1 Einleitung

Lange Zeit wurden sozio-emotionale Schulerfahrungen in der empirischen Bildungsforschung eher stiefmütterlich behandelt – oder gar als „Kuschelpädagogik“ belächelt (Raufelder 2009, S. 196). Seit der Jahrtausendwende erfährt das Forschungsfeld aber zunehmend Beachtung, nicht zuletzt auch durch die Neurowissenschaften, die sich durch die bildgebenden Verfahren zunehmend auch mit Prozessen des Lernens auf neuronaler Ebene beschäftigen und eine naturwissenschaftliche Perspektive eingebracht haben:

“Most of us have assumed that the kind of academic learning that goes on in school has little or nothing to do with one’s emotions or social environment. Now neuroscience is telling us exactly the opposite. The emotional centers of the brain are intricately interwoven with the neocortical areas involved in cognitive learning. When a child trying to learn is caught up in a distressing emotion, the centers for learning are temporarily hampered. The child’s attention becomes preoccupied with whatever may be the source of the trouble. (…) In short, there is a direct link between emotions and learning” (Goleman 2004, S. 7–8).

Mittlerweile gewinnen die sozio-emotionalen Schulerfahrungen insbesondere in den letzten beiden Jahrzehnten nicht nur in der Forschung, sondern auch in der Schulpraxis an Aufmerksamkeit. So werden soziale und emotionale Kompetenzen (‚Skills‘) laut OECD Lernkompass 2030 gar als eine von drei Fähigkeitsarten benannt, welche als besonders relevant für zukünftige Bildungs- und Arbeitsprozesse angesehen werden; das Interagieren in heterogenen Gruppen – wie etwa die „Fähigkeit, gute und tragfähige Beziehungen zu unterhalten“, „die Fähigkeit zur Zusammenarbeit“ und „die Fähigkeit zur Bewältigung und Lösung von Konflikten“ – wird als Schlüsselkompetenz von Schüler:innen benannt (OECD 2020, S. 18). Denn der Schulalltag von Kindern und Jugendlichen ist maßgeblich durch soziale Interaktionen und Beziehungen mit Gleichaltrigen (Peers) und ihren Lehrkräften geprägt; vor allem die sich aus diesem Beziehungsgeflecht generierenden Emotionen sind eng mit schulischen Motivations‑, Lehr- und Lernprozessen und Leistungen verknüpft (Raufelder 2018). Emotionen sind wiederum wesentliche Elemente von Interaktionsprozessen, die zu neurophysiologischen Reaktionen und Verhaltenstransformationen führen (Steinfurth et al. 2013). Mit anderen Worten ergibt sich ein wechselseitiges Zusammenspiel: Emotionen sind Teil von Interaktionen, die in ihrer Summe die erlebte Qualität von Beziehungen generieren, welche wiederum das emotionale Erleben beeinflussen. Soziale und emotionale Erfahrungen sind also eng miteinander verwoben; dennoch werden beide Erfahrungsebenen theoretisch und methodisch oft separat voneinander in entweder der Emotionsforschung oder der Beziehungs- und Interaktionsforschung untersucht. Dementsprechend thematisiert der vorliegende Stichwortbeitrag zunächst die theoretischen Grundlagen und empirischen Befunde der (a) Emotionsforschung und (b) Forschung zu sozialen Beziehungen im Schulkontext, um dann (c) deren Integration in das Konstrukt des schulischen Wohlbefindens zu skizzieren. Welche evidenzbasierten Implikationen für die Schul- und Unterrichtspraxis aus diesen dargelegten Befunden beider Forschungstraditionen abgleitet werden können, soll anschließend diskutiert werden. Abschließend gilt es zusammenfassend die Frage zu erörtern, wie sozio-emotionale Schulerfahrungen zukünftig in der Forschung durch das Zusammenführen der beiden Forschungsstränge und -traditionen stärker als verwobene Entitäten Berücksichtigung finden können.

2 Sozio-emotionale Schulerfahrungen von Schüler:innen

2.1 Emotionale Schulerfahrungen

Jeder Mensch und damit auch Kinder und Jugendliche erleben tagtäglich in verschiedenen Situationen und Kontexten Emotionen, mit denen sie entsprechend der Umstände umgehen müssen (Frenzel und Goetz 2018; Harley et al. 2019; Pekrun 2000; Reisenzein 2018; Schlesier et al. 2023a). Obwohl anzunehmen ist, dass der intrapersonale Prozess, welcher zum emotionalen Erleben und damit zur konkreten Emotion führt, stets nach dem gleichen Muster abläuft (Pekrun 2000, 2006), ist es dennoch insbesondere für die Qualität der entstehenden diskreten Emotion sowie für den Umgang mit dieser maßgeblich entscheidend, in welchem Umfeld sich die Kinder und Jugendlichen befinden (Pekrun und Stephens 2010). Im Kontext Schule sind die Kinder und Jugendlichen dabei mit schulspezifischen Situationen konfrontiert, welche nicht oder nur selten in außerschulischen Kontexten vorkommen: Sie befinden sich in der Schule in Lern- und Leistungskontexten, die sich durch spezifische normative und soziale Anforderungen auszeichnen und welche komplex in Förderungs- und Selektionsprozesse eingebettet sind (Luthiger 2014). Dementsprechend erleben die Schüler:innen hierbei Emotionen, die an Lern- und Leistungssituationen und/oder soziale Beziehungen im Schulkontext gebunden sind und von diesen ausgelöst werden.

2.1.1 Emotionen im Unterricht

Die im Unterricht dominierenden Emotionen können entsprechend ihrer sozialen Dynamiken und Anforderungen nach dem Kompetenz- sowie dem PerformanzmodusFootnote 1 differenziert werden (Bernstein 2000; Luthiger 2014). Im hoch-evaluativen Performanz-Modus (Leistungssituationen) geht es vorwiegend um die Aneignung und Wiedergabe formalen Wissens und das leistungsbezogene, vergleichende Positionieren innerhalb der Schulklasse (Luthiger 2014; Schlesier 2020). Spezifisch für den Kontext Schule sind die in der Regelschule üblichen Performanz-Situationen im Rahmen von Leistungskontrollen, Klausuren oder mündlichen Prüfungen (Ricken und Reh 2017). Hierzu ist bereits bekannt, dass diese hoch-evaluativen Situationen mit dem intensiven Erleben verschiedener Emotionen – positiven sowie vorwiegend negativen – einhergehen können (Raccanello et al. 2013); dieses emotionale Erleben der Schüler:innen unterscheidet sich von dem in nicht- bzw. wenig-evaluativen Settings. So erleben Schüler:innen in Testsituationen etwa mehr Hoffnung, Angst, Scham und Hoffnungslosigkeit als in Lernsituationen (Raccanello et al. 2013).

Wenngleich zahlreiche Studien Emotionen vor allem in Bezug auf Prüfungssituationen untersuchen und damit der Fokus auf den Performanz-Modus des Unterrichts gerückt wird, befinden sich Schüler:innen allerdings die meiste Zeit im wenig- oder nicht-evaluativen Kompetenz-Modus. In diesen Lernsituationen werden Leistungsfähigkeit von Schüler:innen (weiter-)entwickelt und Kompetenz auf- und ausgebaut (Luthiger 2014); entsprechende Unterrichtssituationen sind als wenig-evaluativ zu fassen (Harley et al. 2019). Diese Situationen, in welchen der Lernprozess und nicht die erbrachte Leistung im Vordergrund steht, zeichnen sich ebenfalls durch eine für den Schulkontext spezifische Rahmung und Anforderungen aus – und können, anders als in außerschulischen Aktivitäten, auch (teilweise unvermittelt) zu Leistungssituationen werden (Meyer et al. 2006). Es ist bereits bekannt, dass Schüler:innen in Lernsituationen höhere Intensitäten an Freude, Erleichterung, Entspannung und Langeweile erleben (Raccanello et al. 2013).

Theoretische Grundlagen.

