1 Einleitung

Spätestens seit der geplanten Ausweitung eines Rechtsanspruchs auf Kinderbetreuung bis zum Ende der Grundschulzeit wird intensiv über die fehlenden Fachkräfte sowie deren Qualifikation diskutiert. Je nach prognostiziertem Elternbedarf, Stellenanteilen und Verrentung derzeitiger Mitarbeiter*innen wird der Personalbedarf bis zum Schuljahr 2029/30 auf 30.000 bis 100.000 zusätzliche Fachkräfte geschätzt (Bock-Famulla et al. 2022; Rauschenbach et al. 2021). Hinzukommen die bisher nach wie vor offenen Stellen in der U6 Betreuung sowie anderen Feldern der Kinder- und Jugendhilfe, die seit rund zwei Dekaden einen kontinuierlichen, gut dokumentierten Ausbau erlebt (Autorengruppe Fachkräftebarometer 2021; Autorengruppe Kinder- und Jugendhilfestatistik 2021). Fachkräfte selbst sehen neben den räumlichen Bedingungen den unzureichenden Personalschlüssel als zentrale Herausforderung an (van Mil und Feist-Ortmanns 2022). Allein mit neu qualifizierten Fachkräften (über Studium oder Ausbildung) können die prognostizierten und bereits bestehenden Bedarfe nicht gedeckt werden. Entsprechend werden bereits jetzt Möglichkeiten eruiert (s. unten a. Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe 2022), diese Lücke durch nicht ausgebildetes Personal zu schließen und die Praxis setzt bereits jetzt pädagogisch nicht-qualifiziertes Personal ein (Danner et al. 2023). Eine Öffnung für nicht qualifiziertes Personal kann als Deprofessionalisierung (sozial)pädagogischer Tätigkeiten gelesen werden.

Eng verwoben mit den Diskussionen um die Qualifizierung der Fachkräfte ist der Qualitätsdiskurs. So werden beispielsweise bisweilen Mindeststandards gefordert, worunter auch ein Fachkräftegebot zählt (Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe 2020). Angesichts des Personalmangels und hieraus resultierender Sachzwänge werden diese Forderungen aber auch zunehmend aufgeweicht: „Personal ohne einschlägige pädagogische Qualifikation, Quereinsteiger*innen oder bereits im Feld tätiges Personal ohne entsprechende Qualifikation, aber mit praktischer Berufsfelderfahrung, muss/müssen durch Anpassungsqualifizierungen in die Lage versetzt werden, den gesetzlichen Auftrag des GaFöGs zu erfüllen“ (Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe 2022, S. 12). Entsprechende Konsequenzen, die aus der Öffnung (sozial)pädagogischer Arbeitsfelder für nicht einschlägig qualifiziertes Personal folgen, sind auf empirischer Basis kaum abzuschätzen, weil bisher Studien fehlen, die analysieren, inwiefern Qualifikation tatsächlich mit der Professionalität pädagogischen Handelns zusammenhängt.

Neben professionspolitischen Argumenten implizieren Forderungen nach Fachkräften die Annahme, dass diese aufgrund ihrer Qualifikation „besser“ handeln. Dabei bewegen sich Nicht-Qualifizierte, sogenannte (pädagogische) Lai*innen, in der Sozialpädagogik zumindest „in den Denkformen des Diskurses“ (Winkler 2021, S. 39) und so konstatierte Rauschenbach (1993, S. 220) bereits in den 1990er-Jahren, dass zwischen Profis und Lai*innen „keine eindeutigen und grundsätzlich unüberwindbaren Grenzen“ bestehen. Rauschenbach argumentiert damit am Beispiel Zivildienstleistender, die sie sich außerhalb der Teamstrukturen befinden und einen anderen Zugang zum Alltag der Adressat*innen aufbauen. Im Kontrast hierzu verfügen Fachkräfte über ein anderes Wissen sowie eine andere sozialpädagogisch, reflexive Kompetenz.

Im Unterschied zum Ehrenamt werden Lai*innen im Ganztagsschuldiskurs jedoch nicht mehr als Ehrenamtliche, sondern als zusätzliche Ressource gesehen, um dem Fachkräftemangel zu begegnen (Bock et al. im Erscheinen). Die Personalstandards in Ganztagsschulen zeigen sich sehr heterogen – so sind Einstellungsvoraussetzungen und Möglichkeiten der Weiterqualifizierung bisher nur in wenigen Bundesländern zu finden (Bock et al. im Erscheinen). Im Gegensatz dazu ist das Interesse und das Qualitätsbewusstsein für Seiteneinsteiger*innen im Lehrberuf weitaus größer (Idel 2021a; Puderbach und Gehrmann 2020). Pädagogische Lai*innen als Einsteiger*innen in den Lehrberuf werden in Begleitprogrammen verpflichtend on the job qualifiziert, um dem Lehrkräftemangel zu begegnen und gleichzeitig Standards einzuhalten. Auch ist für den Quereinstieg i. d. R. ein Studienabschluss Voraussetzung (Idel 2021a; Puderbach und Gehrmann 2020). Solche Begleitprogramme und akademischen Qualifikationen sind für den schulischen Ganztag nicht verpflichtend vorgesehen.

Jenseits professionspolitischer Forderungen nach einem Fachkräftegebot ist die Forschung bisher eine Antwort schuldig geblieben, ob qualifiziertes Personal tatsächlich auf einem höheren Niveau agiert als nicht qualifiziertes Personal. Im nachfolgenden Beitrag möchten wir dieser Frage nachgehen. Zunächst tragen wir pointiert unterschiedliche Vorstellungen von Professionalisierung zusammen und erörtern den vorhandenen Forschungsstand. Anschließend möchten wir mit Daten aus dem DFG-Projekt Laktat (Danner et al. 2023) analysieren, inwiefern der Qualifizierungsgrad Unterschiede in den pädagogischen Orientierungen, dem Wissen über Qualität im Ganztag sowie dem Reflexionsniveau erklären kann.

2 Theoretischer Hintergrund

Die Frage nach dem Einfluss der Qualifikation respektive der Bedeutsamkeit von Wissen in der Praxis wird wiederkehrend im Diskurs über die Professionalisierung der Sozialpädagogik aufgeworfen (Brielmaier und Roth 2021: Thole und Küster-Schapfl 1996b; Thole und Polutta 2011). Im Kern betreffen diese Fragestellungen auch das hinter den Annahmen stehende Professionsverständnis. Auch wenn unterschiedliche Professionsverständnisse im Rahmen Sozialer Arbeit diskutiert werden, scheinen drei zentral, die nachfolgend kurz skizziert werden. Diese drei Ansätze sind untereinander zudem hinreichend different und beleuchten jeweils unterschiedliche Facetten: erstens ein kompetenztheoretisches Verständnis, zweitens Vorstellungen, in denen sich Professionalität in der Reflexion pädagogischen Handelns kristallisiert und drittens Ansätze, in denen die Entwicklung einer (sozial-)pädagogischen Identität/Orientierung als wesentlich betrachtet werden. Diese drei Verständnisse dienen als Grundlage für die Messung eines Teilbereichs von Professionalität: Wissen, Reflexivität, pädagogische Orientierungen (s. Abschn. 3.1).

