoheit der Länder ist und wir ungeachtet der bundeslandspezifischen Ausgestaltung des Unterrichts Lernende verschiedener Schulform verglichen haben, könnte zu weiteren Verzerrungen der Ergebnisse geführt haben.

4.7 Weitere Limitationen, Implikationen und Ausblick

Die Interpretation der Befunde ist stets dadurch erschwert, dass realistische Bildungsaspiration und besuchte Schulform miteinander zusammenhängen. Zudem wird in unseren Modellen keine Kontrolle für Schulnoten vorgenommen, obwohl Schulnoten einen wichtigen Einfluss auf die eigenen Kompetenzeinschätzungen ausüben. Da aber Schulnoten und antizipierter Schulabschluss korrelieren und eine Aufnahme von Schulnoten in die Modelle möglicherweise zu viel der Variation in den antizipierten Schulabschlüssen aufgeklärt hätte, nutzten wir stattdessen als individuelle Leistungsindikatoren die domänenspezifischen NEPS-TestleistungswerteFootnote 2. Außerdem weisen Studien darauf hin, dass Schulnoten im Vergleich zwischen Klassen und gerade im Vergleich zwischen Schulen unterschiedlicher Schulformen als Leistungsindikatoren ungeeignet sind (z. B. Baumert et al. 2003), da in jeder Schulform ein eigener Referenzrahmen Anwendung findet, der die Leistungsunterschiede zwischen den Schulformen vernachlässigt. Die in der NEPS-Studie eingesetzten Kompetenztests sind anschlussfähig an die der PISA-Studie, basieren auf den nationalen Bildungsstandards für die Fächer Mathematik und Deutsch (vgl. Leibniz-Institut für Bildungsverläufe e. V. 32,33,34,a, b, c) und können somit als valide Leistungsindikatoren angesehen werden. Zusätzlich weisen Wild und Möller (2020) darauf hin, dass Referenzgruppeneffekte kleiner ausfallen können, wenn zur Messung der Fähigkeitsselbsteinschätzung Items genutzt werden, die nicht den sozialen Vergleich thematisieren, so wie es in unserer Studie vollständig und bei Dumont et al. (2017) zum Teil der Fall war. Die positiven Zusammenhänge des antizipierten Schulabschlusses mit den akademischen, arbeitsmarktlichen und motivationalen Selbsteinschätzungen ließen sich zudem nicht nur durch einen Einfluss des anvisierten Schulabschlusses auf die Selbsteinschätzungen erklären. Umgekehrt könnten auch höhere Ausprägungen z. B. im akademischen Selbstkonzept dazu beitragen, dass die Schüler:innen höhere Bildungsaspirationen entwickeln. Zukünftige Studien sollten deshalb auf Grundlage längsschnittlicher Daten beide Wirkrichtungen berücksichtigen. Auch konnten in unseren Analysen nicht diejenigen Schüler:innen berücksichtigt werden, die als realistische Bildungsaspiration angaben, die Schule ohne einen Schulabschluss zu beenden, da es zu wenige waren. Doch gerade bei dieser Gruppe von Lernenden sind die Wirkmechanismen, die zu einem ausbleibenden Schulerfolg führen und die Rolle, die die akademischen, arbeitsmarktlichen und motivationalen Selbsteinschätzungen dabei spielen, besonders interessant. Zukünftige Studien könnten untersuchen, ob sich auch Unterschiede zwischen HSA, qualifizierendem HSA und erweitertem HSA zeigen. Zudem ließen die für die Analysen genutzten NEPS-Daten keine Unterscheidung zwischen kooperativen und integrativen SmmBg und GS zu. Jedoch konnte bereits gezeigt werden, dass der BFLPE und der über die besuchte Schulform wirkende Assimilationseffekt in Abhängigkeit vom Grad des Trackings unterschiedlich ausfallen (vgl. Chmielewski et al. 2013). So könnte vermutet werden, dass die Leistungs- und Neigungsdifferenzierung in integrativen Schulen und die Tatsache, dass die Schüler:innen dort wechselnd in leistungshomogenen und -heterogenen Lerngruppen unterrichtet werden, dazu beitragen, dass sich der soziale Bezugsrahmen verschiebt, da die Schüler:innen hier bereits früh erfahren, welche Unterschiede in den individuellen Lernausgangslagen bestehen. Damit könnten die Schüler:innen an integrativen Schulen ihre Fähigkeiten möglicherweise realistischer einschätzen und Kontrast- und Assimilationseffekte abgeschwächt werden. Diese Effekte könnten außerdem nach Zeitpunkt variieren. Da sich die Zusammensetzung der Stichprobe zwischen den beiden Wellen unterscheidet, konnten wir in unseren Analysen die Unterschiede zwischen den Messzeitpunkten in Klasse 5 und 9 nicht direkt testen. Jedoch wäre es interessant zu prüfen, ob sich bspw. leistungsheterogenere Lernumwelten gerade gegen Ende der Schulzeit förderlicher auf die Entwicklung beruflicher Überzeugungen auswirken als leistungshomogenere Lerngruppen. Zuletzt konnten in unserer Studie auch bundeslandspezifische Unterschiede in der Stärke wirkender Kontrast‑, Assimilations- und Antizipationseffekte nicht betrachtet werden und liefern damit weiteren Anlass für zukünftige Arbeiten.

