1 Einleitung

Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) ist ein elementarer Bestandteil schulischer Bildung (vgl. UNECE 2005). BNE ist ein fächerübergreifendes Konzept mit dem Ziel, Lernende beim Erwerb derjenigen Kompetenzen anzuleiten und zu unterstützen, um „an der zukunftsfähigen Gestaltung der Weltgesellschaft aktiv und verantwortungsvoll mitzuwirken und im eigenen Lebensumfeld einen Beitrag zu einer gerechten und umweltverträglichen Weltentwicklung leisten zu können“ (de Haan 2002, S. 14; vgl. Rieckmann 2018). Im Folgenden wird von BNE-Unterricht gesprochen, wenn Unterricht gemeint ist, der sich inhaltlich auf Themen von Nachhaltigkeit und nachhaltiger Entwicklung bezieht (z. B. keine Armut, Maßnahmen zum Klimaschutz; Martens und Obenland 2016).

1.1 Kompetenzen von Lehrkräften für BNE-Unterricht

Für die Kompetenzentwicklung von Schüler:innen sind die Kompetenzen der Lehrkraft eine wichtige Einflussgröße (Lipowsky 2006), und so stellt sich die Frage, über welche Kompetenzen für erfolgreichen BNE-Unterricht (BNE-Kompetenz) verfügen sollten. Es wurden verschiedene Modelle für die für BNE erforderlichen Kompetenzen von Pädagog:innen entwickelt (für eine ausführliche Darstellung s. Rieckmann und Barth 2022), die sich in zwei Gruppen unterteilen lassen: Die erste Gruppe von Modellen ist speziell für die BNE entwickelt worden und umfasst vier Modelle, die mit Bezug zur BNE-Strategie der UNECE (2005) in europäischen Großprojekten entwickelt wurden: das „Curriculum, Sustainable development, Competences, Teacher training“ (CSCT)-Modell von Sleurs (2008), das darauf aufbauende „Kompetenzen für Bildung für Nachhaltige Entwicklung“ (KOM-BiNE)-Modell (Rauch et al. 2008), ein von der UNECE (2012) vorgeschlagenes Modell und das darauf aufbauende RSP-Modell aus dem Projekt „A Rounder Sense of Purpose“ (Millican 2022). Diese Modelle betrachten BNE-Kompetenz von Pädagog:innen inner- und außerhalb des Schulsystems im Zusammenhang mit deren gesellschaftlichen Rollen. Deshalb sind sie gut geeignet, um die Reflektion von Lehrkräften über den eigenen Unterricht anzuregen (Rauch et al. 2008). Alle Modelle berücksichtigen umfänglich die spezifischen Charakteristika von BNE, welche zum Teil erheblich vom typischen Fachunterricht an Schulen abweichen, etwa bei der Betonung gesellschaftlicher Verantwortung (vgl. Bertschy et al. 2013). Für eine gemeinsame Betrachtung von Kompetenzen für BNE und für Fachunterricht sollte ein Modell möglichst sowohl BNE-spezifisch als auch anschlussfähig an allgemeine Kompetenzmodelle aus der Lehrkraftforschung sein (Bertschy et al. 2013). Solche Modelle gehören zur zweiten Gruppe von Kompetenzmodellen für BNE.

Die zweite Gruppe orientiert sich an gängigen Modellen der Bildungsforschung und überträgt die für den Fachunterricht definierten Kompetenzen auf den BNE-Kontext. Hierzu gehören die Modelle, in denen die BNE-Kompetenz als professionelle Handlungskompetenz, wie sie im COACTIV-Projekt spezifiziert wurde (Baumert und Kunter 2011, s. Abschn. 1.2), modelliert wird (Bertschy et al. 2013; Brandt et al. 2019; Hellberg-Rode und Schrüfer 2016; Reinke 2022; s. Abschn. 1.3). Diese Modelle für BNE-Kompetenz berücksichtigen jedoch nicht alle Komponenten, die im COACTIV-Modell beschrieben werden.

In einer eigenen Vorstudie wurden 16 Interviews mit Pädagog:innen bzgl. der Passung des COACTIV-Modells für BNE inhaltsanalytisch ausgewertet (List et al. 2022). Die Daten der Vorstudie entstammen einer Interviewstudie zu den Umsetzungsmöglichkeiten für BNE (List und Hartig 2023). Es zeigte sich, dass sich die Struktur des COACTIV-Modells auf BNE-Kompetenz übertragen lässt, aber dass die Kompetenzfacetten in Teilen erweitert oder adaptiert werden sollten, etwa um das Nachhaltigkeitsbewusstsein miteinzubeziehen, das eine wesentliche Grundlage für das eigene Handeln darstellt (Bamberg und Möser 2007) und somit auch für das Unterrichten relevant sein sollte. Der Spezifikation des vollständigen COACTIV-Modells für die professionelle BNE-Kompetenz von Lehrkräften widmet sich der vorliegende Beitrag.

1.2 Das COACTIV-Modell der professionellen Handlungskompetenz von Lehrkräften

Das Modell der professionellen Handlungskompetenz wurde von Baumert und Kunter im Rahmen des COACTIV-Projekts zunächst für die Kompetenzen von Mathematiklehrkräften entwickelt (Kunter et al. 2011). Es bietet eine theoriebasierte Taxonomie der Fähigkeiten, Wissensbestände und Überzeugungen von Lehrkräften, die wesentlich für das Gelingen von Unterricht sind. Das Modell wurde auf naturwissenschaftliche wie geistes- und gesellschaftswissenschaftliche Fächer übertragen (z. B. Krauss et al. 2017). Die Bedeutung der Kompetenzdimensionen für Unterrichtsqualität und Schüler:innenleistung wurde in empirischen Studien wiederholt bestätigt (für einen Überblick siehe Bernholt et al. 2023). Das Modell beinhaltet die Kompetenzdimensionen Professionswissen, Werthaltungen und Überzeugungen, motivationale Orientierungen und Selbstregulationsfähigkeit, die wiederum einen oder mehrere Kompetenzbereiche enthalten, für welche jeweils eine oder mehrere Facetten unterschieden werden können. Das Modell ist in Abb. 1 schematisch dargestellt.

Abb. 1
figure 1

COACTIV-Modell der professionellen Handlungskompetenz von Lehrkräften. Modelldarstellung basierend auf Baumert und Kunter (2006, 2011). a: Wird i. d. R. nicht in mehrere Facetten unterteilt

Professionswissen gliedert sich in Fachwissen über Unterrichtsinhalte, fachdidaktisches Wissen zu fachspezifischen und pädagogisch-psychologisches Wissen zu allgemeinen Aspekten des Lehrens und Lernens (Baumert und Kunter 2006). Fachwissen (FW) wird als „profundes […] Verständnis des Hintergrunds des Schulstoffs“ definiert (Baumert und Kunter 2011, S. 37). Fachdidaktisches Wissen (FDW) umfasst Wissen darüber, wie Schüler:innen die Fachinhalte vermittelt werden können, z. B. Wissen um fachspezifische Instruktionsstrategien (Baumert und Kunter 2006). Das pädagogisch-psychologische Wissen (PPW) ist fachunspezifisch und beinhaltet Wissen u. a. über Unterrichtsplanung oder Strategien zur Klassenführung (Baumert und Kunter 2006).