Zu dem Emotionsspektrum, welches im Rahmen von Förderungs- und Selektionsprozessen im Kontext Schule auftritt, können die Lern- und Leistungsemotionen und die sozialen Emotionen gezählt werden (Frenzel und Goetz 2018; Pekrun et al. 2023a; Reisenzein 2018). Eine der wohl bekanntesten und in der erziehungswissenschaftlichen sowie pädagogisch-psychologischen Forschung dominierenden Theorien zur Genese von Emotionen in Lern- und Leistungskontexten ist dabei die ‚Kontroll-Wert-Theorie‘ (Pekrun 2000, 2006; Pekrun et al. 86,87,a, b; Pekrun und Stephens 2010). Diese Theorie stützt sich laut Pekrun (2006) auf verschiedene Theorien, wie etwa die ‚Erwartungs-Wert-Theorie‘ (Pekrun 1992), die ‚Attributionstheorie‘ (Weiner 1985), Theorien zur wahrgenommenen Kontrolle (Perry et al. 2001) sowie auf weitere Theorien, welche die Effekte von Emotionen auf das Lernen und Leisten abbilden (Fredrickson 2001). Im Zentrum des Kontroll-Wert-Ansatzes in seiner aktuellen Form steht vor allem die Bewertung (Appraisal) einer Situation durch den:die Schüler:in im Fokus (Pekrun und Stephens 2010). Für diese Interpretation der Situation sind wiederum zwei Bewertungen besonders wichtig: zum einen hinsichtlich der wahrgenommenen Kontrolle über die Situation und zum anderen in Bezug auf den Wert, welcher der Situation beigemessen wird (Pekrun 2006; Pekrun und Stephens 2010). Demnach hängt die Emotion, welche ein:e Schüler:in in einer triggernden Unterrichtssituation erlebt (z. B. wenn diese:r eine Aufgabenstellung im Matheunterricht nicht versteht), davon ab, inwiefern der:die Schüler:in die Situation als kontrollierbar und als relevant bzw. wichtig einschätzt. Entscheidend für die wahrgenommene Kontrollierbarkeit sind wiederum Erwartungen (inwiefern erwartet der:die Schüler:in, diese Situation kontrollieren zu können und glaubt daran, dass er:sie die Matheaufgabe trotz anfänglicher Schwierigkeiten gut lösen kann) sowie Attributionen (Pekrun und Stephens 2010; Schukajlow et al. 2023). Hinsichtlich des beigemessenen Werts werden intrinsische (z. B. „Mir ist es wichtig, dass ich eine gute Note bekomme“) von extrinsischen Werten (z. B. „Meinen Eltern ist es wichtig, dass ich eine gute Note bekomme“) unterschieden (Pekrun und Stephens 2010). Für die Emotionsgenese ist außerdem von Bedeutung, in welchem Umfeld (engl.: environment) sich der:die Schüler:in befindet (Pekrun und Stephens 2010). Für den Lern- und Leistungskontext kann dies die kognitive und motivationale Qualität (z. B. Struktur, Klarheit, Enthusiasmus der Lehrkraft etc.), die Unterstützung der Autonomie des:der Lernenden, vorgegebene Zielstrukturen oder Feedback umfassen (Pekrun und Stephens 2010). Entscheidend für die Bewertung der Situation sind außerdem die Zielorientierungen der Schüler:innen (Lernvermeidung, Lernzielorientierung, Leistungsvermeidung, Leistungszielorientierung) (Pekrun und Stephens 2010; Vandewalle et al. 2019). Zudem entscheiden auch andere Faktoren darüber, welche Emotion erlebt wird (z. B. Gene, Temperament etc.) und wie mit der erlebten Emotion umgegangen wird (z. B. Selbstregulation, Emotionsregulationsstrategien etc.) (Pekrun und Stephens 2010). Die Qualität der Beziehungen zwischen Lehrkräften und Schüler:innen sind in dem Modell allerdings nicht explizit integriert (Pekrun et al. 2023a).

Lern- und Leistungsemotionen.

Die Lern- und Leistungsemotionen (engl.: achievement emotions) bezeichnen diejenigen Veränderungen im psychophysischen System eines Individuums, welche als Reaktion auf für das Individuum relevante Ereignisse oder Situationen und in Bezug auf den Schulkontext auftreten – und damit in Reaktion auf Ereignisse und Handlungen hervortreten, die nach kompetenzbasierten Qualitätsstandards beurteilt werden (Pekrun et al. 2023a; Scherer und Moors 2019). Diese Veränderungen umfassen verschiedene Komponenten: So sind einerseits kognitive, physiologische, motivationale und expressiv-behaviorale Prozesse an der Emotionsgenese beteiligt (Pekrun et al. 2023a), andererseits beinhalten die Emotionen die sie auszeichnende und von reinen Gedanken abgrenzende affektive Komponente bzw. den affektiven Kern, welcher den Erlebenscharakter (das Empfinden) der Emotion in der konkreten Situation bezeichnet (Russell 2003).

Taxonomiert werden Lern- und Leistungsemotionen hinsichtlich den aus der Emotionsforschung stammenden Dimensionen (1) Grad der Aktivierung (aktivierend – deaktivierend) und (2) der Valenz (positive oder negative Emotion) (Frenzel und Goetz 2018; Russell 1980). Zusätzlich werden sie entsprechend der im Zuge der Kontroll-Wert-Theorie (Pekrun 2000, 2006; Pekrun und Stephens 2010) etablierten Dimension (3) Objektfokus (prospektive, aktuelle oder retrospektive Aktivitäts- oder Ergebnisemotionen) taxonomiert. Mit dieser 2 × 2 × 3 Taxonomierungsstruktur können insgesamt 12 Lern- und Leistungsemotionsgruppen abgebildet werden, welche in den letzten Jahren auch rege beforscht wurden, sodass Zusammenhänge dieser Emotionsgruppen mit Persönlichkeitsmerkmalen, kognitiven Bewertungen (Erfolg, Misserfolg, Kontrolle, Wert etc.), der Wahrnehmung des Umfeldes (z. B. Unterrichtsqualität, Klarheit, Enthusiasmus etc.), dem Einsatz bestimmter Strategien (z. B. Lernstrategien, Emotionsregulationsstrategien etc.), der Leistung, der Gesundheit, aber auch der Unterstützung durch die Lehrkraft bereits herausgestellt werden konnten (Lazarides und Buchholz 2019; Lei et al. 2018; Lichtenfeld et al. 2022; Pekrun et al. 2017; Pekrun et al. 86,87,a, b).

Soziale Emotionen.

Nicht alle Emotionen, welche in Lern- und Leistungskontexten vorkommen, können auch als Lern- und Leistungsemotionen deklariert werden (Pekrun und Stephens 2010; Reisenzein 2018). So können etwa soziale Emotionen ebenfalls in Kompetenz- oder Performanzsituationen auftreten, ohne dass diese unmittelbar auf das eigene Lernen oder die Leistung bzw. gar auf die eigene Person bezogen sein müssen (Pekrun und Stephens 2010; Reisenzein 2018). Hierbei können einerseits soziale Emotionen, welche auf andere Personen bezogen sind (fremdbezogen), und andererseits normbasierte Emotionen differenziert werden (Ortony et al. 1988; Reisenzein 2018).

Die erste Emotionsgruppe – die sozialen, fremdbezogenen Emotionen – werden durch „Informationen über das positive oder negative Schicksal anderer Personen ausgelöst“ (Reisenzein 2018, S. 85). Dazu zählen neben Mitfreude, Mitleid, Neid oder Schadenfreude auch Empathie. Empathie meint dabei diejenige affektive Reaktion, welche sich aus dem Erfassen oder Verstehen des emotionalen Zustandes einer anderen Person ergibt und die dann wiederum dem ähnelt, was die reagierende Person in der Situation selbst empfinden würde oder was sie denkt, das von ihr erwartet werden würde (Eisenberg et al. 2008). So kann beispielsweise Empathie für ein anderes Kind empfunden werden, welches gerade in einer mündlichen Prüfung vor der Klasse eine schlechte Note erhalten hat. Obwohl davon ausgegangen werden kann, dass Empathie und andere fremdbezogene soziale Emotionen für das Lernen relevante Emotionen sind, gibt es bislang nur wenig fundierte, empirische Befunde mit kontextuellem Bezug auf Lehr-Lernsettings. So ist beispielsweise bekannt, dass das Ausmaß, welches an Neid empfunden wird, darüber zu entscheiden scheint, wieviel Schadenfreude erlebt wird (Smith et al. 1996) und dass Schadenfreude dann entstehen kann, wenn man den eigenen Selbstwert bedroht sieht (van Dijk et al. 2015).

Den normbasierten Emotionen werden diejenigen emotionalen Reaktionen zugeordnet, welche entstehen, wenn soziale und moralischeFootnote 2 Normen erfüllt bzw. verletzt werden (Reisenzein 2018). Obwohl gerade im Bildungsbereich soziale Normen vor allem im Sinne von Qualitäts- und Leistungsstandards besonders bedeutsam sind, sind fundierte, weit angelegte Untersuchungen der normbasierten Emotionen wie Schuld, Scham oder Empörung bei Schüler:innen des Grund- und Sekundarschulalters bislang weitestgehend ein Forschungsdesiderat. Als Ausnahme kann die Emotion Scham betrachtet werden, denn hierzu ist rege Forschungsaktivität in den letzten Jahren zu verzeichnen, da es zum einem unter die Lern- und Leistungsemotionen subsummiert und die Emotion Scham somit im etablierten Fragebogen zu Lern- und Leistungsemotionen, dem Achievement Emotions Questionnaire (AEQ‑M; Pekrun et al. 2005) integriert ist; andererseits wird in weiteren Studien die Verbindung zum Schulsystem sowie dem Lernprozess hergestellt (Kang und Wu 2022; Moensted 2022). Aufmerksamkeit hat in den letzten Jahren ebenfalls die Emotion Empörung erfahren, welche in den sozialen Medien im Zuge der Digitalisierung massenhaft von verschiedenen Personengruppen, darunter vor allem auch Jugendliche, geäußert wurde (Brady et al. 2021); allerdings stehen Untersuchungen, welche sich explizit auf die emotionale Reaktion der Empörung im oder in Bezug auf den Unterricht beziehen, noch aus.