2.1 Kompetenzorientiertes Professionsverständnis

Kompetenztheoretische Professionsverständnisse gehen von einer Standardisierbarkeit und damit auch Steuerung pädagogischen Handelns aus. So können unterschiedliche Wissensbereiche ausdifferenziert und darauf aufbauend Kompetenzdomänen beschrieben werden, über die Angehörige einer Berufsgruppe verfügen sollten, um komplexe Aufgaben erfolgreich zu bewältigen. In der Lehrer*innenbildung wird in Anlehnung an Shulman (1986) zwischen allgemeinem pädagogischen Wissen, (Schul‑)Fachwissen, fachdidaktischem Wissen und Wissen über das Fachcurriculum unterschieden (Baumert und Kunter 2006). Der Transformative Dreischritt von Staub-Bernasconi (2018), der in der Sozialen Arbeit bekannter sein dürfte, weist Analogien zu kompetenzorientieren Professionsverständnissen auf, auch wenn dies nicht explizit dargestellt wird. Neben erklärendem, theoretischem Wissen der Sozialen Arbeit und ihrer Bezugswissenschaften, bedarf es auch Wissen über Arbeitsweisen und Methoden und ihrer Wirksamkeit. Im Rahmen des Ganztags könnte Wissen über die Qualität von Ganztagsangeboten inklusive ihrer Wirksamkeit als allgemeines pädagogisches (ganztagsspezifisches) Wissen verstanden werden, im Sinne der Frage, wie Ganztagsangebote durchzuführen seien.

In den Standards für die Lehrer*innenbildung der KMK (2019) wird die von Shulman vorgenommene Differenzierung aufgegriffen und weiter ausdifferenziert. Entscheidend für professionelles Handeln ist vor allem das Zusammenspiel dieser Kompetenzen inklusive der Fähigkeit, situationsabhängig Entscheidung zu treffen und entsprechend bestimmte Kompetenzen zu aktivieren. Für das Studium der Sozialpädagogik und Sozialen Arbeit liegen keine entsprechenden allgemein gültigen Kompetenzprofile vorFootnote 1, jedoch hat die KMK für die Erzieher*innen-Ausbildung ein kompetenzorientiertes Qualifikationsprofil beschrieben (KMK 2017, 2020). Diese stellt neben dem Studium den zentralen Qualifikationsweg in das Berufsfeld der Sozialen Arbeit dar (Beher et al. 1999; Kruse 2017). Für den Kontext Ganztag relevant wird hier u. a. aufgeführt, Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene in ihrer Lebenswelt zu verstehen und pädagogische Beziehungen zu ihnen zu gestalten, Bildungsprozesse anzuregen und zu unterstützen sowie das Handeln in Gruppen anzuleiten. Ebenso zählen das Respektieren von Vielfalt, Kinder als Subjekte ihrer Entwicklung zu sehen, Selbstbildungsprozesse zu fördern, eine ressourcenorientierte Grundhaltung, Übernahme von Verantwortung und Leitung von Gruppen dazu (KMK 2017).

Die Ganztagsschulforschung konnte in den vergangen Jahren Merkmale von Angeboten herausarbeiten, die mit einer positiven Entwicklung sozialer und emotionaler Kompetenzen im Einklang stehen (zusammenfassend: Sauerwein und Fischer 2020). Als Qualität guter Ganztagsangebote konnte so die Strukturierung des Angebots, die (kognitive) Aktivierung, die Unterstützung der Autonomie, Partizipationsmöglichkeiten, anerkennende Beziehungen zu den Betreuer*innen und die Orientierung der Angebote an den Alltagswelten der Kinder und Jugendlichen herausgearbeitet werden. In der ‚grauen Literatur‘ werden entsprechende Hinweise für Praktiker*innen aufbereitet, um einen qualitätsvollen Ganztag zu gestalten (Deutsches Jugendinstitut und Weiterbildungsinitiative Frühpädagogische Fachkräfte 2022; Eckert 2022; Wissenschaftsgeleiteter Qualitätsdialog zum Ganztag (QUAD) 2021)Footnote 2. Allerdings hält Pilchowski (2022) basierend auf einer Analyse von Modulhandbüchern Sozial- und Kindheitspädagogischer Studiengänge fest, dass die „Ganztagsthematik lediglich in einem Teil der Modulhandbücher aufgegriffen wird, in der Kindheitspädagogik allerdings häufiger als in der Sozialen Arbeit und i. d. R. verpflichtend für alle Studierenden“ (Pilchowski 2022, S. 15). Entsprechend bleibt unklar, ob qualifiziertes Personal im Ganztag überhaupt in der Ausbildung mit Wissen über Ganztagsschule konfrontiert wurde.

2.2 Professionalität als Reflexion pädagogischen Handelns

Ein zweites Verständnis professioneller Tätigkeiten von Sozialpädagog*innen setzt an dem strukturtheoretischen Verständnis Oevermanns (1996) an. Professionelle Tätigkeiten zeichnen sich demnach durch eine stellvertretende Bearbeitung von Krisen aus, deren Lösung (den Adressat*innen Sozialer Arbeit) selbst nicht mehr gelingt. Die Lösung oder Bewältigung soll auf Grundlage „expliziter methodischer Prinzipien und damit einhergehender wissenschaftlicher Erkenntnisse und Wissensbestände“ (Helsper 2021, S. 104) gelingen. Im Unterschied zu den kompetenztheoretischen Ansätzen erfolgt die Bearbeitung und Bewältigung von Krisen jedoch nicht standardisiert. Ebenso impliziert professionelles Handeln immer auch Möglichkeiten des Scheiterns. Besteht jedoch kein standardisierter Wissens- oder Kompetenzkanon, der in der Praxis auf den Einzelfall anzuwenden ist, betrifft dies auch die Qualifizierung. Gefordert wird entsprechend, eine reflexive, kritische Haltung einzuüben (Oevermann 1996). Dewe und Otto (2010, 21,22,a, b) schließen mit ihren Gedanken zu einer reflexiven Sozialpädagogik hier an. Kerngedanke dieses Ansatzes ist die Relationierung und Deutung von lebensweltlichen Herausforderungen der Adressat*innen mit dem Ziel der Erweiterung/Wiederherstellung von Autonomie. Ideen sozialtechnologischer Steuerung im Sinne direkter Handlungsanleitungen für Praktiker*innen (s. hierzu auch Wirkungsforschung) werden zurückgewiesen, weil professionelles Handeln über die reinen Wissenskomponenten hinausgeht (Dewe und Otto 2010). Mehr noch: Die expertokratische Anwendung von Wissen kann sogar zum Problem werden, wenn die lebenspraktische Individualität nicht berücksichtigt wird (Köngeter 2017). In diesem Sinne wird die Relevanz des reflexiven Umgangs mit Wissen betont (Dewe 2013; Dewe und Otto 2010). Überschneidungen und Parallelen zu den Arbeiten von Schön (1988) sind offensichtlich. Für Schön (1988) ist ebenso das Reflektieren – differenziert zwischen reflecting on action als nachgelagerte Reflexion und reflecting in action als in der konkreten Handlung selbst vollzogene Reflexionsleistungen – zentral für professionelles Handeln im pädagogischen Kontext. Die Erarbeitung pädagogischer Antinomien von Helsper (2016, 2021) kann als Konkretisierung der Herausforderungen pädagogischen Handelns gelesen werden. Pädagogische Antinomien können demnach nicht gelöst werden, sondern nur durch Reflexion (von Professionellen) auf unterschiedlichen Niveaustufen bearbeitet werden. Eine entsprechende (akademische) Qualifizierungsphase sollte zu einem höheren Reflexionsniveau beitragen.