Unter professionsbezogenen Werthaltungen und Überzeugungen werden in COACTIV handlungsleitende Überzeugungen verstanden, die sich auf das Lehren und Lernen oder die Aneignung und Sicherheit der Wissensbestände des Faches beziehen (Voss et al. 2013). Baumert und Kunter (2006) unterscheiden die Kompetenzbereiche epistemologische Überzeugungen zum fachbezogenen Wissen, professionsbezogene Werthaltungen und berufsethische Überzeugungen („Berufsmoral“), subjektive Theorien über das Lernen und Lehren und Unterrichtsziele.

Bei motivationalen Orientierungen unterscheiden Baumert und Kunter (2006) zwischen Selbstwirksamkeitsüberzeugungen (SWÜ), Enthusiasmus für das Fach sowie Enthusiasmus für das Unterrichten des Faches. Die professionsbezogenen SWÜ von Lehrkräften beinhalten u. a. Überzeugungen über die Effektivität des eigenen Unterrichts für den Lernerfolg der Schüler:innen (Kunter 2013). Unter Enthusiasmus wird in COACTIV die überdauernde positive Bewertung der eigenen beruflichen Tätigkeit verstanden (Kunter 2013). In COACTIV werden der Enthusiasmus für den Gegenstand (das Unterrichtsfach) und für die Tätigkeit (das Unterrichten des Faches) unterschieden.

Die vierte Kompetenzdimension ist die berufliche Selbstregulationsfähigkeit. Sie bezieht sich auf die Fähigkeit von Lehrkräften, im Berufskontext mit den eigenen Ressourcen haushalten zu können. Für die Selbstregulationsfähigkeit sind die Bereitschaft, Zeit und Anstrengung für berufliche Aufgaben aufzuwenden (Engagement), wie auch die Fähigkeit zur Distanzierung von berufsbezogenen Problemen sowie der Umgang mit Misserfolgen (Resilienz) relevant (Baumert und Kunter 2006). Das COACTIV-Modell findet auch außerhalb der Forschung Anwendung, z. B. als Rahmen zur Beschreibung der zu erwerbenden Lehrkraftkompetenzen in der Fortbildung (Biehler et al. 2018).

1.3 Das COACTIV-Modell im BNE-Kontext

Von den Modellansätzen für die BNE-Kompetenz, die das COACTIV-Modell zugrunde legen, fokussieren zwei auf die Konzeptualisierung (Bertschy et al. 2013; Hellberg-Rode und Schrüfer 2016) und zwei auf die Operationalisierung (Brandt et al. 2019; Reinke 2022). Bertschy et al. (2013) schlagen ein Modell für den Primarbereich vor und unterscheiden dabei Wissen und Fähigkeit mit den Komponenten FW und FDW und Motivation und Volition, worunter Überzeugungen in Bezug auf BNE und auf nachhaltige Entwicklung gefasst werden. Hellberg-Rode und Schrüfer (2016) entwickeln ein Modell für fächerübergreifende BNE-Kompetenz im Sekundarbereich basierend auf qualitativen Interviewdaten, welche anschließend in einer Fragebogenuntersuchung den verschiedenen Bereichen des Professionswissens zugeordnet wurden. Die Ergebnisse zeigen eine vierfaktorielle Struktur des Professionswissens, mit den drei Bereichen aus COACTIV (FW, FDW, PPW: Baumert und Kunter 2011), jeweils spezifisch für BNE, der vierte Faktor beinhaltet „reflexiv-analytische Kompetenzen“ (Hellberg-Rode und Schrüfer, S. 24), die für BNE sowie für andere Themengebiete relevant sind. Ihr Modell umfasst weitere Kompetenzkomponenten (z. B. Empathiefähigkeit; Hellberg-Rode und Schrüfer S. 12), die keine Entsprechung in COACTIV haben. Reinke (2022) untersucht BNE-Kompetenz von Geografielehrkräften und außerschulischen Pädagog:innen. BNE-Kompetenz operationalisiert Reinke (2022) über FW und FDW zum Thema Klimawandel, PPW, Enthusiasmus für BNE und für das Thema Klimawandel und berufsbezogene SWÜ. Brandt et al. (2019) untersuchen die Veränderung der BNE-Kompetenz von Lehramtsstudierenden; sie orientieren sich an dem Modell von Bertschy et al. (2013) und operationalisieren BNE-Kompetenz über FW und FDW jeweils zu BNE, BNE-spezifische SWÜ und Enthusiasmus für BNE.

Die hier beschriebenen Modelle zeigen einerseits, dass sich BNE-Kompetenz in das COACTIV-Framework einfügen lässt, und lassen andererseits Fragen offen. Denkbar ist, dass das Professionswissen einen vierten Kompetenzbereich beinhaltet, der in COACTIV nicht vorgesehen ist (vgl. Hellberg-Rode und Schrüfer 2016). Keine der Arbeiten bezieht alle Komponenten des COACTIV-Modells ein, insbesondere werden Werthaltungen und Selbstregulationsfähigkeit kaum berücksichtigt. Selbstregulation ist für das berufliche Wohlbefinden bedeutend (Klusmann 2013) und daher naheliegend auch für BNE-Kompetenz relevant. Es ist denkbar, dass für BNE nachhaltigkeitsbezogene Werthaltungen eine Rolle spielen, die über die professionsbezogenen Werte und Überzeugungen des COACTIV-Modells hinausgehen und allgemein bedeutsam für nachhaltigkeitsbezogenes Verhalten sind (Bamberg und Möser 2007; Bertschy et al. 2013; List et al. 2022).

Wegen der Verbreitung in Forschung und Praxis sowie der Anwendbarkeit auf viele Unterrichtsfächer eignet sich COACTIV als Rahmen, um BNE-Kompetenz näher zu untersuchen. Es stellt eine klar strukturierte Verbindung zwischen allgemeiner und BNE-spezifischer Lehrkraftforschung her. So können z. B. Annahmen zu Zusammenhängen zwischen Lehrkraft- und Schüler:innenkompetenzen abgeleitet und empirisch überprüft werden. Durch die Verbreitung in der Lehrkräftebildung bietet das COACTIV-Modell ein Framework für die fachübergreifende Diskussion zu Inhalten der Lehrkräfteaus- und -fortbildung, wie von Bertschy et al. (2022) gefordert. Der Bezug zu einem in unterschiedlichen Fächern etablierten Kompetenzmodell kann die Integration von BNE-Themen in bestehende Curricula erleichtern, z. B. wenn bereits bekannte Kompetenzkonzepte (z. B. Professionswissen) genutzt werden (Hemmer et al. 2020). Rieckmann und Barth (2022) betonen die fehlende Einheitlichkeit der verwendeten Konzepte und Konstrukte in der Forschung zu BNE-Kompetenzen. Eine stärkere Anbindung an die allgemeine Lehrkraftforschung ermöglicht eine bessere Integration der BNE-Forschung in die empirische Bildungsforschung und kann wiederum neue Impulse für die Lehrkraftforschung geben (Bertschy et al. 2022; Brandt et al. 2019). Und im Vergleich zu eher holistischen Modellen (KOM-BiNE, RSP) erlaubt das COACTIV-Modell einen analytischen Blick auf die Lehrkraftkompetenzen, insbesondere mit Bezug zu kognitiven Aspekten von fach- und fachdidaktischem Wissen, wie Hemmer et al. (2022, S. 241) darlegen.