2.1.2 Emotionsregulation von Lern- und Leistungsemotionen

Der Kontroll-Wert-Ansatz bietet zwar Aufschluss über die Genese von Lern- und Leistungsemotionen, nicht aber über den Prozess, wann welche Emotionen wie erlebt, moduliert und geäußert werden, also über die Regulation dieser Emotionen (Gross 1998). Doch Emotionsregulation ist in Kompetenz- und Performanzmodus des Unterrichts besonders relevant, da – ebenso wie die Emotionen selbst – auch die Fähigkeiten eines:r Schülers:in mit den eigenen Emotionen umzugehen mit dem schulischen Erfolg und auch mit der Beziehung zur Lehrkraft zusammenhängen (Djambazova-Popordanoska 2016; Schlesier et al. 2019).

Theoretische Grundlagen.

Aus diesem Grund wurde ein Modell entwickelt, welches die Kontroll-Wert-Theorie (CVT; Pekrun 2000, 2006) und das Prozessmodell der Emotionsregulation (PMER; Gross 2015) in einem Modell integriert: das ‚Integrated Model of Emotion Regulation in Achievement Situations‘ (ERAS; Harley et al. 2019). Entsprechend dem ERAS-Modell gibt es innerhalb der Emotionsgenese vier Ansatzpunkte für die Emotionsregulation: die Situation, die Aufmerksamkeit, die Bewertung und die Reaktion (Harley et al. 2019). Dabei können fünf verschiedene Emotionsregulationsstrategiegruppen, ansetzend an den vorher genannten Punkten, umgesetzt werden: entweder die Situation wird (1) selektiert oder (2) modifiziert, die (3) Aufmerksamkeit wird umgelenkt, die Situation wird (4) kognitiv anders bewertet oder die (5) Reaktion wird moduliert (Harley et al. 2019). Doch was mit diesem Modell nicht deutlich wird, ist, dass Schüler:innen im Unterricht nicht auf die gleichen Regulationsstrategien und -ressourcen wie in ihrem außerschulischen Umfeld zurückgreifen können, um ihre Emotionen angemessen regulieren zu können. Dies soll anhand einer exemplarischen Schilderung verdeutlicht werden; als Beispiel soll dafür eine aus dem Unterricht typische Situation, stellvertretend für den Performanzmodus, herangezogen werden: Ein Grundschulkind hat die Aufgabe, mehrere Sätze zu lesen und den Inhalt zu malen, macht dabei aber einen Fehler (Schlesier 2020). Die Situation ist hoch-evaluativ, das Bild wird bewertet und fließt in die mündliche Note mit ein. Das Kind bewertet die Situation als besonders wichtig und nicht kontrollier- sowie bewältigbar, da es den Inhalt der Sätze nicht verstanden hat. In solchen Situationen hat das Kind nur wenig Möglichkeiten der Emotionsregulation, denn es kann weder die Situation selektieren (z. B. aus dem Unterricht gehen) oder die Situation modifizieren (denn z. B. umsetzen zu einer Freundin darf es sich nicht). Ebenfalls ist es nur bedingt möglich, die Aufmerksamkeit auf etwas anderes zu lenken, da dies von der Lehrkraft nicht geduldet wird. Somit bleiben dem Kind nur zwei Möglichkeiten der Emotionsregulation: entweder es bewertet die Situation kognitiv neu oder es reguliert die Emotion (z. B. Angst, Hoffnungslosigkeit, Verzweiflung), wenn diese bereits erlebt wird. Beide in diesem Szenario möglichen Strategien sind sehr spezifische Möglichkeiten der Regulation, welche nicht von jedem Kind gleichermaßen bereits beherrscht oder aber präferiert eingesetzt werden (Schlesier et al. 2019, 2023a, under review). Damit wird nicht nur deutlich, wie eingeschränkt und einseitig die Möglichkeiten der Emotionsregulation im Kontext Schule sein können, sondern auch, wie sehr sie durch den sozialen Rahmen bedingt werden (z. B. durch Interaktionen mit der Lehrkraft, soziale Verhaltensregeln oder den Wunsch nach sozialer Unterstützung); dennoch wurde der Fokus in Studien bislang vor allem auf Tendenzen des Einsatzes verschiedener Emotionsregulationstrategien von Schüler:innen gelegt (Schlesier et al. 2019) – unabhängig davon, ob diese im Unterricht überhaupt umsetzbar sind oder ob diese Strategien überhaupt den individuellen Präferenzen der Schüler:innen entsprechen.

Empirische Befunde.

Bisherige Forschungen konnten offenlegen, dass adaptive Regulationsstrategien vor allem mit positiven Emotionen einhergehen und maladaptive Strategien eher mit negativen Emotionen (Schlesier et al. 2019; Vierhaus et al. 2016); zudem zeigen Lehrkräfte bei impulsiv handelnden Schüler:innen weniger positiven Affekt als bei Schüler:innen, welche wenig impulsiv handeln (Hirvonen et al. 2015). Doch der Großteil der bisherigen Studien in dem Feld hat bislang nicht berücksichtigt, dass Schüler:innen individuell den Einsatz verschiedener Emotionsregulationsstrategien im Unterricht präferieren. Dabei scheint es besonders lohnenswert, diejenigen Unterrichtssituationen in den Blick zu nehmen, in welchen Schüler:innen emotional herausgefordert sind, da sie in solchen tagtäglich vorkommenden Unterrichtssituationen besonders gefordert sind, ihre Emotionen angemessen regulieren zu können (DECCS; Schlesier 2020; Schlesier et al. 2023a). Um ein besseres Verständnis zu dem Umgang der Schüler:innen mit solch emotional herausfordernden Unterrichtssituationen zu erlangen, sollten hierbei auch die Wünsche der Schüler:innen hinsichtlich der sozialen Unterstützung durch ihre Lehrkraft mit berücksichtigt werden. Denn die Unterstützung durch die Lehrkraft kann einerseits, sofern vom Kind initiiert, auch eine Form der Situationsmodifikation und damit eine weitere Möglichkeit der (in dem Fall externalen) Emotionsregulation sein. Andererseits wird mit sozialer Unterstützung durch die Lehrkraft entsprechend der ‚Selbstbestimmungstheorie‘ (Ryan und Deci 2017) außerdem dem psychologischen Grundbedürfnis nach sozialer Eingebundenheit im Kontext Unterricht entsprochen. Auch die anderen beiden Grundbedürfnisse – das Streben nach autonomem Arbeiten/Lernen und das Bedürfnis nach Kompetenzerleben – sind an das soziale und pädagogische Agieren der Lehrkraft gebunden und sollten daher bei der Betrachtung von Emotionsregulation von Schüler:innen berücksichtigt werden. Erste Untersuchungen in dem Feld haben gezeigt, dass Schüler:innen sich in ihren individuellen Präferenzen der internalen und externalen Emotionsregulationsstrategien unterscheiden (Schlesier et al. under review): So geben die meisten Schüler:innen der vierten bis siebten Klassen an, vorwiegend adaptive und weniger maladaptive Strategien zu nutzen und haben gleichzeitig einen starken Wunsch nach (instruktionaler und emotionaler) sozialer Unterstützung durch die Lehrkraft, wenn sie emotional im Unterricht herausgefordert bzw. überfordert sind. Schüler:innen, welche flexibel und ausgewogen sowohl adaptive als auch maladaptive Emotionsregulationsstrategien einzusetzen und sich nur in mittlerem Ausmaß Unterstützung durch die Lehrkraft wünschen, erleben signifikant weniger Ärger und mehr Freude (in Bezug auf das Fach Mathematik). Schüler:innen im ehrgeizig-unabhängigen Profil nehmen ein autonomie- und kompetenzförderndes Lernumfeld wahr und berichten mehr Ärger als Schüler:innen, die einen hohen Bedarf an Unterstützung und Lob durch die Lehrkraft haben (Schlesier et al. under review).

2.2 Soziale Schulerfahrungen von Schüler:innen

Emotionen im Schulkontext sind Ausgangspunkt und Bestandteil für die Entwicklung sozialer Beziehungen mit Lehrkräften und Peers, welche wiederum Emotionen auslösen können. Das bedeutet, dass das emotionale Erleben der Schüler:innen und ihre sozialen Beziehungen in der Schule miteinander verwobene Konstrukte sind. Entsprechend wird der Schulalltag von Kindern und Jugendlichen maßgeblich durch ihre Beziehungen mit Lehrkräften und Gleichaltrigen (Peers) und das damit einhergehende emotionale Erleben geprägt. Auf die jeweiligen Besonderheiten der Lehrer:innen-Schüler:innen-Beziehung (LSB) und der Schüler:innen-Schüler:innen-Beziehung (SSB) gehen die folgenden beiden Unterkapitel näher ein.