2.3 Professionelle Orientierungen

Ein dritter Ansatz fokussiert weniger Wissen und Reflexion als vielmehr die Herausbildung einer professionellen Identität/Orientierung respektive eines professionellen Habitus. Auch dieser Ansatz ist sowohl in der Lehrer*innenbildung (Idel 2021b), als auch der Sozialpädagogik (Becker-Lenz et al. 2013; Miller et al. 2021) vertreten. Es wird empirisch belegt davon ausgegangen, dass weniger wissenschaftliches Wissen, sondern biografische Orientierungen das Handeln in der Praxis leiten (s. Abschn. 2.4) und dementsprechend argumentiert, die Herausbildung einer professionellen Identität im Studium voranzubringen (Harmsen 2004; Miller et al. 2021). Es soll eine Identifikation mit der Berufsrolle erfolgen unter selbstreflektierendem Bezug auf eigene biografische Erfahrungen (Bourmer 2012). Herausgearbeitet wurden in vorliegenden Arbeiten unterschiedliche Modi der Identitätsentwicklung in Studium und/oder Ausbildung (Fuchs-Rechlin und Züchner 2018; Miller et al. 2021). Diese können von keinen Veränderungen der professionellen Identität durch ein Studium reichen, geringfügigen Modifikationen, bis hin zu grundlegenden Veränderungen des Denkens und Handelns. Eine professionelle Identität kann in den handlungsbelasteten Alltagssituationen der Praktiker*innen als Kompass fungieren. Oftmals ist es aufgrund des Handlungsdrucks nicht möglich, umfassend und explizit auf Wissen zurückzugreifen und die Situation ‚in Action‘ zu reflektieren. Die professionelle Identität kann hier pädagogisches Handeln rahmen.

Ferner wird der Zusammenhang zwischen Überzeugungen und Orientierungen auch in kompetenztheoretischen Arbeiten aufgegriffen (Baumert und Kunter 2006), beispielsweise gegenwärtig in Diskussionen um Unterricht in kulturell-ethnisch heterogenen Lerngruppen (s. z. B.: Gebauer und McElvany 2020). Diese Arbeiten zeigen Zusammenhänge von Kompetenzen und Orientierungen auf.

Pädagogisch Nicht-Qualifizierte haben nicht die Gelegenheiten erhalten, ihre eigenen Einstellungen in einer Ausbildung/einem Studium zu reflektieren und zu verändern. Infolgedessen richten sie sich auf der Suche nach Orientierungen im pädagogischen Alltag eher an institutionellen Vorgaben aus und weniger an den Bedürfnissen der Adressat*innen. Beobachtungsstudien zeigen beispielsweise, Orientierungen und Imitationen des Nicht-Qualifizierten Personals an Unterricht und Schule auf (u. a. Gosse 2021; Graßhoff et al. 35,36,a, b), anstelle der Orientierung an Bedarfen der Kinder. Aber auch bei qualifiziertem Personal werden grundlegende Orientierungen nicht zwangsläufig durch ein Studium verändert (s. z. B. Schweppe 2001; Abschn. 2.4). Bei Erzieher*innen konnten Betz et al. (2020) in einem standardisierten Fragebogen beispielsweise auch autoritäre Erziehungseinstellungen abbilden. Es ist entsprechend davon auszugehen, dass Nicht-Qualifizierte sich eher an den institutionellen Rahmungen des Schulischen im Ganztag orientieren, gleichwohl sind die vorliegenden empirischen Hinweise hierzu nicht eindeutig (s. auch Abschn. 2.4). Es ist entsprechend davon auszugehen, dass im Ganztag eine stärkere Orientierung am Kind durch sozialpädagogische Fachkräfte eher beobachtbar ist als durch pädagogische Lai*innen, dies aber einer empirischen Validierung bedarf.

Trotz der Unterschiedlichkeit der professionstheoretischen Bezüge kann festgehalten werden, dass Wissen, Reflexion und pädagogische Orientierungen als Teilaspekte von Professionalität begriffen werden können.

2.4 Forschungsstand: Wissen und sozialpädagogisches Handeln

Empirische Erkenntnisse hinsichtlich des professionellen Handelns sozialpädagogischer Akteur*innen können als bisweilen ernüchternd gelesen werden. Thole und Küster-Schapfl (1996a, 1997) zeigten, dass Sozialpädagog*innen ihr Handeln in ihrer alltäglichen Praxis weniger basierend auf wissenschaftlichem Wissen aufbauen, als viel eher ihren biografischen Erfahrungen vertrauen. Für Erzieher*innen konnte Cloos (2008) diese Erkenntnisse weitestgehend replizieren (s. auch: Thole et al. 2016). Faas (2013) kommt zu dem Ergebnis, dass Erzieher*innen die Wissensaneignung verstärkt durch eine enge Anbindung an konkretes Handeln vollziehen. Anstelle einer Orientierung an Fachwissen kann hier ebenfalls eine erfahrungsbezogene Orientierung konstatiert werden. Die befragten Erzieher*innen bevorzugen handlungsnahes Wissen, während theoriebezogene Wissenskomponenten vor allem bei der Planung von pädagogischen Situationen und der Elternarbeit herangezogen werden. Dies korrespondiert durchaus mit Forschungsergebnissen aus der Sozialen Arbeit, die darauf hinweisen, dass wissenschaftliches Wissen insbesondere für Begründungen gegenüber Dritten und beim Verfassen von Berichten Relevanz erhält (s. hierzu u. a. Finne et al. 2022).