1.4 Ziele der Studie

Das Ziel unserer Studie ist es, vertieft zu untersuchen, ob das COACTIV-Modell zur Beschreibung der BNE-Kompetenz genutzt werden kann. Dazu legen wir das vollständige COACTIV-Modell zugrunde (Baumert und Kunter 2006, 2011) und untersuchen aufbauend auf bisherigen Ergebnissen zur BNE-Kompetenz anhand von Interviewdaten detailliert die Anwendbarkeit des COACTIV-Modells zur Beschreibung einer BNE-Kompetenz. COACTIV als theoretischer Rahmen bietet sich an, weil es dazu bereits Ansätze für BNE-Kompetenzmodelle gibt und weil sich dieses Modell in der Bildungsforschung vielfach bewährt hat (Kunter et al. 2013). Nachhaltigkeit ist nicht nur Lerngegenstand in der Schule, sondern auch Bestandteil von außerschulischem Lernen und höherer Bildung (Diersen und Paschold 2020; Kuhlmeier und Kastrup 2023). Wir konzentrieren uns hier auf die Schule: Ein Einfluss von BNE auf Einstellungen und Handeln von Schüler:innen wird durch aktuelle Studien gestützt; es zeigen sich Zusammenhänge zwischen Unterricht mit Nachhaltigkeitsbewusstsein, Umweltwissen und nachhaltigkeitsbezogenem Verhalten (List et al. 2020; van de Wetering et al. 2022). Unser Fokus ist die Sekundarstufe: Aufgrund der unterschiedlichen Anforderungen an Unterricht und Lehrkräfte im Primar- und Sekundarbereich erscheint es sinnvoll, die Lehrkraftkompetenzen für BNE stufenspezifisch zu betrachten.

Der Beitrag stellt ein Modell für die BNE-Kompetenz vor, das auf Grundlage des COACTIV-Modells theoretisch hergeleitet und durch Interviews mit Fachdidaktiker:innen und Lehrkräften spezifiziert wurde (BNE-Kompetenzmodell). Das BNE-Kompetenzmodell knüpft an die Forschung zum COACTIV-Modell an und berücksichtigt die bisherigen Erkenntnisse für Lehrkraftkompetenzen für BNE. Ein dergestalt für BNE spezifiziertes Kompetenzmodell kann eine Basis dafür darstellen, diese Kompetenzen messbar zu machen und zu untersuchen, welche Bedeutung sie für die Lernergebnisse von Schüler:innen haben, und welche Beziehungen sich zwischen BNE-Kompetenz und professioneller Handlungskompetenz für unterschiedliche Schulfächer ergeben.

2 Methode

2.1 Stichprobe

Es wurden Lehrkräfte (LKs) weiterführender Schulen und Fachdidaktiker:innen (FDs) rekrutiert, um sowohl Personen mit theoriebezogenem Wissen und spezifischen Kenntnissen zu COACTIV (FDs) als auch Personen mit Praxis- und Erfahrungswissen aus dem Unterrichtsalltag (LKs) zu befragen. Datengrundlage bilden 20 leitfadengestützte Expert:inneninterviews (FDs: n = 13; LKs: n = 7), drei der interviewten Lehrkräfte sind auch in der Wissenschaft tätig. Die Personen wurden aufgrund ihrer BNE-Expertise und/oder ihres schulischen Engagements für BNE ausgewählt. Vornehmlich haben wir Personen mit Expertise in einem der für BNE zentralen Schulfächer (Biologie, Geografie und Politik) rekrutiert (n = 19), eine Person ist Religionslehrkraft und beschäftigt sich ebenfalls vertieft mit BNE in ihrem Unterricht. Die Rekrutierung der FDs erfolgte über die direkte Ansprache von Wissenschaftler:innen an Hochschulen und außeruniversitären Forschungseinrichtungen in Deutschland, die zu BNE forschen. LKs wurden über Ansprache von Schulen und Aufrufe in Newslettern von BNE-Verbänden rekrutiert. Es wurden gezielt Schulen angeschrieben, die sich mit Nachhaltigkeit und BNE auseinandersetzen. Der Rücklauf war dabei sehr gering. Nach insgesamt 20 Interviews schien eine „Sättigung“ im Material erreicht zu sein, das heißt, in Bezug auf unsere Fragestellung ergaben sich durch die letzten Interviews keine neuen Aspekte mehr (vgl. Pentzold et al. 2018). Deshalb wurden keine weiteren Anstrengungen unternommen, um die Stichprobe zu vergrößern.

2.2 Studiendesign

Alle Interviews wurden online von der Erstautorin durchgeführt. Die Dauer der Interviews variierte zwischen 41 und 69 min (M = 54 min). Von den Gesprächen wurden Tonaufnahmen erstellt und diese für die Datenanalysen transkribiert. Der Ablauf folgte einem Leitfaden mit offenen Fragen, um die Gewichtung der Themen den Erfahrungen und Kenntnissen der Interviewten anpassen zu können. Die Personen wurden nach ihren eigenen Überzeugungen gefragt, über welche BNE-Kompetenzen eine Lehrkraft verfügen sollte. Falls nicht bekannt, wurde danach das COACTIV-Modell anhand einer Grafik vorgestellt (s. Abb. ES1). Die Personen wurden dann gefragt, wie einzelne Modellkomponenten im Kontext von BNE definiert werden können, welche für BNE besonders wichtig sind und ob es weitere Aspekte der BNE-Kompetenz gibt, die im Modell nicht berücksichtigt werden. Dabei wurde der Kompetenzbereich PPW in den Interviews bewusst nicht explizit angesprochen, weil PPW der Definition nach fachunspezifisch ist und deshalb über Schulfächer hinweg dieselben Inhalte haben soll (Baumert und Kunter 2011). Wir gehen davon aus, dass PPW auch für BNE-Kompetenz fach- bzw. themenunspezifisch ist. Nach der Modellbesprechung folgte ein dritter Interviewteil mit weiteren Fragen zum BNE-Unterricht, sofern diese bisher nicht angesprochen worden waren. Bei zwei Interviews wurde vom generellen Vorgehen des Ablaufschemas abgewichen, um den Gesprächsverlauf nicht zu unterbrechen.