2.2.1 Schulerfahrungen mit Lehrkräften

Der LSB ist ein komplexes Konstrukt immanent: Auf institutioneller Ebene unterrichten Lehrkräfte die Schüler:innen und geben ihnen Feedback zu ihren akademischen Leistungen (Pianta et al. 2003; Wentzel 2009). Auf der interpersonellen Ebene geben sie Feedback zu ihrem (sozialen) Verhalten, fungieren als erwachsenes Rollenvorbild und können Schüler:innen sozial und emotional unterstützen. Emotionen entstehen auf beiden Ebenen der LSB (institutionell sowie interpersonell) und sind wesentliche Elemente von Interaktionsprozessen, die zu neurophysiologischen Reaktionen und Verhaltenstransformationen führen (Steinfurth et al. 2013). Darüber hinaus sind Emotionen wesentliche Bestandteile sozialer Beziehungen (Saarni et al. 2006). Daher ist die Fähigkeit, Emotionen zu erkennen, zu regulieren und auf angemessene und effektive Weise auszudrücken, eine wesentliche Fähigkeit für den Einzelnen, die es ihm ermöglicht, seine persönlichen und akademischen Ziele zu erreichen und mit herausfordernden sozialen und umweltbedingten Umständen umzugehen (Buckley und Saarni 2014).

Kennzeichen positiver und negativer LSB.

Empirische Befunde haben gezeigt, dass eine gute LSB nicht nur in positivem Zusammenhang mit Schulleistungen (Davidson et al. 2010; Hattie 2015) und motivationalen Merkmalen (Wentzel 1997, 2009) steht, sondern dass diese darüber hinaus auch die Entwicklung sozialer und emotionaler Kompetenzen begünstigen kann (Roorda et al. 2011; Wentzel 2009). Dabei zeichnet sich eine positive LSB durch emotionale Wärme, Vertrauen, Fürsorge, Sicherheit, Unterstützung, Nähe und Fairness aus, sie ist hat ein geringes Konfliktpotenzial inne, ist unabhängig und von positiven Emotionen geprägt (Hagenauer und Raufelder 2021; Roorda et al. 2011). Im Gegensatz dazu sind negative LSB gekennzeichnet durch emotionale Kälte/Distanz, mangelndes Vertrauen, unfaires Verhalten sowie vorwiegend negative Emotionen (Raufelder et al. 2016; Roeser und Eccles 1998). Natürlich können auch in positiven LSB Konflikte vorkommen und insbesondere jüngere Schüler:innen eine gewisse Abhängigkeit bzw. Hierarchie in der LSB erleben; das höchste Konfliktpotenzial liegt allerdings in der von Schüler:innen und Lehrkräften kongruent negativ wahrgenommenen Beziehung (Wu et al. 2010). Während die LSB in der Grundschule insbesondere durch Nähe gekennzeichnet ist (Hargreaves 2000), beginnen Schüler:innen mit dem Eintritt in die Sekundarschule ihre Lehrer:innen als distanzierter und weniger freundlich, unterstützend, warm und fürsorglich wahrzunehmen (Eccles et al. 1993; Harter 1996). Vor allem in der frühen Adoleszenz, in der Schüler:innen mit vielen physiologischen und psychologischen Veränderungen sowie Herausforderungen umgehen müssen und nach emotionaler Unterstützung durch andere Erwachsene als die Eltern suchen, um diese Herausforderungen erfolgreich zu bewältigen (Raufelder 2007; Raufelder et al. 2013), nimmt die Qualität der LSB im Alter von 12 bis 18 Jahren ab (Bokhorst et al. 2010). Dies spiegelt sich auch in aktuellen PISA-Ergebnissen wider, welche zeigen, dass fast die Hälfte der befragten adoleszenten Schüler:innen das Gefühl haben, dass sie sich von der Lehrkraft nicht gut unterstützt fühlen bzw. dass sie kein Interesse der Lehrkraft an ihrem Lernprozess wahrnehmen (OECD 2023).

Theoretische Grundlagen.

Die theoretische Fundierung der LSB geht einher mit einigen wesentlichen Herausforderungen. Ein grundlegendes Desideratum besteht darin, dass es bislang keine spezifisch auf die LSB ausgerichtete Theorie gibt. Die meisten Studien zur LSB verweisen deshalb auf die Erziehungsstilforschung in der Tradition von Lewin et al. (1939), auf die ‚Attachment Theory‘ (Bowlby 1988; Cassidy 2008; Riley 2011) oder auf die ‚Selbstbestimmungstheorie‘ (Ryan und Deci 2000). Deci und Ryan haben im Rahmen der Selbstbestimmungstheorie auch eine Subtheorie zu sozialen Beziehungen konzipiert, die ‚Relationships Motivation Theory‘ (Deci und Ryan 2014; Wettstein und Raufelder 2021). Alle diese Theorien beinhalten Potenziale in Bezug auf die Untersuchung der LSB – aber auch Defizite (Knierim et al. 2016). Wenn wir die wesentlichen Aspekte aus der Forschung zu Erziehungsstilen, der Bindungstheorie und der Selbstbestimmungstheorie im Rahmen der LSB zusammenfassen, dann ist hervorzuheben, dass „sowohl interindividuelle Unterschiede im Lehrpersonenverhalten (Erziehungsstilforschung), interindividuelle Unterschiede in der Schüler:innenwahrnehmung (Bindungstheorie), als auch zentrale Grundbedürfnisse der menschlichen Entwicklung (Selbstbestimmungstheorie) als zentrale Bestandteile der LSB zu konstatieren sind“ (Knierim et al. 2016, S. 354). Alle drei genannten theoretischen Ansätze betonen sozio-emotionale Aspekte (insbesondere seitens der Lehrkraft), welche die LSB fördern: Dazu gehören emotionale Wärme, Wertschätzung, Fürsorglichkeit und Empathie. In der Regel wird angenommen, dass die Einflussrichtung von Lehrkräften auf Schüler:innen verläuft, wobei in der Bindungstheorie auch der Einfluss des Bindungsstils des Lernenden auf die LSB thematisiert wird (Jungmann und Reichenbach 2009). Die drei theoretischen Ansätze weisen zusammengefasst folgende grundlegende Defizite auf (Knierim et al. 2016): Unidirektionalität (Erziehungsstilforschung und Selbstbestimmungstheorie), die Vernachlässigung der inneren individuellen Entwicklungsprozesse in Bezug auf verschiedene Verhaltensweisen (Bindungstheorie), die Nicht-Berücksichtigung von Unterschieden im Verhalten der Lehrpersonen (Erziehungsstilforschung) sowie die Nicht-Berücksichtigung der reziproken und transaktionalen Natur der LSB (Erziehungsstilforschung, Bindungstheorie und Selbstbestimmungstheorie).

Neben diesen theoretischen Ansätzen gibt es auch einige Modelle zur LSB, die vor allem mit der eingangs skizzierten Trendwende um die Jahrtausendwende entstanden sind, ausgenommen das Transaktionale Modell von Nickel (1976). Nickel hat bereits 1976 ein umfassendes Theoriemodell zur Konzeptualisierung der LSB vorgestellt, welches insbesondere den dynamischen und reziproken Charakter der LSB detailliert beschreibt und sowohl die Interaktions- als auch die Beziehungsebene berücksichtigt. Nickels Modell unterscheidet interne Faktoren (wie Einstellungen und Erwartungen) und externe Faktoren (aus dem soziokulturellen Umfeld der Eltern, Gleichaltrigen und Medien), die gemeinsam die LSB beeinflussen. Dieses Modell berücksichtigt auch die Rückkopplungsschleifen, bei denen die Wahrnehmung des Verhaltens des Interaktionspartners das aktuelle Verhalten beeinflusst. Das Modell hebt die Wechselwirkungen in der LSB hervor und zeigt systematisch die sozialen und individuellen Einflüsse auf. Allerdings gibt es bisher keine empirischen Studien, die dieses umfassende Modell validiert haben.