Schweppe (2001, 2002) befragte um die Jahrtausendwende Studierende und kam zu dem Befund, dass „bisherige biografische Erfahrungen und hervorgebrachte Orientierungssysteme während des Studiums kaum Veränderung erfahren“ (Schweppe 2001, S. 281). Sozialpädagogische Praxis ist demnach weniger durch Fachlichkeit ausgezeichnet, sondern die biografischen Erfahrungen der Professionellen erscheinen als maßgeblich (Graßhoff und Schweppe 2013). So wird resümierend festgehalten, dass es „vor allem biographische Bezüge [sind], die von den Fachkräften als Begründung für ihre Entscheidungen angeführt werden“ (Sehmer und Thole 2021, S. 185).

Auch ein Blick auf internationale Arbeiten bestätigt diese Argumentationslinie zunächst. In der Praxis wird in erster Linie auf die eigenen Erfahrungen sowie das Wissen von Kolleg*innen zurückgegriffen – die in der Ausbildung angeeigneten Wissensbestände spielen eine untergeordnete Rolle (Finne et al. 2022; Iversen und Heggen 2016). Brielmaier und Roth (2021) konnten in einer Befragung unter Sozialarbeitenden (in Deutschland) drei Typisierungen herausarbeiten, die kongruent zu den besprochenen Arbeiten gelesen werden können. Rund ein Drittel bezieht wissenschaftliches Wissen in der eigenen Arbeit mit ein, ein zweites Drittel tut dies gelegentlich und das letzte Drittel ist skeptisch gegenüber diesem eingestellt. Theoretisch überzeugend, aber womöglich auch als Rettung der sozialpädagogischen Profession wird argumentiert, aus diesen Befunden nicht zu schlussfolgern, in der sozialpädagogischen Praxis würde ohne Bezug zu wissenschaftlichem Wissen gehandelt. Vielmehr sickert das wissenschaftliche Wissen in die Routinen der Praktiker*innen ein und ist entsprechend als solches nicht mehr zu identifizieren (Thole 2020; Thole und Polutta 2011). Letztendlich zielen solche Argumentationen auf die Entwicklung eines sozialpädagogischen Habitus bzw. einer sozialpädagogischen Identität (s. hierzu u. a. Miller et al. 2021; Abschn. 2.3) und lassen die Frage offen, ob dieses ‚Einsickern‘ auch in einem wie auch immer ausgedrückten ‚besseren‘ Handeln und anderen Orientierungen abgebildet werden kann.

Zusätzlich stellen solche Befunde die sozialpädagogische Profession vor schwierige und bisweilen unangenehme Fragen, insbesondere, wenn es an Fachkräften mangelt. Wird zudem berücksichtigt, dass neben Ausbildung und/oder Studium auch in der Praxis eine zweite Phase der Professionalisierung stattfinden sollte (Helsper 2021), sind Forderungen nach einem Fachkräftegebot nur bedingt argumentativ stichhaltig. Pointiert formuliert bedarf es zumindest Hinweisen, dass qualifiziertes Personal tatsächlich über einen höheren Umfang an Wissen verfügt und eine elaboriertere Reflexionsfähigkeit aufzeigt als nicht einschlägig Qualifizierte. Ebenso sollten ihre pädagogischen Orientierungen anders sein und sich von sozialisations- oder institutionsbedingten Orientierungen unterscheiden. Ein solcher Vergleich ist bisweilen jedoch schwierig, da aufgrund des Fachkräftegebots eher in den Randbereichen der Sozialpädagogik sowohl qualifiziertes als auch nicht qualifiziertes Personal eingestellt ist.

Im internationalen Diskurs finden sich zumindest Hinweise hierzu: Early Childhood teacher mit einem Bachelorabschluss verfügen im Vergleich zu Absolvent*innen mit einem Associated Degree über mehr inhaltliches Wissen zur Kinderentwicklung (Beisly und Lake 2021). Führen akademische Fachkräfte extracurriculare Angebote durch, korreliert dies mit positivem Sozialverhalten der teilnehmenden Jugendlichen sowie der Qualität der Angebote (Cross et al. 2010; Gottfredson et al. 2007). Auch für den Ganztag konnten Graßhoff et al. (35,36,a, b) herausarbeiten, dass nicht qualifiziertes Personal oftmals nur randständig in Schule eingebunden ist. Zu erklären ist dies zum Teil jedoch auch über entsprechend prekäre und befristete Beschäftigungen, aber auch der Anstellungsträger kann hier entscheidend sein (Rother et al. 2021). Des Weiteren konnte Idel (2021a) herausarbeiten, dass nicht qualifiziertes Personal handlungspraktisch pädagogische Antinomien (Helsper 2021) durch Entgrenzung eines Pols aufzulösen versucht.

2.5 Fragestellung

Entsprechend dieser Ausgangslage möchten wir in dem Beitrag der Frage nachgehen, ob qualifiziertes Personal empirisch nachweisbar auf einem höheren Niveau agiert als nicht qualifiziertes Personal. Hierfür werden erstens die pädagogischen Orientierungen des Personals untersucht. Weil diese mit biografischen Erfahrungen zusammenhängen und Schule zugleich als Institution mit ihrer eigenen Ordnung wirkmächtig ist, entsprechend eine (unkritische) Orientierung an schulischen Vorgaben allzu schnell stattfinden kann (Buchna et al. 2016; Rother 2019), soll analysiert werden, ob es sozialpädagogischen Fachkräften gelingt, ihre Professionsideale beizubehalten und sich dementsprechend stärker am Kind zu orientieren (im Gegensatz zu einer Orientierung an schulischen Vorgaben). Zweitens möchten wir in Bezug auf kompetenztheoretische Arbeiten analysieren, ob Fachkräfte über mehr Wissen in Bezug auf die Durchführung qualitativ hochwertiger Angebote verfügen. Abschließend wird die Reflexivität in den Blick genommen und betrachtet, inwiefern die Qualifikation einen Einfluss auf die Bearbeitung einer antinomischen Situation in der Ganztagsschule hat. Mit diesen konkreten Fragen und Operationalisierungen greifen wir selbstredend nur Teilaspekte von Professionalität auf.

  1. 1.

    Orientiert sich qualifiziertes (sozialpädagogisches) Personal stärker am Kind als an schulischen Rahmungen?

  2. 2.

    Verfügt (sozialpädagogisch) qualifiziertes Personal über mehr Wissen bezogen auf die Qualität der Ganztagsangebote?

  3. 3.

    Bearbeitet (sozialpädagogisch) qualifiziertes Personal pädagogische Antinomien auf einem höheren Reflexionsniveau?