2.3 Analysestrategie

Die Analysestrategie orientiert sich an der thematischen Analyse (Braun und Clarke 2006, 2023). Bei dieser werden über Interviews hinweg Themen identifiziert, anhand derer eine übergreifende Beschreibung des Forschungsgegenstands mit relevanten Konzepten und deren Zusammenhängen vorgenommen wird. Bei der Identifikation von Themen und im Kodierprozess folgen wir einem wissenschaftlich-deskriptiven Ansatz, indem wir Themen nach ihrem semantischen Gehalt einordnen und von interpretativen Abstraktionen absehen (Braun und Clarke 2006). Unsere Analysestrategie ist einerseits deduktiv (theoriebasiert), da wir für das BNE-Kompetenzmodell die grundlegende COACTIV-Konzeptualisierung mit vier Kompetenzdimensionen, untergeordneten Kompetenzbereichen und -facetten annehmen, andererseits induktiv, weil wir bei der Spezifikation der Kompetenzfacetten datenorientiert vorgehen.

2.3.1 Entwicklung des Kategoriensystems

Zunächst wurden aus dem COACTIV-Modell (Baumert und Kunter 2006, 2011) a priori Kategorien abgeleitet, die den Kompetenzbereichen und -facetten des COACTIV-Modells entsprechen. Dann wurde eine Initialkodierung von neun Interviews vorgenommen und Themen identifiziert. Die für diese Studie relevanten Themen sind die Komponenten der BNE-Kompetenz. Für jedes Interview wurde eine Übersicht über die relevanten Themen erstellt, sowohl im Hinblick auf die Passung des COACTIV-Modells als auch auf weitere Themen, die sich im Interviewverlauf ergaben (z. B. nachhaltigkeitsbezogene Wertvorstellungen). Anschließend wurden diese Themen über Interviews hinweg zusammengeführt und mit den a priori-Kategorien verglichen. Wenn Themen nicht in das COACTIV-Modell eingeordnet werden konnten, aber als relevant für die BNE-Kompetenz eingeschätzt wurden, wurden neue Kategorien gebildet. Die Definitionen der Kategorien wurden innerhalb des Forschungsteams diskutiert und in einem Kodiermanual festgehalten. Dann folgte die Kodierung aller 20 Interviews gemäß dem Kodiermanual.

2.3.2 Kodierprozess

Die Initialkodierung wurde von der Erstautorin und einer studentischen Hilfskraft durchgeführt. Die Kategorien wurden vom Forschungsteam und zwei studentischen Hilfskräften entwickelt. Die nachfolgende Kodierung aller Interviews wurde von zwei studentischen Hilfskräften vorgenommen. Von 20 Interviews wurden sechs doppelt kodiert, die Übereinstimmung zwischen beiden Kodierer:innen ist gut (mittleres Kappa [RK] = 0,80; Berechnung s. Rädiker und Kuckartz 2019). Textpassagen mit unklarer Kodierung wurden im Forschungsteam diskutiert und eine finale Kodierung festgelegt.

2.3.3 Spezifikation des Kompetenzmodells

Der letzte Auswertungsschritt ist die Spezifikation eines BNE-Kompetenzmodells auf Basis der kodierten Einheiten der Interviews. Die Kompetenzdimensionen und -bereiche (s. Abb. 1) wurden unverändert für das BNE-Kompetenzmodell übernommen, Änderungen des COACTIV-Modells wurden auf Ebene der Kompetenzfacetten vorgenommen. Mit diesem Vorgehen sollte die Vergleichbarkeit von BNE-Kompetenz und professioneller Handlungskompetenz für Fachunterricht gewährleistet werden. Dieses Vorgehen schien auf Basis von Ergebnissen der Vorstudie gerechtfertigt (List et al. 2022). Für die aus den Daten gebildeten Kategorien wurde untersucht, wie sie sich im bestehenden COACTIV-Modell in bestimmte Kompetenzdimensionen oder -bereiche einordnen lassen beziehungsweise bestehende Kompetenzfacetten spezifisch für BNE konkretisieren oder erweitern.

3 Ergebnisse

Im Folgenden werden die einzelnen Komponenten des BNE-Kompetenzmodells erläutert. In Abb. 2 ist das BNE-Kompetenzmodell mit den Änderungen gegenüber dem COACTIV-Modell schematisch dargestellt.

Abb. 2
figure 2

BNE-Kompetenzmodell basierend auf COACTIV (Baumert und Kunter 2006, 2011). Die im BNE-Kompetenzmodell ergänzten Facetten, die nicht im COACTIV-Modell enthalten sind, sind in der Abbildung grau unterlegt. Alle übrigen Kompetenzfacetten sind mit denen aus dem COACTIV-Modell für spezifische Unterrichtsfächer vergleichbar. aggü. COACTIV nicht verändert, vgl. Abb. 1

3.1 Professionswissen

Für das BNE-Kompetenzmodell sind die Bereiche FW und FDW relevant, da diese beiden fachspezifische Aspekte des Professionswissens erfassen. Wie im Abschn. 2.2 erläutert, wurde PPW in den Interviews nicht explizit angesprochen, weil wir annehmen, dass es sich nicht zwischen Fächern/Unterrichtsthemen unterscheidet (vgl. Baumert und Kunter 2011). PPW wird von den interviewten Personen genannt und unterstreicht die Relevanz von PPW für die BNE-Kompetenz. Sowohl für FW als auch für FDW ergeben sich mehrere unterschiedliche Facetten.

3.1.1 Fachwissen (FW)

Fachwissen zu BNE lässt sich in vier Facetten unterteilen: Die erste Facette ist Fachwissen aus dem Unterrichtsfach. In Abgrenzung dazu gibt es die Facette Fachwissen aus anderen Fächern, das (erlernbares/erlerntes) Fachwissen aus anderen Schulfächern umfasst. Beide Facetten umfassen Fachinhalte, die Teil der Wissensbestände der Unterrichtsfächer und für BNE besonders relevant sind, wobei die Inhalte des Fachwissens aus anderen Fächern einer Lehrkraft nicht unbedingt bekannt sind. Der nachfolgende Ausschnitt aus dem Interview mit Int11 verdeutlicht den Unterschied:

„Um allerdings so die Herausforderungen des Klimawandels deutlich zu machen, um darüber zu sprechen, wie kann man jetzt einen gesellschaftlichen Aushandlungsprozess zu Lösungen für den Klimaschutz irgendwie in Gang bringen? […] [Dafür] brauche ich eigentlich kein physikalisches Fachwissen. Ich würde immer noch behaupten, dass das ein Thema ist, was auch im Physikunterricht angesprochen werden muss. Aber ich brauche dazu eben weniger physikalisches Fachwissen, ich brauche aber auch Fachwissen aus anderen Bereichen.“ (Int11, Abschn. 10)