Ein weiteres Modell, das die Interaktionen zwischen Lehrkräften und Schüler:innen erfasst, ist das ‚Model for Interpersonal Teacher Behavior‘ von Wubbels und Brekelmans (2005). Es identifiziert vier Interaktionsdimensionen, welche die LSB prägen: Kooperation (z. B. Unterstützung, Hilfe) und Opposition (z. B. Ermahnung, Unzufriedenheit) sowie Unterwerfung (z. B. Verantwortungsübertragung) und Dominanz (z. B. Klassenführung, Regeln). Aber mit diesem Modell wird hauptsächlich das Verhalten der Lehrkraft betont und es berücksichtigt kaum die wechselseitige Dynamik der LSB. Das ‚Teaching Through Interaction Model‘ von Pianta et al. (2003) wiederum beschreibt verschiedene Handlungsdimensionen der Interaktion zwischen Lehrkräften und Schüler:innen, wobei ebenfalls hauptsächlich das Handeln der Lehrkraft fokussiert und damit die wechselseitige Natur der LSB vernachlässigt wird. Dieses Modell umfasst Dimensionen wie emotionale Unterstützung (z. B. Wahr- und Ernstnehmen der Probleme der Schüler:innen, Aufbau eines positiven Klimas), Lernunterstützung (z. B. klare Kommunikation von Erwartungen) und Klassenmanagement (z. B. Aufbau von positiven LSBen). Im ‚Child-Directed Model of Teacher-Child Interactions‘ (Nurmi und Kiuru 2015) wird hingegen der:die Schüler:in als Ausgangspunkt der Interaktionen zwischen Lehrkraft und Schüler:in betrachtet. Es erweitert vorhandene Modelle um psychologische Vermittlungsprozesse und beschreibt affektive (z. B. Emotionen der Lehrkräfte) und kognitive (z. B. Erwartungen) Merkmale, die als Vermittler zwischen Schüler:innenverhalten (z. B. Störungen) und Schüler:innenmerkmalen (z. B. Leistung) sowie dem Lehrer:innenverhalten (z. B. Instruktion) wirken. Das Modell trägt somit zu einem besseren Verständnis der psychologischen Prozesse (z. B. Emotionen) bei, die zwischen Schüler:innenverhalten und LSB vermitteln. Allerdings berücksichtigt es nicht die Vermittlungsprozesse zwischen Lehrer:innenverhalten und Schülerler:innenmerkmalen und lässt den wechselseitigen Charakter der LSB außer Acht. Im ‚Prosocial Classroom Model‘ von Jennings and Greenberg (2009) wird die Bedeutung der sozialen und emotionalen Kompetenzen und des Wohlbefindens der Lehrkräfte betont. Diese sind laut Modell für die Entwicklung und Aufrechterhaltung von unterstützenden LSBen, effektives Klassenmanagement und die erfolgreiche Umsetzung von Programmen für sozial-emotionales Lernen (SEL) zentral. Das Modell geht weiter davon aus, dass diese Faktoren dazu beitragen, ein Klassenklima zu schaffen, welches lernförderlich ist und positive soziale, emotionale und akademische Entwicklungsergebnisse bei den Schülern:innen begünstigt (Jennings et al. 2017). Jennings und Greenberg (2009) betonen insgesamt sozio-emotionale Prozesse im Klassenzimmer, es fokussiert aber nicht per se die LSB, sondern eher das Zusammenspiel der verschiedenen sozio-emotionalen Aspekte; auch hier bleibt die Wechselseitigkeit und die der LSB zugrundeliegenden Interaktionen weitgehend unberücksichtigt.

Zusammenfassend existieren verschiedene Theoriemodelle, die sich mit der Konzeptualisierung der LSB befassen und die Handlungsdimensionen der LSB theoretisch umfassend differenzieren. Allerdings berücksichtigen die bisherigen Modelle selten den wechselseitigen und prozesshaften Charakter der LSB. Das bedeutet, es wird – außer bei Nickel – nicht zwischen möglichen Divergenzen der eigenen Wahrnehmung des Verhaltens der Lehrkraft und dem von Schüler:innen perzipierten Verhalten der Lehrpersonen unterschieden. Die vorgestellten Modelle behandeln auch nur selten die psychologischen Prozesse (z. B. Emotionen), die zwischen individuellen und sozialen Faktoren sowie der LSB und den schulischen Leistungen der Schüler:innen vermitteln, obwohl Emotionen essenzieller Bestandteil von sozialen Beziehungen sind (s. oben). Auch werden in bisherigen Modellen zur LSB nicht alle an der Beziehung beteiligten Personen und die Wechselwirkung ihrer Interaktionen berücksichtigt.

Zwar gibt es beispielsweise das LEmoR-TSI-Modell (‚Learning and Performance Emotions, Emotion Regulation – Teacher-Student Interaction‘; Schlesier 2020), welches die wechselseitige Interaktion zwischen Lehrkraft und Schüler:in in Bezug auf Situationen, in welchen der:die Schüler:in emotional im Unterricht herausgefordert ist, beschreibt und dabei kontextuelle Faktoren (z. B. Verhalten der Peers etc.) sowie individuelle Faktoren der Schüler:innen (z. B. sozio-emotionaler Entwicklungsstand des Kindes etc.) und der Lehrkraft (z. B. Lehrkraftemotionen etc.) berücksichtigt. Auch integriert es sowohl das emotionale Erleben als auch die sozialen Interaktionen der Schüler:innen; allerdings zielt das Modell ausschließlich auf soziale Interaktionen ab, welche eben nicht auf der Beziehungsebene gefasst werden können (Thies 2017). Denn die LSB entwickelt sich laut Hamre und Pianta (2006) über einen längeren Zeitraum hinweg (z. B. ein Schuljahr) durch das komplexe Geflecht an Vorstellungen, Einstellungen und ebendiesen einzelnen sozialen Interaktionen. Ein umfassendes Modell zur LSB sollte demnach den Interaktionsprozess zwischen Schüler:in und Lehrkraft integrieren und gleichzeitig ebenfalls Vermittlungsprozesse in den Blick nehmen, die durch institutionelle Bedingungen, sozio-kulturelle Kontextfaktoren, Einstellungen sowie Lehr‑/Lernmerkmale beeinflusst werden und in ihrer Gesamtheit die LSB bestimmen.

Diese beschriebenen theoretischen Limitationen wurden im Rahmen des DFG Projekts BeLL (‚Beziehungen zwischen Lehrenden und Lernenden‘; Raufelder und Lazarides 2021) aufgegriffen, bereits existierende Modelle integriert und zu einem Modell zur Beschreibung der LSB zusammengeführt (siehe Abb. 1).

Abb. 1
figure 1

Rahmenmodell der ‚Beziehung zwischen Lehrenden und Lernenden‘ (BeLL) (Raufelder und Lazarides 2021)

Das BELL-Modell veranschaulicht, dass die Qualität der LSB aus über die Zeit akkumulierten Erfahrungen der sozialen Interaktionen von Lehrkräften und Schüler:innen entsteht (im Modell dargestellt als rotes Kästchen). Diese Interaktionen können durch wechselseitig aufeinander bezogene und manifest beobachtbare Verhaltensmuster der Interaktionspartner:innen aus einer mikrogenetischen Perspektive erfasst werden (siehe auch Wettstein und Raufelder 2021). Die Lehrkraft interagiert sowohl auf zwischenmenschlicher als auch unterrichtsbezogener Ebene mit den Schüler:innen. Im Modell sind Instruktionsverhalten, wie z. B. instruktionale Unterstützung für Autonomie, Kompetenz und soziale Eingebundenheit gemäß der Selbstbestimmungstheorie (Ryan und Deci 2000) Klassenmanagement und interpersonelle Verhaltensweisen wie emotionale Unterstützung, Kooperation und Schüler:innenorientierung auf Seiten des Lehrkraftverhaltens verortet. Entsprechend der Annahmen von Nickel (1976) wird die Wahrnehmung des eigenen und des fremden Verhaltens aus Sicht beider Interaktionspartner berücksichtigt. Gemäß der theoretischen Rahmenarbeit von Nurmi und Kiuru (2015) werden emotionale und kognitive Aspekte als Mediatoren des beschriebenen Interaktionsprozesses betrachtet. Das Interaktionsverhalten der Lernenden führt bei der Lehrkraft zu einem emotionalen Erleben der Unterrichtssituation (Lehrkraftemotionen) und zu einer Verhaltensmotivation, die wiederum das Interaktionsverhalten der Lehrkraft beeinflusst. Dies wird auch im ‚Reciprocal Model of Causes and Effects of Teacher Emotions‘ von (Frenzel 2014) beschrieben. Es wird weiter angenommen, dass Freude am Unterrichten und berufsbezogene Motivation durch Schüler:innenverhalten beeinflusst werden und zu bestimmten Reaktionen der Lehrkraft führen. Umgekehrt wird angenommen, dass das Interaktionsverhalten der Lehrkraft emotionale und kognitive Prozesse der Lernenden im Unterricht beeinflusst, beispielsweise in Form von Lernfreude, Ängstlichkeit und Merkmalen der Lern- und Leistungsmotivation. Diese Emotionen und Motivation wirken sich – konsistent mit dem LEmoR-TSI-Modell von Schlesier (2020) – wiederum auf das Interaktionsverhalten der Lernenden aus. Im BELL-Modell gehen die Autorinnen davon aus, dass emotionale und kognitive Merkmale seitens der Lehrkräfte und Lernenden zwischen den Interaktionsverhaltensweisen und weiteren Outcomevariablen vermitteln. Das bedeutet, dass diese Merkmale selbst auch als Outcome-Variablen betrachtet werden. Der gesamte Interaktionsprozess (Abb. 1, rotes Kästchen) wird entsprechend des Transaktionsmodells (Nickel 1976) durch Einstellungen und Professionsmerkmale von Lehrkräften und innerpsychische Einstellungen, Erwartungen und Lernmerkmale von Lernenden beeinflusst (Prädiktor-Variablen). Institutionelle Bedingungsfaktoren und sozio-kulturelle Kontextfaktoren fungieren als Moderator-Variablen, welche Einfluss auf alle beschriebenen Zusammenhänge in der LSB nehmen können. Studien, welche das Modell validieren, stehen zum jetzigen Zeitpunkt noch aus.

Methodische Herausforderungen.