3 Methode

Im Frühjahr 2022 wurde in drei kontrastiven Regionen in Niedersachsen das gesamte pädagogisch tätige Personal (mit Ausschluss der Lehrkräfte) an Ganztagsschulen mittels Online-Fragebogen befragt. Die für den Ganztag Verantwortlichen wurden telefonisch kontaktiert und ihnen E‑Mails sowie Postkarten zur Weitergabe an die (nicht explizit im Unterricht tätigen) Mitarbeiter*innen im Ganztag zur Verfügung gestellt. So konnte ein niedrigschwelliger Zugang zu dem Online-Fragebogen ermöglicht werden und zugleich unterschiedliche Statusgruppen (Qualifizierte und Nicht-Qualifizierte) erreicht werden. Es haben insgesamt 317 Personen an der Erhebung teilgenommen. Das Durchschnittsalter lag bei 43 Jahren (SD 13,7). Größtenteils waren die Proband*innen weiblichen Geschlechts (77 %). Die Erhebung fand im Frühjahr 2022 statt. Die Bearbeitung des Fragebogens dauerte circa 20 min (Danner et al. 2023).

Inhalt der Befragung waren unter anderem selbst konstruierte Textvignetten, die auf die Erhebung von Professionalität zielten. Thematisch orientierten die Vignetten sich an üblichen Situationen aus dem Ganztag. Das Verfahren ist bereits aus der Lehrer*innen-Professionalitätsforschung (Paseka und Hinzke 2014) und der Qualifizierung frühpädagogischer Fachkräfte (Fröhlich-Gildhoff et al. 2011) bekannt.

Um die Forschungsfragen zu beantworten, wurden drei (latente) Regressionsanalysen mit dem Programm R (R Core Team 2022) Paket ‚lavaan‘ (Rosseel et al. 2022) berechnet. Als Kontrollvariablen wurden neben der Qualifizierung das Alter, die Berufserfahrung in Jahren im Ganztag (um auf eine Qualifizierung in der Praxis zu kontrollieren) sowie der Beschäftigungsgrad berücksichtigt (siehe 3.2).

Als abhängige Variablen wurden die Schul- versus Kindorientierung gewählt, das Wissen über die Qualität sowie das Reflexionsniveau (s. 3.1). Fehlenden Werten wurde mit dem Full Information Maximum Likelihood (FIML) begegnet. Beim FIML werden alle Fälle in die Analyse mit einbezogen und für jeden Fall eine eigene Likelihood unter Berücksichtigung aller für diesen Fall zur Verfügung stehenden Werte berechnet. Voraussetzung für den FIML ist die Annahme, dass die fehlenden Werte zufällig zustande kommen. Hierbei werden keine fehlenden Werte imputiert, sondern eine Schätzung auf Grundlage aller beobachteten Populationsparameter vorgenommen (Lüdtke et al. 2007; Lüdtke und Robitzsch 2012). Auch wenn die Annahme des Missing at Random in der Praxis oftmals nicht haltbar ist, führt eine Verwendung der FIML-Methode zu sehr guten Schätzungen (Lüdtke und Robitzsch 2012). Während bei den abhängigen Variablen Wissen und Reflexionsniveau Freitexteingaben recodiert und ein Summenwert berechnet wurde, konnte die Schul- vs. Kindorientierung als latente Skala modelliert werden.

3.1 Abhängige Variablen

3.1.1 Schul- vs. Kindorientierung

Um die pädagogischen Orientierungen des Personals zu erfassen, wurde die Skala „Schul- vs. Kindorientierung“ für das Projekt Laktat konzipiert. Es handelte sich um eine Analogskala mit sich gegenüberstehenden gegensätzlichen Aussagen, bei der die Befragten sich mit Hilfe eines Schiebereglers jeweils für eine Seite entscheiden mussten (siehe Tab. 1). Hierbei konnten sie wählen zwischen besonders kindorientiert (= 0) oder besonders schulorientiert (= 10). Mit dem Zwang, sich für eine Kind- oder Schulorientierung zu entscheiden, soll bisherigen Erfahrungen Rechnung getragen werden, dass bei Abfragen nach bestimmten Zielen im Ganztag zumeist alle genannten Ziele hohe Zustimmungswerte erfahren und entsprechend kaum Varianz vorliegt (s. unten a. StEG-Konsortium 2019). Zugleich bildet dies eher die pädagogische Praxis ab, da in einem auch im Ganztag begrenzten zeitlichen Rahmen nicht alle Zielvorstellungen des Ganztags von Kindorientierung bis hin zur Kompensation von Schulleistungen zugleich erfüllt werden können und entsprechende Entscheidungen getroffen werden müssen. Theoretisch rekurriert die Skala auf unterschiedliche pädagogische Orientierungen (s. Abschn. 2.3) und greift insbesondere auf in der Sozialpädagogik geführte Diskussionen zurück, in der Orientierungen und Vereinnahmungen der Sozialen Arbeit durch die Schule kritisiert und reflektiert werden (u. a. Graßhoff & Sauerwein 2020). Hierbei handelt es sich weniger um eine Analyse möglicher Kooperationen von Schule und Sozialpädagogik, sondern um beobachtete Assimilierungen von Sozialpädagogik in Kooperation mit Schule. Die Skala wurde im Forschungsteam und basierend auf vorangestellten Pre-Tests für das Forschungsprojekt neu entwickelt.

Tab. 1 Skala Schul- vs. Kindorientierung

Der Mittelwert von 3,61 zeigt tendenziell in die Richtung einer stärkeren Kindorientierung, aber die Standardabweichung von 2,04 deutet zudem auf eine entsprechende Streuung in den Antworten. Die mit der Konstruktion der Skala Schul- vs Kindorientierung verknüpfte Intention mehr Varianz abbilden zu können wurde folglich erfüllt. Auch sind die Fit-Werte, wie der Cronbach’s alpha Wert von 0,79 zufriedenstellend. Die Berechnungen wurden mittels konfirmatorischer Faktorenanalyse (CFA) (Gäde et al. 2020) in R mit dem Paket ‚lavaan‘ (Rosseel et al. 2022) durchgeführt (siehe Tab. 2).