Die dritte Facette des Fachwissens ist das Wissen um komplexe Wirkzusammenhänge und Multikausalität, was wir im Modell mit Systemwissen bezeichnen. Damit ist das Verständnis für eine systemische Betrachtung von nachhaltigkeitsbezogenen Phänomenen der Realität gemeint (Rosenkränzer et al. 2016). Neben dem allgemeinen Bewusstsein für die systemische Betrachtung gehören dazu auch Kenntnisse über spezifische komplexe Wirkzusammenhänge:

„Das ist etwas und wir haben immer das Problem, das wir, das wir, weil wir die großen Fragen behandeln, immer Übersimplifizieren. So ein ganz typisches Beispiel ganz häufig steht da als Lösung ‚Verbot von Kinderarbeit‘. Und wir wissen aber heute aus der Forschung, dass das Verbot von Kinderarbeit ganz schlimme Folgen haben kann, weil die westlichen Unternehmen dann abziehen und die Kinder dann in Branchen abdriften mit Kinderprostitution, Bergbau, die viel schlimmer sind, aber wo dieses Gesetz nicht durchgesetzt wird.“ (Int13, Abschn. 6)

Die vierte Facette des Fachwissens ist Wissen über die Konzepte von Nachhaltigkeit und nachhaltiger Entwicklung. Diese Wissensfacette umfasst Wissen darüber, welche Ziele BNE hat und wie „Nachhaltigkeit“ und „nachhaltige Entwicklung“ definiert sind, und Wissen über die bildungspolitischen Vorgaben zu BNE im Unterricht:

„Also das sind, natürlich sind das die klassischen, sage ich jetzt mal, das klassische Wissen, zum Beispiel die Konzepte nachhaltiger Entwicklung. Also wirklich so und die dann natürlich, also sie müssen natürlich die Agenda 2030 mit all ihren Zielen und Konflikten kennen.“ (Int18, Abschn. 6)

3.1.2 Fachdidaktisches Wissen (FDW)

Für BNE ergeben sich zwei spezifische Facetten: Bei der fächerübergreifenden Unterrichtsgestaltung geht es um Wissen über die Gestaltung von Lernprozessen für fächerübergreifenden Unterricht und unter Einbezug außerschulischer Lernorte und Pädagog:innen, was sich als Unterrichtsform für BNE wegen des interdisziplinären Charakters gut eignet (Rieckmann 2018), wie in folgendem Ausschnitt beschrieben:

„Was ich noch besonders finde ist, dass ich finde, BNE kann nicht nur rein in der schulischen Umgebung adäquat unterrichtet werden, sondern man muss damit irgendwie raus. Man muss damit an außerschulische Lernorte. Man muss in die Alltagswelt, also entweder jetzt [zum] Beispiel Naturschutzbildung oder Schutz der Artenvielfalt.“ (Int11, Abschn. 4)

Fächerübergreifende Unterrichtsgestaltung für BNE beinhaltet deshalb auch Kenntnisse der BNE-Angebote der Schulregion.

Die zweite Facette ist BNE-Medienkompetenz. Diese umfasst einerseits die Fähigkeit, Informationen bzgl. Wahrheitsgehalt und Güte einordnen zu können (Pietraß 2016), und andererseits die fachdidaktischen Kenntnisse über die Eignung von BNE-spezifischen Materials mit Bezug zur Unterrichtsgestaltung. Oftmals werden BNE-Themen in den Schulbüchern nicht in der dem Thema angemessenen Komplexität behandelt (z. B. Lindau und Kuckuck 2022). Gleichzeitig befindet sich das Wissen zu Nachhaltigkeit und nachhaltiger Entwicklung in einem fortdauernden Änderungsprozess, der durch Erkenntnisse und aktuelle Geschehnisse ständig aktualisiert wird. Für die Lehrkraft bedeutet dies, dass sie ihre Wissensbestände immer wieder an den aktuellen Stand anpassen muss. Hilfreich sind dazu der Einbezug digitaler Medien und Wissensplattformen. Eine Lehrkraft wiederum muss dann über eine Kompetenz verfügen, um aus der Vielzahl von Materialien, Informationen und Quellen die für den Unterricht geeigneten auszuwählen, wie z. B. Int15 beschreibt:

„Wo finde ich vielleicht auch geeignete Materialien? […] Also die Halbwertszeit ist so kurz, dass man ständig irgendwie wieder sich neu orientieren kann und da braucht es eben, ähm, ja, eine gewisse Beherrschung auch der Recherche oder Planungsaktivitäten zu unterrichten.“ (Int15, Abschn. 23)

3.2 Professionsbezogene Werthaltungen und Überzeugungen

In COACTIV werden epistemologische Überzeugungen, subjektive Theorien zum Lehren und zum Lernen, Unterrichtsziele und berufsethische Überzeugungen als Bereiche der professionsbezogenen Werthaltungen genannt (Baumert und Kunter 2011). Die drei ersten werden auch in den Interviews thematisiert, anstelle allgemeiner berufsethischer Überzeugungen wird im BNE-Kompetenzmodell das Nachhaltigkeitsbewusstsein ergänzt.

3.2.1 Epistemologische Überzeugungen

Für BNE relevant sind epistemologische Überzeugungen zum Wissen über Nachhaltigkeit und nachhaltige Entwicklung. Diese spiegeln subjektive Vorstellungen zur Komplexität und (Un‑)Veränderbarkeit dieser Wissensbestände wider. In den Interviews werden dabei häufig die Überzeugung über die Veränderbarkeit von Wissen und die damit einhergehende Notwendigkeit zur Aktualisierung der eigenen Wissensbestände thematisiert.

3.2.2 Subjektive Theorien über das Lehren und Lernen

Aus den Interviewdaten ergeben sich drei BNE-spezifische Facetten: Die erste Facette ist das Verständnis der Lehrkraft als ko-lernende Person. Die Lehrkraft lernt mit den Schüler:innen gemeinsam und gestaltet – idealerweise – auch den Unterricht gemeinsam mit den Lernenden (s. schüler:innenzentrierter Unterricht). Int03 erläutert, wie eine Lehrkraft ihre Schüler:innen wahrnehmen sollte:

„Ich muss mir klar sein insbesondere über mein Menschenbild von Schülern. Sind die Schüler eigentlich eine Löwenhorde, die ich bändigen muss, [sind] Schüler irgendwie Leute, denen ich irgendwie Wissen eintrichtern muss. Oder sind Schüler Partner mit all ihren eigenen Vorstellungen, denen ich eben das Recht zubillige, mit an der Planung von Unterricht beteiligt zu sein?“ (Int03, Abschn. 76f.)