Hinsichtlich der empirischen Untersuchung der LSB ergeben sich bedeutende methodische Herausforderungen, die es zu berücksichtigen gilt. So pflegt die Lehrkraft mit jeder Schülerin bzw. jedem Schüler in einer Schulklasse eine jeweils spezifische und individuelle LSB, hat darüber hinaus aber auch eine generelle Beziehungskultur zur gesamten Klasse. Es gibt mittlerweile gar empirische Belege dafür, dass die Klasse als Bezugspunkt eine wichtige Rolle für die Lehrkräfte spielt, denn es hat sich gezeigt, dass das emotionale Erleben der Lehrkräfte während des Unterrichts systematisch zwischen den Klassen variiert (Frenzel et al. 2015; Kunter et al. 2011). Umgekehrt haben Schüler:innen auch nicht nur eine einzige LSB; vielmehr ist ihr Schulalltag – gerade in Sekundarschulen – durch die Fächerkultur und das Fachlehrer:innentum durch Beziehungen mit unterschiedlichen Lehrkräften geprägt. So kann der Schüler Max beispielsweise eine sehr gute Beziehung zu seiner Mathelehrerin wahrnehmen, aber eine sehr schlechte Beziehung zu seinem Biologielehrer. Die Englischlehrerin schätzt er darüber hinaus für ihre Unterrichtsgestaltung, allerdings wird er auf der zwischenmenschlichen Ebene nicht ‚ganz warm‘ mit ihr. Wir könnten diese Beziehungen jetzt für jede Lehrkraft von Max fortführen, aber schon jetzt wird die methodische Herausforderung, die letztlich in der Komplexität der LSBen liegt, deutlich. Wenn man von quantitativen Forschungsansätzen ausgeht (z. B. Fragebogenstudien), müssen Forscher:innen das Forschungsfeld bereits im Vorfeld begrenzen, indem beispielsweise nur nach einer Lehrkraft oder maximal zwei Lehrkräften gefragt wird. Zwar gibt es auch Skalen, die nach LSBen im Allgemeinen fragenFootnote 3, aber im Anbetracht der zuvor skizzierten Komplexität verschiedener Beziehungen liegen die Limitationen generalisierender Instrumente auf der HandFootnote 4. Auch bei qualitativen Zugängen (z. B. Video- oder Interviewstudien) oder Beobachtungen der einzelnen Interaktionen (z. B. über das Classroom Assessment Scoring System, CLASS; mit den Dimensionen der emotionalen Unterstützung, der Organisation der Klasse sowie der instruktionalen Unterstützung, Pianta et al. 2008) stellt sich generell die Frage nach der Erfassbarkeit von Beziehungsqualität, die sich letztlich aus dynamischen und verschiedenen Interaktionen stetig weiterentwickelt (Nickel 1976, 1981; Wettstein und Raufelder 2021). Darüber hinaus wird in den vorliegenden Instrumenten das emotionale Erleben der Schüler:innen, welches – wie in den vorherigen Abschnitten umfassend geschildert – eng mit den sozialen Beziehungen verwoben ist, nicht berücksichtigt.

Ebenfalls wäre es unzureichend, die LSB ohne die Berücksichtigung der Schüler:innen-Schüler:innen-Beziehung (SSB) zu betrachten, da auch hier vermutlich von einer Wechselwirkung ausgegangen werden kann. Denn es ist anzunehmen, dass sich die Emotionen, welche von den Schüler:innen in der LSB erlebt werden, auf die Wahrnehmung und die emotionalen Erfahrungen der SSBen im Klassenkontext auswirken – und vice versa. So legt zumindest eine aktuelle Meta-Analyse nahe, dass die Qualität der LSB Einfluss auf die Peer-Beziehungen im Klassenkontext hat (Endedijk et al. 2022). Die Ergebnisse zeigen, dass vor allem negative Aspekte der LSB (z. B. Konflikte, korrigierendes Lehrerfeedback, Bestrafungen) die Beziehungen zu Gleichaltrigen beeinflussen. Darüber hinaus vermittelt die Qualität der LSB teilweise den Zusammenhang zwischen Schüler:innenverhalten und Peer-Beziehungen: So kann sich die Vermeidung oder Verringerung von negativen Aspekten der Lehrkraft in ihren Beziehungen zu verhaltensauffälligen Schüler:innen beispielsweise positiv auf die Beziehungen zu Gleichaltrigen in der Klasse auswirken.

2.2.2 Schulerfahrungen mit Peers

Neben den Beziehungen zu Lehrkräften prägen demnach auch die Beziehungen zu anderen Schüler:innen den Schulalltag und das emotionale Erleben der Lernenden. Dabei sind Klassenkamerad:innen potenzielle Freund:innen, die soziale Bedürfnisse des sich entwickelnden Kindes erfüllen (Rubin et al. 2006, 2009). Peers reflektieren Verhaltensstandards und Normen, die den Jugendlichen bei der existentiellen Frage Wer bin ich und wo will ich hin? begleiten (Bukowski und Raufelder 2018).

Peernetzwerke.

Peernetzwerke beziehen sich auf kleine Gruppen von Gleichaltrigen, die viel Zeit miteinander verbringen und enge freundschaftliche Beziehungen unterhalten (Adler und Adler 1998). Die Gründe, sich diesen Netzwerken anzuschließen, variieren im Laufe der Entwicklung von Kindern zu Jugendlichen und unterscheiden sich zwischen Jungen und Mädchen (Oswald und Uhlendorff 2008). Mädchen legen oft Wert auf emotionale Nähe und Intimität in ihren Netzwerken, wohingegen Jungen eher Geselligkeit und instrumentelle Unterstützung suchen (Raufelder et al. 2010). Dies spiegelt sich in den unterschiedlichen Größen und Merkmalen von Mädchen- und Jungen-Netzwerken wider, wobei Mädchen-Netzwerke tendenziell kleiner, exklusiver und von kooperativem Verhalten geprägt sind, während Jungen-Netzwerke größer, flexibler und durch offenen Wettbewerb gekennzeichnet sind (Raufelder et al. 2010). Es ist wichtig zu beachten, dass das Vorhandensein von Peerbeziehungen und deren Qualität während des Übergangs von der späten Kindheit zur frühen Adoleszenz sowohl für Jungen als auch für Mädchen von großer Bedeutung ist (Rose und Rudolph 2006). Diese Beziehungen fördern das psychosoziale Wohlbefinden und die allgemeine Entwicklung in dieser Phase.

Positive Peer-Beziehungen beeinflussen verschiedene Aspekte schulischer Anpassung (Berndt 2002), z. B. Wohlbefinden, die Einstellungen zur Schule, Schulengagement, Motivation und Leistung (Wentzel 2005, 2017), und prägen das emotionale Erleben maßgeblich. Längs- und Querschnittstudien haben gezeigt, dass Schüler:innen mit problematischen Peer-Beziehungen (z. B. die Ablehnung oder Bullying durch Peers) schwächere Schulleistungen hervorbringen, mehr Ängstlichkeit erleben und häufiger zu Schulabsentismus tendieren (DeRosier et al. 1994; Ollendick et al. 1992; Schlesier et al. 2023b). Während positive Emotionen in den Beziehungen von Schüler:innen zu Lehrer:innen und Mitschülern sich positiv auf ihre Motivation, Leistung und ihr Wohlbefinden in der Schule auswirken, können negative Emotionen in diesen Beziehungen (zum Beispiel durch ständig negative Rückmeldungen von Lehrkräften oder soziale Ausgrenzung und Konkurrenz unter Mitschüler:innen) zu einer Abnahme der Motivation und Leistung bei Schüler:innen führen (Pöhland und Raufelder 2014).

In der späten Kindheit (etwa im Alter von 8–11 Jahren) und zu Beginn der Adoleszenz (etwa im Alter von 12–14 Jahren) gewinnen Peer-Netzwerke an Bedeutung (Fend 1998). Während in den früheren Jahren die Familie die Hauptrolle im Leben der Heranwachsenden spielte, nehmen nun die Interaktionen und Freundschaften mit Peers eine immer größere Rolle ein (Fend 1998). Zusätzlich müssen sich jugendliche Schüler:innen mit zunehmend komplexen emotionalen Beziehungsgeflechten unter ihresgleichen auseinandersetzen, wie beispielsweise Gefühlen von Eifersucht, Ausgrenzung, Gruppendruck und Wettbewerb (Pöhland und Raufelder 2014). Insbesondere in Schulklassen entstehen Peernetzwerke mit ihren je eigenen Normen und Rollen (Goodenow 1993).

Theoretische Grundlagen.