Tab. 2 Fit-Werte Skala Schul- vs. Kindorientierung

3.1.2 Wissen über Qualität

Das Wissen über die Qualität von Ganztagsangeboten wurde mittels Textvignette erhoben. Zur Konstruktion wurde sich an den vom Wissenschaftsgeleiteten Qualitätsdialog zum Ganztag formulierten Qualitätsdimensionen für erfolgreich durchgeführte Angebote (Wissenschaftsbegleiteter Qualitätsdialog zum Ganztag 2021) – einer Transferpublikation für Praktiker*innen – orientiert. Die Teilnehmenden erhielten folgenden Text, den sie mittels Freitextangabe beantworten konnten:

„Bitte beschreiben Sie, was Sie bei der konkreten Durchführung eines Angebots als wichtig erachten in wenigen Stichpunkten. Bitte benennen Sie 6 zentrale Qualitätsdimensionen.“

Zur Auswertung wurde die Programmiersprache R genutzt (R Core Team 2022). Mittels Text Mining (Paket ‚tm‘) (Feinerer und Hornik 2020) wurden einzelne Schlüsselwörter innerhalb der Antworten gezählt, um für die Kategorien Zeitnutzung/Strukturierung, (kognitive) Aktivierung, Autonomieunterstützung, Partizipation, Alltagsorientierung und Anerkennung jeweils maximal einen Punkt zu vergeben (siehe Tab. 3). Die Stichworte wurden zunächst in einem Expert*innenteam empirisch zusammengetragen und dann in mehreren Durchläufen stichprobenartig auf Grundlage der Freitextangaben überprüft und ergänzt (siehe Tab. 3).

Tab. 3 Schlagworte Textmining

Im Mittel wurden 2,73 unterschiedliche Qualitätsaspekte benannt (siehe Tab. 4). Ähnlich wie bei der nachfolgenden Frage zur Reflexion liegen hier jedoch nicht von allen Teilnehmenden Antworten vor. Beide Fragen befanden sich am Ende des Fragebogens, weil befürchtet wurde, dass offene Eingaben und die Konstruktion der Frage als vermeintlicher „Wissenstest“ zu Abbrüchen führen könnten. Tatsächlich sind Abbrüche des Fragebogens aber bereits vorher zu verzeichnen.

Tab. 4 Skala Wissen über Qualität im Ganztag

3.1.3 Reflexivität

Die Reflexivität der Befragten wurde ebenfalls mittels Textvignette gemessen, weil ein Verfahren mit vorgegebenen Antworten dieser Idee zu widersprechen scheint. Der theoretische Rahmen bezieht sich auf die von Helsper (2016) formulierten pädagogischen Antinomien, die dem pädagogischen Handeln immanent sind. Als Antinomie wurde eine für den Ganztag typische Situation des Aushandelns von Freiwilligkeit, Teilnahmezwang qua Anmeldung (Graßhoff et al. 2019a) und elterlichen Betreuungsbedarfen gewählt. Der Impuls lautete:

„Mohammed (10J) ist bei Ihnen im Ganztagsangebot. Seit 3 Wochen äußert er bereits, dass er keine Lust mehr hat zu kommen und lieber nach Hause möchte. Er findet es unfair, dass sein bester Freund nach Hause darf und er hier sein muss. Außerdem ist sein anderer Freund in der Sport-AG und diese sei ‚viel cooler‘. Bis zur Neuwahl der Angebote dauert es noch drei Monate. In der Schule, in der Sie arbeiten, besteht jedoch Anwesenheitspflicht im Ganztag und Mohammeds Eltern brauchen die Betreuung. Skizzieren Sie kurz Ihr Vorgehen.“

Die Vignette konnte mittels Freitextes beantwortet werden, wobei in Abhängigkeit der Antwort zwischen 0 und 3 Punkten vergeben wurden (siehe Tab. 5). Jeweils ein Punkt wurde vergeben, wenn in den Antworten zu erkennen war, dass

  • (unterschiedliche) Möglichkeiten erarbeitet wurden, z. B.:

„Wenn er einen Tauschpartner aus der Sport-AG findet, darf er in die Sport-AG wechseln und das andere Kind geht in Mohammeds AG“.

  • eine reflexive Perspektivenübernahme zu erkennen war, z. B.:

„Situation mit Mohammed und seinen Eltern thematisieren. Möglichkeiten suchen, sein Interesse am Ganztag zu vergrößern. Möglichkeiten suchen, eine alternative Betreuungsform zu installieren. Eventuell AG-Wechsel“.

  • den Befragten deutlich wird, dass das grundlegende Problem nicht gelöst werden kann, z. B.:

„Ich werde auf das Kind eingehen und zeigen, dass ich ihn verstehe, dass er gern mit seinem Freund spielen möchte. Aber auch aufzeigen, dass die Eltern ihn für den Ganztag angemeldet haben. Ich frage, was er sich wünscht und ob wir es umsetzen können“.Footnote 3

Tab. 5 Skala Reflexivität

Das Kategoriensystem wurde in einem Expert*innenteam erstellt und dann von zwei Beurteilerinnen einzeln angewandt. Die codierten Textstellen wurden anschließend miteinander verglichen. Es zeigt sich, dass die Codierung zu > 80 % einheitlich war und sich das Codiersystem somit als konsistent erweist.

3.2 Unabhängige Variablen

Um die Forschungsfrage zu beantworten, wurde die Qualifikation der Befragten anhand einer vierstufigen Abfolge berücksichtigt (0 = keine Qualifikation 1 = Weiterqualifizierte/Studierende, 2 = abgeschlossene pädagogische Ausbildung, 3 = abgeschlossenes pädagogisches Studium (siehe Tab. 6)). In der Zuordnung zählt jeweils die höchste erreichte Zertifizierung, sodass beispielsweise studierte Erzieher*innen in der Kategorie ‚Abgeschlossenes Päd. Studium‘ verortet werden. Bei Personal in Weiterqualifizierte/Studierende handelt es sich um aktuell Studierende eines pädagogischen Studiums und Personal ohne pädagogische Qualifikation, die jedoch eine spezifische Weiterbildung für den Ganztag im Umfang von mindestens 160h absolviert haben. Unter ‚pädagogischen Lai*innen‘ verstehen wir Personal, das keinerlei pädagogischen Abschluss oder Zertifikat vorweisen kann. Diese Personalkategorie stellt mit 25,5 % die zweitgrößte Gruppe dar. Ehrenamtliche wurden nicht gesondert erfasst, sondern befinden sich, je nach vorhandener Weiterqualifizierung, unter den ‚pädagogischen Lai*innen‘ oder in der Kategorie ‚Weiterqualifizierte‘.

Tab. 6 Skala Qualifikation

Daneben wurde der Einfluss des Alters (MW = 43,1 SD = 13,66 N = 308), der Berufserfahrung in Jahren (MW = 6,18 SD = 6,07, N = 296) und der Anstellungsart (hauptberuflich 71 % – vs. nebenberuflich 29 %) (N = 306) in die Regressionsanalysen mit aufgenommen. Die Variablen spiegeln eine Idee von Professionalisiertheit wider; mit steigender Berufserfahrung und steigendem Alter steigt im Sinne einer Qualifizierung in der Praxis auch die Professionalisiertheit. Das Alter kann zudem als Kontrollvariable für Pädagogische Orientierungen herangezogen werden, welche von der Biografie abhängig sind. Das Anstellungsverhältnis ‚hauptberuflich‘ wurde mit aufgenommen, um auch mögliche prekäre Beschäftigungen zu berücksichtigen, zugleich aber auch die Professionalisiertheit abzubilden. Multikollinearität liegt nicht vor (r < 0,4). Für die Aufnahme von Kontrollvariablen wie MigrationshintergrundFootnote 4 und GeschlechtFootnote 5 liegen keine Hypothesen vor, weshalb hierauf verzichtet wurde.