Die zweite Facette ist die Überzeugung, dass die Lehrkraft eine Vorbildfunktion hat: Die Inhalte, die eine Lehrkraft vermittelt, werden von den Schüler:innen in Bezug zu ihrem Verhalten und Werthaltungen gesetzt, wie es z. B. Int15 beschreibt:

„Also, um es auf den Punkt zu bringen, Lehrkräfte müssen sich immer bewusst sein, dass sie auch eine Vorbildfunktion haben, auch dann, wenn sie nicht immer daran denken oder auch die Schüler:innen das nie so sagen würden. Aber auf jeden Fall haben sie es so eine exponierte soziale Funktion vor der Klasse, vor den Schüler:innen, dass da auch Nachhaltigkeitsaspekte eine große Rolle spielen.“ (Int15, Abschn. 31)

Beim Unterrichten im Sinne einer BNE werden die Schüler:innen als eigenständige Akteur:innen ihres Bildungsprozesses wahrgenommen, die ihr Lernen (mit)steuern. Diese Facette haben wir im Modell als schüler:innenzentrierter Unterricht bezeichnet. Schüler:innenzentrierter Unterricht bedeutet, dass Ideen der Schüler:innen für Unterrichtsthemen oder -gestaltung aufgegriffen werden, um deren Interesse und Partizipation zu erhöhen, wie es z. B. Int08 beschreibt:

„Weil die zentralen Akteure sind die Lernenden. Ich habe ihnen den Raum zu eröffnen. Hier und dort Hinweise zu geben, ihnen bei der Strukturierung ihres Lernprozesses zu helfen. Aber ich bin nicht der Vorturner, der alles erzählt […].“ (Int08, Abschn. 120)

3.2.3 BNE-Lernziele

Mehrheitlich geht es bei den in den Interviews genannten BNE-Lernzielen um den Erwerb von Kompetenzen, die befähigen, gesellschaftliche Prozesse und Transformationen für eine nachhaltige Entwicklung mitzugestalten. Dazu gehören Kooperationsfähigkeit, Kreativität für neue Lösungswege für (noch unbekannte) zukünftige Probleme, Systemkompetenz, Bewertungskompetenz und Umgang mit Ambiguitäten. Der Unterricht muss ermöglichen, dass Schüler:innen ihr eigenes Handeln als wirkungsvoll erleben. Relevant sind auch Ausbildung eines Nachhaltigkeitsbewusstseins und Motivation für eigenes nachhaltigkeitsbezogenes Verhalten. Gleichzeitig wird in einigen Interviews thematisiert, dass BNE, gemäß dem Grundsatz des Beutelsbacher Konsens (Overwien 2016), nicht das Ziel haben darf, eine bestimmte Werthaltung bei den Schüler:innen zu forcieren. Vielmehr sollte Unterricht dazu befähigen, eine eigene Einstellung zu entwickeln. Int10 beschreibt die Aufgabe der Lehrkräfte dazu wie folgt:

„[…] meine Aufgabe als Lehrer ist es ja im Grunde genommen zu sagen: Pass mal auf. Wir haben folgende Situation der gibt es die Position A, B, C und D. Ich erwarte von dir, dass du diese vier Positionen kennst. Aber ich habe Respekt davor, wofür auch immer du dich entscheidest.“ (Int10, Abschn. 105)

3.2.4 Nachhaltigkeitsbewusstsein

In vielen Interviews wird auf die nachhaltigkeitsbezogenen Werthaltungen der Lehrkraft eingegangen. Für guten BNE-Unterricht brauche eine Lehrkraft die Überzeugung, dass Nachhaltigkeit ein Ziel des eigenen Handelns sein sollte (vgl. Vorbildfunktion). Ein solches Nachhaltigkeitsbewusstsein sollte im Verhalten der Lehrkraft (im Alltag, außerhalb des Unterrichts) sichtbar werden, andernfalls kann das die Glaubwürdigkeit verringern, wenn Schüler:innen nicht-nachhaltiges Verhalten ihrer Lehrkraft miterleben, wie von Int11 beschrieben:

„[…] in der Klimabildung nennen wir immer so das Beispiel, so wenn die Lehrkraft mit dem Auto zur Schule kommt, dann nehmen die Schüler*innen sie beim Thema Klimaschutz auch nicht so ernst oder beziehungsweise ist das was, was sicherlich eine große Rolle spielt.“ (Int11, Abschn. 8)

3.3 Motivationale Orientierungen

In den motivationalen Orientierungen spiegelt sich die Bereitschaft wider, den beruflichen Anforderungen zu begegnen (Kunter 2013). In den Interviews werden dazu SWÜ, Enthusiasmus für das Thema und für das Unterrichten thematisiert.

3.3.1 Selbstwirksamkeitsüberzeugungen

SWÜ der Lehrkräfte werden in den Interviews nur selten thematisiert. Genannt werden dabei zwei Facetten: Selbstwirksamkeit in Bezug auf das Unterrichten und Selbstwirksamkeit in Bezug auf die Wirksamkeit von nachhaltigkeitsbezogenen Verhalten. Erstgenannte entspricht der Facette des COACTIV-Modells und beinhaltet die Überzeugungen, guten BNE-Unterricht durchführen zu können. Die zweite Facette bezieht sich auf die Überzeugung, dass individuelles Umwelthandeln ein wirksames Instrument zur Lösung von umweltbezogenen Problemen ist:

„Was ich wichtig finde in diesem Kontext ist eigentlich, dass deutlich wird, dass ich auch Einfluss habe. Also diese Selbstwirksamkeit finde ich in dem Ganzen wichtig. Ich finde wichtig aufzuzeigen, wo es denn Handlungsmöglichkeiten gibt und dass ich da auch eingreifen kann, also dass ich nicht machtlos dem Ganzen gegenüberstehe.“ (Int14, Abschn. 40)

3.3.2 Enthusiasmus für das Thema

Enthusiasmus für das Thema und das Unterrichten wird in fast allen Interviews thematisiert. Da BNE sich nicht mit einem oder wenigen Schulfächern gleichsetzen lässt, bezieht sich der Enthusiasmus auf den Themenbereich Nachhaltigkeit anstatt auf ein Schulfach. Enthusiasmus für das Thema ist eng verbunden mit dem Nachhaltigkeitsbewusstsein, kann aber davon insofern abgegrenzt werden, als beim Enthusiasmus die affektive Komponente, eine Leidenschaft für die Thematik, im Vordergrund stehen anstatt einer kognitiven Bewertung der Notwendigkeit zum Handeln für eine nachhaltige Entwicklung. Von einigen Interviewten wird für Enthusiasmus der Begriff „für das Thema brennen“ genannt.