In Bezug auf die SSB sind ebenfalls theoretische Desiderate anzumerken: Ähnlich wie bei der LSB gibt es keine spezifische Theorie zur SSB. Oft werden auch hier theoretische Aspekte aus der Selbstbestimmungstheorie verwendet: So kann das Grundbedürfnis nach sozialer Eingebundenheit durch eine positive Beziehung mit Peers, Gefühle der sozialen Verbundenheit und qualitativ hochwertigen sozialen Interaktionen befriedigt werden (Niemiec und Ryan 2009). Andere pädagogisch- und entwicklungspsychologische Studien stützen sich aber auch auf die ‚Sozial-kognitive Lerntheorie‘ (Bandura 1977) oder Wygotski’s ‚Sozio-kulturellen Ansatz‘ (Tudge 1990). Implizite Theorien des Individuums (in Tradition von Dweck et al. 1993) in Peer-Beziehungen finden in empirischen Studien zur SSB ebenfalls Beachtung (Rudolph 2010); aber auch gruppendynamische Prozesse in der Tradition von Lewin, wie zum Beispiel das ‚Rangdynamische Positionsmodell‘ (Schindler 2016) oder das ‚Phasenmodell‘ nach Tuckman (König und Schattenhofer 2022; Tuckman 1965) finden Berücksichtigung in Untersuchungen zur SSB. Die verschiedenen theoretischen Modelle und Ansätze beleuchten unterschiedliche Aspekte der SSB, dennoch gibt es keine umfassende Theorie, in welcher dem aus Interaktionen und gruppendynamischen Prozessen sich kontinuierlich generierenden Charakter der SSB Rechnung getragen wird.Footnote 5

Methodische Herausforderungen.

Will man die Qualität von SSB und/oder Peer-Netzwerken im Klassenzimmer untersuchen, gilt es einige methodische Herausforderungen zu meistern. Ähnlich wie bei der LSB gibt es im Klassenzimmer nicht die eine SSB, sondern jede:r Schüler:in hat eine spezifische SSB mit den jeweils anderen Schüler:innen. Man könnte jetzt schlussfolgern, dass folglich die Summe aller SSBen die SSB einer Klasse bestimmen, aber dies wäre eine unvollständige Betrachtung. Denn innerhalb dieser dynamischen und wechselseitigen Beziehungen zwischen Schüler:innen, die sich durch tägliche Interaktionen kontinuierlich verändern können, spielen weitere zentrale Aspekte eine Rolle: etwa das Konzept der Freundschaft, Sympathie, Klassenklima, soziale Eingebundenheit bzw. sozialer Ausschluss (z. B. Einzelgänger) und damit einhergehende sozialen Dominanzstrategien, die prosoziales und koersives Verhalten unterscheidet (z. B. soziale Unterstützung, Aggression, (Cyber‑)Mobbing) (Hawley 1999). Auch die Peer-Netzwerke, die in der Regel mit Peer-Nominationsinstrumenten bzw. soziometrischen Verfahren erfasst werden (z. B. das „Klassenspiel“; Masten et al. 1985 oder „Social Cognitive Mapping“, Cairns et al. 1990), unterliegen spezifischen Differenzen in der Wahrnehmungen: So kann z. B. eine Schülerin der Meinung sein, dass sie Mitglied eines Peernetzwerks ist, was zwei andere Mitschülerinnen ebenso wahrnehmen, wohingegen drei weitere Mitglieder dieses Peernetzwerks anderer Meinung sind.

2.3 Schulisches Wohlbefinden: Ein Konstrukt, das soziale und emotionale Schulerfahrungen von Schüler:innen vereint

Eines der Konstrukte, welches sowohl soziale Beziehungen – und dabei SSB sowie LSB – als auch das emotionale Erleben der Schüler:innen berücksichtigt, ist das Konstrukt des schulischen Wohlbefindens (Hascher und Hagenauer 2020; Obermeier et al. 2021, 2022; OECD 2018). Forschung zu dieser Thematik wurde in den letzten beiden Jahrzehnten rege betrieben, unter anderem in Hinblick auf die Zusammenhänge von Wohlbefinden mit der Leistung (Bücker et al. 2018; Morinaj und Hascher 2022). Ebenfalls wurde das Wohlbefinden beispielsweise 2015 im Rahmen eines Zusatzteils in die PISA-Studie integriert (Choi 2018; OECD 2017).

Das schulische Wohlbefinden zielt auf die subjektive emotionale und kognitive Bewertung der schulischen Realität eines Kindes bzw. Jugendlichen und damit auch des sozialen Umfeldes ab (Hascher 2004; Hascher und Hagenauer 2020). Wenn sich Kinder bzw. Jugendliche in der Schule wohl fühlen, ist damit die Dominanz positiver Emotionen und Kognitionen in Bezug auf die Schule und den schulischen Kontext (u. a. soziale Beziehungen) gemeint (Hascher und Hagenauer 2020). Das schulische Wohlbefinden wird seit Haschers Ausführungen (2004) meist entsprechend den sechs Dimensionen (1) positive Einstellung zur Schule, (2) Schulfreude, (3) positives akademisches Selbstkonzept, (4) Sorgen in der Schule, (5) körperliche Beschwerden in der Schule und (6) soziale Probleme in der Schule gefasst, welche beispielsweise im engen Zusammenhang mit Unterrichtsqualität, Leistungen von Schüler:innen, Fehltagen, Emotionsregulationsstrategien sowie positiven Leistungsemotionen stehen (Beaumont et al. 2023; Hascher 2004; Hascher und Hagenauer 2020; Morinaj und Hascher 2022; Obermeier et al. 2021, 2022). So nehmen Schüler:innen, welche sich besonders wohl in der Schule fühlen, u. a. ein positives soziales Klassenklima und viel Unterstützung durch die Lehrkräfte wahr (Obermeier et al. 2022). Darüber hinaus konnten bereits enge Zusammenhänge zu den Lern- und Leistungsemotionen gezeigt werden. Demnach lässt sich die Verringerung schulischen Wohlbefindens im Laufe der fünften Klasse vorwiegend über den gleichzeitigen Anstieg negativer Emotionen wie Angst erklären (Obermeier et al. 2022). Diese ungünstige Entwicklung ist möglicherweise durch die gleichzeitige Abnahme der durch emotionale Wärme geprägten LSB und einer stärkeren Wahrnehmung von negativen Emotionen in Peer-Beziehungen bedingt (Hargreaves 2000); untermauert wird diese Überlegung durch die Studienergebnisse von Saxer et al. (2024), welche darlegen, dass die Schaffung einer warmen und sicheren Umgebung durch Lehrkräfte mit einer höheren Qualität der SSBen im Klassenzimmer und mit einem höheren Wohlbefinden der Schüler:innen assoziiert ist.

Alles in allem zeichnet sich die Verwobenheit von sozialen Beziehungen und Emotionen in diversen empirischen Studien zu schulischem Wohlbefinden – mit der Erkenntnis, dass die Beziehungspartner:innen bei positivem Erleben in der Regel ein höheres schulisches Wohlbefinden berichten – ab (Hascher und Waber 2021; Hoferichter et al. 2021; Saxer et al. 2024). Dennoch ist anzumerken, dass das Konstrukt des schulischen Wohlbefindens noch immer nicht einheitlich gefasst wird und Definitionen sowie die Bedeutung sozialer Beziehungen und Emotionen in dem Konstrukt variieren (Obermeier et al. 2022; OECD 2017). Auch werden unter schulischem Wohlbefinden nach Hascher (2004) noch weitere Dimensionen abseits des emotionalen und sozialen Erlebens gefasst, wie etwa körperliche Beschwerden oder das akademische Selbstkonzept, welche zwar unweigerlich in Verbindung mit sozialen Beziehungen und dem emotionalen Erleben der Schüler:innen stehen, aber keine unmittelbaren Teildimensionen von ihnen sind. Zudem sind SSB und LSB nur verkürzt in dem Konstrukt des schulischen Wohlbefindens integriert und die Einbettung der Emotionen wird nur über Freude und Sorgen vollzogen. Das schulische Wohlbefinden eignet sich daher vor allem dazu, einen ersten Einblick in sozio-emotionale Schulerfahrungen von Schüler:innen zu erlangen; für ein tieferes Verständnis in das gesamte Spektrum der sozio-emotionalen Schulerfahrungen von Schüler:innen müsste das Konstrukt erweitert oder ein neues Konstrukt entwickelt werden.

3 Evidenzbasierte Gelingensbedingungen für positive sozio-emotionale Schulerfahrungen von Schüler:innen

Zwar gibt es eine kontinuierlich wachsende Anzahl an Studienbefunden zu sozialen und emotionalen Schulerfahrungen in den letzten zwei Jahrzehnten zu verzeichnen, allerdings werden sozio-emotionale Aspekte in der Unterrichtspraxis und im Schulalltag oftmals rudimentär behandelt und/oder isoliert voneinander betrachtet. Dabei sind sozio-emotionale Erfahrungen – im Sinne von positiven sozialen Beziehungen und damit verwobenem positivem emotionalen Erleben – nicht nur zentral für schulische Motivations- und Lehr‑/Lernprozesse (Bakadorova und Raufelder 2018; Hattie et al. 2018; Roorda et al. 2011) sowie weniger Stresserleben und höheres schulisches Wohlbefinden (Hagenauer und Raufelder 2021), sondern helfen Schüler:innen bei der Entwicklung ihrer Fähigkeiten und Fertigkeiten im Umgang mit sozialen Situationen und dem Verständnis sowie der Regulation von Emotionen (sozio-emotionale Kompetenz) (Beaumont et al. 2023; Hoferichter et al. 2021; Saxer et al. 2024). Im Schulkontext gilt es daher – neben akademischen Bildungszielen –, die sozialen Fähigkeiten von Individuen zu stärken, ihre Empathie zu fördern, Konfliktlösungsfähigkeiten zu entwickeln und ein Verständnis für die eigenen Emotionen sowie die Emotionen anderer zu entwickeln. Diese Aspekte sind oft entscheidend für den Erfolg nicht nur in sozialen Interaktionen, sondern auch im schulischen Umfeld und darüber hinaus im späteren Leben.