4 Ergebnisse

Nachfolgend werden die Ergebnisse entlang der drei Fragestellungen (s. 2.5) aufgeführt. Zunächst wird der Einfluss der Qualifizierung auf die Schul- vs. Kindorientierung betrachtet (4.1). Anschließend wird der Einfluss der Qualifikation hinsichtlich ganztagspezifischen Wissens in Bezug auf die Qualität der Angebote analysiert (4.2) und abschließend der Effekt der Qualifikation auf das Reflexionsniveau berechnet (4.3).

4.1 Schul- vs. Kindorientierung

Ergebnisse der Regressionsanalyse (siehe Tab. 7) zeigen einen signifikanten negativen Effekt der Qualifikation auf die Schulorientierung (β = −0,154; p < 0,05). In der zweipoligen Skala bedeutet dies, dass der Grad der Qualifikation mit einer stärkeren Kindorientierung und einer geringeren Schulorientierung im Zusammenhang steht. Die Berufserfahrung (p > 0,05) sowie die Art der Anstellung (p > 0,05) hat hingegen keinen statistisch bedeutsamen Einfluss, jedoch scheint sich älteres Personal eher an schulischen Prinzipien auszurichten (β = 0,203; p < 0,05).

Tab. 7 Regression Schulorientierung

4.2 Wissen über Qualität

Das Wissen über Qualität wurde wie beschrieben über eine Freitexteingabe erfasst. Hier besteht kein signifikanter Effekt der Qualifikation auf die Anzahl der genannten Qualitätsdimensionen (p > 0,05). Ebenso haben das Alter (p > 0,05) sowie die Berufserfahrung (p > 0,05) des Personals im Ganztag keinen statistisch bedeutsamen Einfluss auf das Wissen über die Qualität von Ganztagsangeboten (Tab. 8). Ist Personal jedoch hauptberuflich eingestellt, kann ein positiver Zusammenhang zum Wissen über die Qualität von Ganztagsangeboten festgestellt werden (β =0,170; p < 0,05).

Tab. 8 Regression Wissen über Qualität

4.3 Reflexivität

In der abschließenden Analyse zeigt sich, dass Qualifizierung mit einer höheren Niveaustufe der Reflexion pädagogischer Antinomien, hier im Konkreten die Bearbeitung von Freiwilligkeit, Teilnahmezwang und elterlichen Betreuungsbedarfen, im Zusammenhang steht (β = 0,183; p < 0,05). Die Berufserfahrung (p > 0,05), das Alter (p > 0,05), sowie die Beschäftigungsart (Hauptberuflich) (p > 0,05), stehen hingegen nicht in einem statistisch bedeutsamen Zusammenhang mit der Reflexivität (Tab. 9).

Tab. 9 Regression Reflexivität

5 Diskussion

In dem vorliegenden Beitrag wurde am Beispiel des Personals im Ganztags mit Regressionsanalysen untersucht, inwiefern eine pädagogische Qualifikation mit pädagogischen Orientierungen, Wissen über die Qualität von Ganztagsangeboten sowie der Bearbeitung einer ganztagstypischen pädagogischen Antinomie (Freiwilligkeit, Teilnahmezwang, Betreuungsbedarfe) im Zusammenhang stehen. Ebenso wurde betrachtet, ob die Berufserfahrung – als Proxy für eine Qualifizierung in der Praxis – auf oben genannte Variablen einen Einfluss hat. Zudem wurde für das Alter sowie die Art der Tätigkeit (haupt- vs. nebenberuflich) kontrolliert.

Unsere Ergebnisse zeigen, dass eine (sozial-)pädagogische Qualifikation nachweislich mit einer stärkeren Kindorientierung und einer geringeren Schulorientierung im Zusammenhang steht. Unsere Daten geben keinen Aufschluss über das konkrete pädagogische Handeln, die ethnografisch angelegte Arbeit von Gosse (2020) gelangt aber zu vergleichbaren Resultaten. Sie arbeitet heraus, dass Jugendarbeiter*innen zwar gezwungen wurden, im Ganztag bestimmte schulische Aufgaben (Aufsicht) zu übernehmen, sie irritieren und ironisieren dies aber in ihrem Verhalten, in dem sie beispielsweise mit Kindern spielen und so im Sinne der Jugendarbeit als ‚Andere unter Gleichen‘ (Cloos et al. 2009) agieren. Eine sozialpädagogische Qualifikation hängt demnach mit einer eher schuldistanzierten und stärker kindbezogenen Orientierung zusammen.

Darüber hinaus zeigen unsere Analysen auch einen positiven Zusammenhang der Qualifikation mit der Bearbeitung des Spannungsverhältnisses zwischen Freiwilligkeit, Teilnahmezwang und Betreuungsbedarfen der Eltern. Im Sinne von Helsper (2016) verstehen wir dies als eine pädagogische Antinomie, die nicht gelöst, aber auf unterschiedlichen Niveaustufen bearbeitet werden kann. Fachkräfte sind aufgefordert, sich hierzu zu positionieren und auch Idel (2021a) konnte beobachten, dass sich Lai*innen der umsichtigen Bearbeitung solcher Antinomien entziehen. Unsere Ergebnisse stärken diese Beobachtung und sind zudem professionstheoretisch interessant, denn ein Einfluss der Berufserfahrung auf das Reflexionsniveau konnte nicht gefunden werden. Dies spricht dafür, dass Reflexivität eine in Ausbildung und/oder Studium erworbene Befähigung darstellt, die nicht qua Praxiserfahrung angeeignet werden kann. Die Bearbeitung entsprechender herausfordernder Praxissituationen geht über die reine Wissenskomponente hinaus (Dewe und Otto 2010) und im Sinne Helsper (2021) kann ausgeführt werden, dass Handeln in der Praxis zwar einer reflexiven Wissensgrundlage bedarf, dies aber einem hohen Handlungs- und Zeitdruck unterliegt. Pädagogischen Lai*innen, so kann hieraus geschlussfolgert werden, fehlt jedoch diese kritisch reflexive Haltung, die im Studium oder Ausbildung eingeübt, in der unter Handlungsdruck stehenden Praxis selbst jedoch nicht mehr angeeignet werden kann. Dies ist auch mit Blick um Diskussionen über duale Studienformate und die praxisintegrierte Ausbildung zu Erzieher*innen ein zentrales Argument, reine wissenschaftsbezogene Qualifikationsphase beizubehalten, um Reflexionsfähigkeiten einzuüben.