Unsere Befunde zeigen deutliche Zusammenhänge zwischen dem antizipierten Schulabschluss und einigen der hier untersuchten Merkmale. Deshalb sollten Lehrkräfte dafür sensibilisiert werden, dass schon die Antizipation des Erwerbs eines niedrigeren Schulabschlusses, über Effekte von Schulform und Klassenzusammensetzung hinaus, Nachteile für die motivationale Entwicklung der Schüler:innen mit sich bringen kann. Aus bildungspolitischer Perspektive geben die dargestellten Befunde weiteren Anlass dazu, die Verfahrensweise des Trackings an nicht-gymnasialen Schulformen neu zu bewerten, da zwar die Hauptschüler:innen ihre akademischen Fähigkeiten in Klasse 9 positiver einschätzten, sich dieser positive Effekt aber nicht für ihre arbeitsmarktlichen Selbsteinschätzungen und die berufsbezogene Lernmotivation finden ließ. Allerdings sollten gerade diese arbeitsmarktlichen und motivationalen Selbsteinschätzungen gegen Ende der Schulzeit kurz vor Eintritt in den Ausbildungs- und Arbeitsmarkt den zukünftigen beruflichen Werdegang in besonderer Weise mitbestimmen. Trotz der angestrebten Flexibilisierung für mehr Durchlässigkeit im Bildungssystem und den in Deutschland stattfindenden Reformen, mit denen eine Entkopplung von Abschlussgrad und Schulform angestrebt wird, deuteten unsere Daten darauf hin, dass nach wie vor Schüler:innen überwiegend die Abschlüsse erwerben, die der von ihnen besuchten Schulform entsprechen (an HS planen 61,2 % HSA, an RS planen 73,4 % MSA). Im Durchschnitt erreichten Gesamtschüler:innen die höchsten Werte in der Einschätzung von Ausbildungschancen und berufsbezogener Lernmotivation. Dies könnte neben der curricularen Besonderheit des Neigungsunterrichts, der die Verfolgung eigener fachlicher oder beruflicher Interessen ermöglicht, auch an der hohen Durchlässigkeit liegen (d. h. an der Vereinfachung von Übergängen zum nächsthöheren Bildungsabschluss ohne Schulwechsel) und für die Flexibilisierung des Erwerbs von Schulabschlüssen sprechen. Als weitere praktische Implikation sollte es daher gerade mit Blick auf die HS Ziel sein, den Erwerb von Bildungsabschlüssen noch stärker zu flexibilisieren und flächendeckend zu ermöglichen, um schrittweise den Effekt der besuchten Schulform zu minimieren.

Zusammenfassend zeigen unsere Ergebnisse auf, dass der BFLPE nur einen Teil der Varianz in den akademischen, arbeitsmarktlichen und motivationalen Selbsteinschätzungen von Schüler:innen erklärt und auch andere Mechanismen bei ihrer Herausbildung beteiligt sind (vgl. Dai 2004). Die Herausbildung akademischer, arbeitsmarktlicher und motivationaler Selbsteinschätzungen scheint also ein komplexer psychosozialer Prozess zu sein, der es erfordert, zusätzlich zur Klassenzusammensetzung auch weitere mögliche Einflussfaktoren zu berücksichtigen. Dabei ist anzunehmen, dass der antizipierte Schulabschluss nur einer von vielen Faktoren ist, die für die Selbsteinschätzungen der Schüler:innen eine Rolle spielen. Zukünftige Studien könnten deshalb auch weitere Merkmale wie z. B. Unterrichtgestaltung, Feedback von Lehrkräften oder Peers und elterliche Unterstützung in ihren Analysen berücksichtigen.