Um die sozio-emotionalen Schulerfahrungen von Schüler:innen fördern zu können, gibt es verschiedene Möglichkeiten für Ansatzpunkte im Rahmen einer Prävention bzw. Intervention: Demnach gibt es einerseits Bestrebungen, die sozio-emotionalen Kompetenzen der Schüler:innen direkt und unmittelbar zu stärken, indem die entwickelten Programme direkt bei den Schüler:innen ansetzen. So gibt es zahlreiche Programme mit verschiedenen theoretischen Ansätzen, welche Emotionstagebücher (z. B. Renati et al. 2011), Tierinterventionen (z. B. Schulhund: Beetz 2013) oder Achtsamkeit (z. B. Crescentini et al. 2016) einsetzen und dabei oftmals auf die Optimierung intrapersoneller Prozesse abzielen (Schlesier et al. 2019). Doch für diese Ansätze ist eine langfristige Wirksamkeit in nur geringem Maße bzw. bislang nicht nachgewiesen worden (Schlesier et al. 2019). Andererseits zielen andere Interventionsansätze auf Praktiken und Handeln von Lehrkräften ab, welche positive soziale Beziehungen im Klassenzimmer stärken sollen, emotionale Intelligenz fördern und die soziale Kompetenz auch auf Seiten der Schüler:innen verbessern sollen. So konzentrieren sich beispielsweise Interventionen im Rahmen des ‚Procsocial Classroom Models‘ (s. oben) auf Techniken wie Achtsamkeit für Lehrer:innen, emotionale Unterstützung, Konfliktlösungsfähigkeiten und die Integration sozial-emotionaler Lerninhalte in den regulären Lehrplan (Jennings et al. 2017; Jennings und Greenberg 2009). Auch im Rahmen der Lehrkräfteprofessionalisierung wird versucht, über das Instruktionsverhalten oder den Enthusiasmus der Lehrkräfte das emotionale Erleben der Schüler:innen (und Lehrkräfte) positiv zu begünstigen (Keller et al. 2016). Aus einer Studie geht beispielswiese hervor, dass Schüler:innen, die von Lehrkräften mit wenig oder internalisiertem Enthusiasmus unterrichtet wurden, weniger Freude und mehr Langeweile empfinden als Schüler:innen, die mit großem Enthusiasmus unterrichtet wurden (Keller et al. 2018).

Eine weitere Möglichkeit könnte es sein, sowohl an den Schüler:innen selbst als auch an der durch die Lehrkräfte implementierten Unterrichtsform und den damit einhergehenden Instruktionen anzusetzen. Als geeignet haben sich diesbezüglich vor allem verschiedene Formate des selbstbestimmten Lernens (z. B. Lernen durch Engagement, Scaffolding, Forschendes Lernen etc.) im Unterricht herausgestellt. So konnte empirisch bereits belegt werden, dass durch die Implementation einer Woche Forschenden Lernens pro Schulhalbjahr ein Zuwachs von erlebter Freude und sozialer Eingebundenheit bei den Schüler:innen langfristig verzeichnet werden kann (Schweder und Raufelder 125,126,a, b). Auch bei Service-Learning-Angeboten in der Schule, welche sich durch ihre Gemeinnützigkeit und Demokratiebildungsförderung auszeichnen, konnten in zahlreichen Studien – vor allem im Sekundar- und Hochschulbereich – bereits positive Effekte auf die sozio-emotionalen Kompetenzen von Schüler:innen dargelegt werden (Celio et al. 2011; Yorio und Ye 2012).

Zusammenfassend scheinen Interventionsformate, in welchen selbstbestimmtes Lernen implementiert und sowohl Schüler:innen als auch Lehrkräfte im Rahmen ihrer (weiteren) Professionalisierung integriert werden, besonders vielversprechend zu sein, wenn es um die Förderung sozio-emotionaler Schulerfahrungen von Schüler:innen geht. Gemein ist den Formaten zum selbstbestimmten Lernen, dass mit diesen 1. soziale Beziehungen mit Lehrkräften durch die Aufhebung von Hierarchien (Lehrer:innen werden vom/von der Instrukteur:in zum/zur Lernbegleiter:in) gestärkt werden, 2. Beziehungen mit Peers durch die Aufhebung von der Selektionsanforderungen (Peers werden von Wettstreiter:innen zu Kooperationspartner:innen) entproblematisiert werden, 3. sich die Schüler:innen hierbei ausschließlich im Kompetenzmodus befinden und 4. positive Emotionen begünstigt werden. Dementsprechend wäre es sinnvoll, diese Formate vermehrt in der Schulpraxis zu implementieren oder weitere Formate mit einem ähnlichen Ansatz zum selbstbestimmten Lernen zu entwickeln.

4 Fazit und Ausblick

Wie in den vorherigen Ausführungen betont, gibt es in der Forschung mittlerweile Bestrebungen, dass Emotionen im Rahmen von Forschung zu sozialen Beziehungen integriert werden (Nurmi und Kiuru 2015; Raufelder und Lazarides 2021) und der soziale Kontext mehr Berücksichtigung in empirischen Studien und Theorien der Emotionsforschung findet (Keller et al. 2018; Lei et al. 2018; Schlesier et al. 2023a). Der Stichwortbeitrag hat aber auch verdeutlicht, dass der Bereich der sozio-emotionalen Schulerfahrungen vorwiegend auf zwei relativ isoliert voneinander betrachteten Forschungssträngen und -traditionen basiert: auf der Emotionsforschung und der Forschung zu sozialen Beziehungen. Daher haben wir eingangs die Frage aufgeworfen, wie sozio-emotionale Schulerfahrungen zukünftig in der Forschung durch das Zusammenführen der beiden Forschungsstränge und -traditionen stärker als verwobene Entitäten Berücksichtigung finden können und haben in unseren Ausführungen in allen Themenkomplexen aufgearbeitet, inwiefern sich die Verwobenheit der Thematiken wiederfinden lässt. Es zeigte sich, dass diesen beiden Forschungssträngen quer- oder längsschnittliche Untersuchungen von Zusammenhängen bzw. Wirkungen zwischen Emotionen und der Qualität erlebter sozialer Beziehung (und vice versa) immanent ist – aber müssten nicht eigentlich die in den Beziehungen erlebten Emotionen ebenfalls mit untersucht werden bzw. die situationale Situation/Beziehung, in der Emotionen erlebt werden? Oder anders ausgedrückt: Ist es der einzige Weg, Emotionen losgelöst von sozialen Beziehungen und soziale Beziehungen ohne die emotionale Komponente zu erheben, um sie dann ggf. miteinander in Beziehung zu setzen (z. B. durch Korrelations- oder Regressionsanalysen)?

Ausblickend möchten wir daher einige mögliche Ansatzpunkte skizzieren, mit welchen diesem Desiderat möglicherweise entgegnet werden könnte: Anhand unserer Darlegungen erkennen wir ein bedeutendes Potenzial in der Erforschung sozialer Emotionen und in Studien, welche entsprechend der Selbstbestimmungstheorie die drei Grundbedürfnisse nach sozialer Eingebundenheit, Autonomie- sowie Kompetenzerleben mit etablierten Theorien der Emotionsgenese (z. B. CVT) und Emotionsregulationsgenese (z. B. PMER, ERAS) verbinden. Auch scheinen Validierungs- und längsschnittliche Studien zu integrierenden Modellen (z. B. BELL) notwendig, um einen tieferen Einblick in die Verwobenheit von Emotionen und sozialen Beziehungen zu erhalten. Weiterhin hat sich in den Aufarbeitungen gezeigt, dass das Konstrukt des schulischen Wohlbefindens sowohl das emotionale Erleben als auch die sozialen Beziehungen integriert, sodass auch dies Potenzial für weitere längsschnittliche Forschungen oder Forschungen bietet. In Bezug auf Interventionsforschung konnten wir herausstellen, dass insbesondere Formate zum selbstbestimmten Lernen sich dazu zu eignen scheinen, sozio-emotionale Schulerfahrungen von Schüler:innen zu fördern, sodass diese in zukünftigen Studien weiterentwickelt und umfassend bezüglich ihrer Auswirkung auf die sozio-emotionalen Schulerfahrungen der Schüler:innen untersucht werden sollten. Nicht zuletzt könnten interdisziplinäre Projekte, die sozio-emotionale Schulerfahrungen aus verschiedenen Perspektiven beleuchten (Fachwissenschaften, Fachdidaktiken, Psychologie, Disziplinen der Humanmedizin etc.) oder didaktische Ansätze im Forschungsdesign integrieren, durch das bewusste Aufbrechen von Fächergrenzen einen breiteren Blickwinkel generieren und bislang isoliert betrachtete Aspekte der sozio-emotionalen Schulerfahrungen in Verbindung setzen.