3.3.3 Enthusiasmus für das Unterrichten

Für Enthusiasmus für das Unterrichten ergeben sich drei Facetten. Die erste Facette ist Enthusiasmus für BNE und bezieht sich auf das Unterrichten von Nachhaltigkeitsthemen. Diese Facette ist vergleichbar mit dem Kompetenzbereich Enthusiasmus für das Unterrichten in COACTIV. Die zweite Facette ist die Offenheit für neue Unterrichtsgestaltung und umfasst die Motivation, neue Konzepte der Unterrichtsgestaltung einzusetzen, die dem interdisziplinären Charakter von BNE gerecht werden. Diese Facette beinhaltet auch, dass Lehrkräfte offen sind im Hinblick auf die Unterrichtsinhalte in anderen Fächern, um BNE-Unterricht – verteilt über die Schulfächer – gemeinsam mit Kolleg:innen zu entwickeln, wie es bspw. Int19 erläutert:

„Das kann ja nicht sein, dass dann die Schülerinnen und Schüler in Erdkunde und Biologie immer wieder hören, was ist ein CO2-Abdruck, das müsste dann im Idealfall ein Fach klären, und […] die anderen Fächer müssten wissen, das ist geklärt, das müssen wir nicht mehr machen.“ (Int19, Abschn. 8)

Die dritte Facette ist die Motivation, sich fehlendes Wissen anzueignen. Für guten BNE-Unterricht ist dazu auch die Bereitschaft wichtig, sich bei Bedarf fehlendes (Fach‑)Wissen und fehlende Kompetenzen (z. B. für bestimmte Unterrichtsmethoden) anzueignen, wie im folgenden Beispiel beschrieben:

„Was, glaube ich, dass das BNE insgesamt besonders macht, ist eben vor allem diese Interdisziplinarität. Und das stellt zum einen Anforderungen an Lehrkräfte auch möglicherweise fachfremdes Fachwissen zu haben und damit auch irgendwie eine Fähigkeit, sich dieses Wissen selbst anzueignen.“ (Int11, Abschn. 4)

3.4 Selbstregulationsfähigkeit

Hohe Resilienz und gleichzeitig hohes Engagement wirken sich günstig auf beruflichen Erfolg (Unterrichtsqualität, Schüler:innenmotivation) und berufliches Wohlbefinden (geringere emotionale Erschöpfung, höhere Berufszufriedenheit) aus (Klusmann 2013). Ihnen wird auch in den Interviews eine hohe Bedeutung für beruflichen Erfolg beigemessen. Aus unseren Daten ergeben sich für unser BNE-Kompetenzmodell für die Resilienz mehrere spezifische Facetten und eine das berufsbezogene Engagement.

3.4.1 Engagement

Vergleichbar zu COACTIV lässt sich Engagement auf Grundlage unserer Daten als allgemeines Engagement in berufsbezogenen Aufgaben definieren (Klusmann 2013). Engagement speziell für den BNE-Unterricht wird unter die Kompetenzdimensionen Werthaltungen (Nachhaltigkeitsbewusstsein) und motivationale Orientierungen (Offenheit für neue Unterrichtsgestaltung, Motivation, sich fehlendes Wissen anzueignen) subsumiert.

3.4.2 Resilienz

Für Resilienz lassen sich in den Interviewdaten vier Facetten unterscheiden. Die erste Facette Ambiguitätstoleranz bezeichnet die Fähigkeit, Diskrepanzen zwischen den eigenen Ansprüchen und dem (eigenen) nicht-nachhaltigem Verhalten aushalten zu können. Dies schließt auch angemessene Reaktionen auf die Konfrontation mit nicht-nachhaltigem Verhalten und Wertvorstellungen von Schüler:innen, Kolleg:innen oder anderen Personen im beruflichen Umfeld. Int19 sagt, dass Lehrkräfte solchen Situationen mit Toleranz begegnen sollten und erläutert weiter:

„Ich muss mir immer vor Augen führen, dass die Dilemmasituation ja eine gesamtgesellschaftliche ist, die auch mich selber betrifft, also ich bin ja nicht der grüne König im Unterricht, sondern an mir klebt ja auch Ruß, also warum soll das bei den Schülerinnen und Schülern nicht sein […].“ (Int19, Abschn. 20)

Die zweite Facette Emotionsregulation beinhaltet den angemessenen Umgang mit eigenen Sorgen, Befürchtungen und Ängsten in Bezug auf die nachhaltigkeitsbezogenen Herausforderungen, z. B. die Klimakrise:

„Also das heißt […] wir vegetieren alle, alle Menschen vegetieren so vor sich hin und dazu gehören auch Lehrer:innen und Lehrerbildner:innen. […] ich glaube, dass wir uns das wirklich zu wenig bewusst machen, was das eigentlich heißt für Bildung und für uns selbst und für unsere Rolle. Und da auch wieder Resilienz, mit der eigenen Verzweiflung umgehen.“ (Int18, Abschn. 64)

Die dritte Facette Frustrationstoleranz beschreibt die Fähigkeit, bei Misserfolgen oder ausbleibende (Lern‑)Erfolgen im Unterricht nicht zu resignieren, wie es z. B. Int05 beschreibt:

„Also gerade bei Themen wie BNE, die ja doch ethisch-moralisch stark über überbaut sind und gleichzeitig ja auch so dringend und drängend sind. Und dann aber an vielleicht alltäglichen Arbeitssituation oder uninteressierten Einstellungen, sagen wir mal zerschellen können. Da braucht man in dem Bereich wirklich wie eine hohe Frustrationstoleranz.“ (Int05, Abschn. 18)

Die vierte Facette Distanzierungsfähigkeit beschreibt die Fähigkeit, sich von beruflichen Belangen abgrenzen zu können, „Probleme aus der Schule nicht mit nach Hause“ zu nehmen (Int11, Abschn. 19).

4 Diskussion

Mit dem Ziel, das COACTIV-Modell für professionelle Handlungskompetenz von Lehrkräften für die BNE-Kompetenz von Lehrkräften im Sekundarbereich zu spezifizieren, wurden 20 Expert:innen zur Passung von COACTIV für die BNE-Kompetenz befragt. Die Analyse der Interviewdaten zeigt, dass die Struktur des COACTIV-Modells auf BNE-Kompetenz übertragen werden kann. Dabei ergeben sich BNE-spezifische neue Kompetenzfacetten und andere Schwerpunkte in der Bedeutung für den Unterricht, die mit aktuellen Erkenntnissen und Entwicklungen der BNE-spezifischen wie auch allgemeinen Lehrkraftforschung übereinstimmen.