Bezüglich des allgemeinen Wissens ist hingegen eine Nachqualifizierung eher möglich. Ein Zusammenhang zwischen der Qualifikation und dem Wissen über die Qualität von Ganztagsangeboten konnte nicht gefunden werden. Erklärt werden kann dies womöglich auch darüber, dass die Thematik Ganztag im Studium (Pilchowski 2022), aber auch in der Erzieher*innen-Ausbildung (KMK 2017), nur eine untergeordnete Rolle spielt. Hingegen scheinen hauptberuflich Tätige signifikant mehr Qualitätsdimensionen zu benennen. Ob sie sich dies in der Praxis selbst angeeignet haben oder aber in entsprechender Literatur oder Transferveranstaltungen vermittelt wurde, können wir nicht beantworten.

In Bezug auf eine Aufweichung des Fachkräftegebots sprechen unsere Ergebnisse für eine skeptische Haltung. Womöglich kann über Nachqualifizierungsmaßnahmen Wissen weitergegeben werden und damit bestimmte Angebote auch gut ausgeführt werden. Für die alltäglichen herausfordernden und widersprüchlichen Situationen des pädagogischen Alltagsgeschehens bedarf es aber an qualifiziertem Personal.

5.1 Limitierungen der Studie

Die vorgelegte Studie ist unseres Wissens im Kontext Ganztag und Sozialpädagogik die erste ihrer Art. Gleichwohl bestehen Limitierungen: Bei der Abfrage von Wissen über die Qualität im Ganztag in einem Onlinefragebogen könnten die Befragten externe Hilfe (Kolleg*innen, Internetrecherche) in Anspruch genommen haben. Es handelt sich hierbei jedoch nicht um einen Leistungstest, wie in der Schul- und Unterrichtsforschung. Selbst wenn externe Hilfe herangezogen wurde, wäre dies als Beschaffung von zusätzlichem Wissen durchaus in Übereinstimmung mit den Erwartungen an Fachkräfte zu bringen. Das Wissen über die Qualität im Ganztag hätten die Befragten sich in diesem Fall (kurzfristig) angeeignet. Des Weiteren war die Abfrage kein High-Stack Test. Durch fehlerhafte und unvollständige Antworten erfolgten keine Konsequenzen für die Befragten, so dass nicht von einer substanziellen Inanspruchnahme von Hilfe auszugehen ist. Bezüglich der standardisierten Auswertung in Form von Text Mining erweist sich die deutsche Sprache auf Grund unterschiedlicher Wortendungen und Zusammensetzung von Wörtern als herausfordernd. Die Liste der relevanten Begriffe wurde deshalb in mehreren Durchläufen erprobt und angepasst (Tab. 3). Um möglichen Verzerrungen entgegenzutreten, haben wir zudem mit einer engeren Begriffsdefinition die gleichen Analysen durchgeführt, ohne substanzielle Änderungen der Ergebnisse festzustellen. Mit Bezug auf die Arbeiten von Baumert und Kunter (u. a. 2006) wäre es auch gewinnbringend, Persönlichkeitsmerkmale als weitere Variable mit aufzunehmen. Persönlichkeitsmerkmale wurden aber in der Studie nicht erfasst.

Nicht beantworten können wir mit unseren Analysen, wie die Qualifikation das Handeln in der Praxis selbst beeinflusst. In Bezug auf die Arbeiten von Kolleg*innen (u. a. Idel 2021a), sind hier jedoch vorsichtige Rückschlüsse möglich, die dahingehend interpretiert werden, dass qualifiziertes Personal auch in der Praxis auf einer höheren Niveaustufe agiert. Zukünftige Forschungsarbeiten können dort ansetzten und Fragen der Qualität im Ganztag (s. hierzu Sauerwein und Fischer 2020) mit der Qualifikation des Personals verbinden.

Ein weiterer neuralgischer Aspekt unserer Analysen betrifft die scheinbare Aporie des Messinstruments der Reflexivität. Aus Perspektive eines reflexiven Professionsverständnisses wird die Nicht-Standardisierbarkeit betont. In unserem Erhebungsinstrument und Analysen wurde Reflexivität jedoch standardisiert gemessen. Allerdings verbergen sich hinter den Antworten höchst unterschiedliche Umgangsweisen mit der exemplarisch dargestellten Situation. So ist es durchaus möglich, Reflexivität mit einem Fragebogen, offenen Antwortformaten und entsprechender Codierung valide zu erheben, wie nachfolgende Beispiele zeigen: Während eine Person vordergründig die Perspektiven des Kindes und der Eltern einnimmt

„Ich werde auf das Kind eingehen und zeigen, dass ich ihn verstehe, dass er gern mit seinem Freund spielen möchte. Aber auch aufzeigen, dass die Eltern ihn für den Ganztag angemeldet haben. Ich frage, was er sich wünscht und ob wir es umsetzen können“

betont eine andere Person, neben der Kindperspektive, die besondere Organisationslogik des Ganztags, welche flexible Wechsel innerhalb eines Schuljahres erschwert respektive verunmöglicht und eine Problematisierung dessen (welche sich in der Formulierung „leider“ wiederfindet) reflexiv notwendig macht:

„Ich würde M. fragen, was ihm am GT nicht gefällt und wie wir wieder dafür sorgen könnte, dass er mehr Spaß am GT hat. Bezüglich der Sport AG würde ich ihm sagen, dass er die ersten 2 Wochen im SJ Zeit für einen AG-Tausch hatte und ich ihm aktuell leider keine Wechsel ermöglichen kann. Stattdessen schlage ich ihm vor, dass er in seiner Freispiel AG nach sportlichen Angeboten fragt und spreche die Leitung der AG ebenfalls dazu an.“

Hier ist auch der Unterschied zwischen der Abfrage des Wissens bzgl. der Qualität von Ganztagsangeboten zu sehen. Während bei der Reflexivität die jeweiligen Argumente betrachtet wurden, konnten die Freitexteingaben zu Wissen via Textmining standardisiert codiert werden.

Gleichwohl konnten wir in unserem Fragebogen weder umfassend verschiedene Aspekte von Wissen erfragen und auch nur exemplarisch eine pädagogische Antinomie und eine Orientierung herausgreifen. An dieser Stelle bedarf es mehr Forschung, die wir zukünftig angehen werden. Mit unseren Auswertungen zeigen wir allerdings, wie eine Verknüpfung unterschiedlicher Professionsverständnisse möglich ist und auch qualitative Auswertungen (hier inhaltsanalytisch) mit quantitativen Auswertungen erkenntnisgenerierend zusammengebracht werden können.Footnote 6