Unsere Ergebnisse unterstreichen die Bedeutung des Professionswissens für guten BNE-Unterricht (z. B. Weber et al. 2022) wie es sich auch für den Fachunterricht wiederholt gezeigt hat (Bernholt et al. 2023). Guter BNE-Unterricht ist schüler:innenzentriert, partizipativ ausgerichtet und geht mit einem veränderten Verständnis der Lehrkraftrolle einher (vgl. Uitto et al. 2015). Unter BNE-Lernziele fassen wir Kompetenzen von Lernenden, die durch BNE-Unterricht gefördert werden sollen. Dazu gehören u. a. Kooperationsfähigkeit, Problemlösefähigkeit, Systemkompetenz und Motivation zum nachhaltigkeitsbewussten Handeln, die auch z. B. von de Haan (2002) genannt werden. Die aus der Literatur bekannten Nachhaltigkeitskompetenzen (vgl. Rieckmann 2018) gehen über die BNE-Lernziele in den Interviews hinaus: Kompetenzen, die sich auf Reflektion (eigener) Werte beziehen (z. B. „Kompetenz zum kritischen Denken“, Rieckmann 2018, S. 6), werden in unseren Daten selten genannt. Ein weiterer Aspekt der BNE-Lernziele ist das Vermeiden von Beeinflussung der Lernenden („Überwältigungsverbot“, vgl. Overwien 2016). Gleichzeitig sollten Lehrkräfte eine Vorbildfunktion haben und selbst über ein hohes Maß an Nachhaltigkeitsbewusstsein verfügen. Hier ist zu diskutieren, inwieweit Nachhaltigkeitsbewusstsein als erlernbare Kompetenz angesehen werden kann (Bertschy et al. 2013). Zudem könnte es bei sehr nachhaltigkeitsbewussten Lehrkräften zur (unbewussten) Beeinflussung kommen (vgl. Weber et al. 2022). Deshalb sollte die Unterrichtsgestaltung einen multiperspektivischen und kritischen Diskurs fördern und zulassen, dass Lernende unterschiedliche Meinungen vertreten (vgl. Overwien 2016). Dabei könnte auch eine Lehrkraft ihr eigenes nicht-nachhaltige Verhalten in der Klasse kritisch reflektieren.

Lehrkräfte sollten motiviert sein, sich fehlendes FW und FDW anzueignen. SWÜ scheinen für die BNE-Kompetenz nicht zentral zu sein, was mit Ergebnissen zur Lehrkraftkompetenz aus anderen Schulfächern übereinstimmt (Kunter et al. 2013), wobei Boeve-de Pauw et al. (2022) einen positiven Zusammenhang von SWÜ und BNE-Praktiken im Unterricht finden. Für BNE-Unterricht sind Selbstregulationsfähigkeiten erforderlich, sowohl fachunspezifische Aspekte wie Distanzierungsfähigkeit und Engagement, die zentral für guten Unterricht im allgemeinen sind (z. B. Klusmann 2013), als auch BNE-spezifische Aspekte wie Regulation von negativen Emotionen, die allgemein bei der Beschäftigung mit Nachhaltigkeitsthemen auftreten können, z. B. Klimaangst (Boluda-Verdú et al. 2022).

4.1 Limitationen und Forschungsperspektiven

Die Ergebnisse der Studie implizieren ein kohärentes Bild der BNE-Kompetenz, jedoch gibt es Limitationen. In den Interviews wurde nicht geklärt, was die Interviewten jeweils unter BNE und Nachhaltigkeit verstehen. Die Überzeugungen der Interviewten, welche Aspekte einer BNE-Kompetenz besonders relevant sind, können von der eigenen Definition von Nachhaltigkeit und BNE abhängen, und die Wahrnehmung, wie BNE in den Fachunterricht integriert werden kann, erheblich beeinflussen (Uitto und Saloranta 2017). Allerdings finden sich für alle Kompetenzkomponenten immer in mehreren Interviews Belege, weshalb wir davon ausgehen, dass das Modell trotz Unterschieden in den Definitionen von BNE und Nachhaltigkeit ein gutes Abbild der geteilten Ansicht darstellt, was BNE-Kompetenz beinhaltet. In dieser Arbeit wurden ausschließlich Personen in Deutschland befragt, die Generalisierbarkeit über das deutsche Schulsystem hinaus muss in weiteren Studien geprüft werden.

Wir haben in den Interviews COACTIV als Rahmen vorgegeben. Es gibt weitere Kompetenzmodelle, die zur Erklärung der Lehrkraftkompetenzen genutzt werden können und sich für bestimmte Anwendungsgebiete besser eignen als COACTIV: So existieren Modelle für die Lehrkraftkompetenz, die z. B. neben den Fähigkeiten (Professionswissen) auch unterrichtsbezogene Fertigkeiten (z. B. Unterrichtswahrnehmung) berücksichtigen, die zwischen dem Professionswissen und den Outcomes auf Schüler:innenseite (z. B. Leistung) vermitteln (vgl. Bernholt et al. 2023). Besonders für die Analyse zum Zusammenhang von BNE-Kompetenz und Schüler:innenoutcomes können solche Modelle hilfreich sein, weil sie weitere Lehrkraft- und Unterrichtscharakteristiken integrieren. Holistische BNE-Kompetenzmodelle (z. B. RSP, s. Abschn. 1.1) grenzen sich stärker von Kompetenzmodellen für den fachbezogenen Schulunterricht ab, weil sie auf BNE als Vehikel für eine nachhaltige Entwicklung blicken und die Rolle der Lehrkräfte in der Gesellschaft betrachten. Für systemische Betrachtungen von BNE als gesellschaftlicher Prozess sind solche Modelle besser geeignet als Kompetenzmodelle, die ausschließlich individuelle Lehrkraftkompetenzen betrachten.

Die Güte des in dieser Studie entwickelten BNE-Kompetenzmodells muss nun in nachfolgenden Studien empirisch untersucht werden. Zentral ist dann, die Nützlichkeit des Modells zu überprüfen, inwieweit die hier spezifizierte BNE-Kompetenz prädiktiv für Unterrichtsqualität, Lernfortschritt der Schüler:innen oder das berufliche Wohlbefinden der Lehrkräfte ist und sich durch Lerngelegenheiten verändern kann (vgl. Kunter et al. 2013).

4.2 Fazit

Lehrkräften kommt eine tragende Rolle für einen erfolgreichen BNE-Unterricht zu (Rieckmann und Barth 2022). Unsere Studie setzt deshalb bei den Lehrkräften an und untersucht, welche professionellen Handlungskompetenzen für guten BNE-Unterricht erforderlich sind. Bisher gibt es nur wenige Modellspezifikationen für BNE-Kompetenz, die eine standardisierte, empirische Überprüfung der Lehrkraftkompetenzen für den BNE-Unterricht ermöglichen (Rieckmann und Barth 2022). Ziel dieser Studie ist es, basierend auf den bisherigen Ergebnissen zur BNE-Kompetenz mittels qualitativer Analysen anhand von Interviewdaten detailliert die Anwendbarkeit des COACTIV-Modells zur Beschreibung einer BNE-Kompetenz zu explorieren.

Durch die Anknüpfung an das COACTIV-Modell entsteht ein an Fachdisziplinen anschlussfähiges BNE-Kompetenzmodell, das allgemein diskutiert werden und für unterschiedliche Anwendungen in Anspruch genommen werden kann: In der empirischen Lehrkraftforschung wie auch in der Lehrkräftebildung, z. B. bei der Zusammenarbeit unterschiedlicher Fachbereiche, bietet ein solches Modell eine (Diskussions‑)Grundlage mit empirisch überprüfbaren (Teil‑)Kompetenzen und aus der Lehrkraftforschung bekannten Konzepten.