1 These und Argumentationsgang

Die aktuelle Debatte über Bildungsforschung innerhalb und außerhalb der Erziehungswissenschaft kennt sehr unterschiedliche Facetten, schon die Literatur ist inzwischen Legion. Das Thema ist bereits handbuchförmig kodifiziert (Zedler und Döbert 2010), es wird diskursiv präpariert (Terhart 2012, 2016), als Identitätsproblem der Erziehungswissenschaft gesichtet (Keiner 2015), im Kontext der selbst sehr heterogen bestimmten „Bildungswissenschaften“ platziert (Schreiber und Cramer 2023) und auch im systematischen Plädoyer für „empirische Bildungsforschung“ (Gräsel 2011) programmatisch präsentiert. Es wird, zum schlechten Ende, auch manchmal nur im Jammer über institutionalisierte Absonderungen in eigenen wissenschaftlichen Gesellschaften behandelt. Hier und da wird zwar auch die eigene Geschichte thematisiert, dann im Wesentlichen aber nur apologetisch als Erbe positiver Traditionen stilisiert (z. B. Ditton 2011), ohne das eigene Theorieprogramm distanziert und systematisch zu historisieren. Die hier folgenden Analysen versuchen sich an diesem Desiderat, allein theoriegeschichtlich und auch hier nur exemplarisch, wie das schon aus Umfangsgründen nicht anders möglich ist, allerdings von Quellen aus, die bisher ignoriert wurden. Das geschieht primär in der Absicht, die Konstruktionen des theoretischen Programms von „Bildungsforschung“ oder „empirischer Bildungsforschung“ gegen die breit präsenten Opponenten, aber auch gegen die selbstbewusste, z. T. gegen Kritik sich immunisierende Darstellung ihrer aktuellen Protagonisten als historisch kontingente Konstruktionen aufzuzeigen.

Der systematische Referenzpunkt dieser Analyse ist die wissenschaftliche Praxis von Wolfgang Edelstein, dem Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, das meist als der zentrale Ursprungsort dieses Arbeitsrichtung gilt, seit der Gründung eng verbunden. Bildungsforschung hat sich dort im Kontext von Bildungspolitik früh und dominant in der „Ära Becker“ breit entfaltet (Behm 2023), bevor sie mit seinen Nachfolgern und vor allem in der Zeit nach PISA bundesweit zu der aktuellen Blüte und politischen und wissenschaftlichen Reputation gereift ist, die sie heute genießt. Blickt man auf diese Geschichte von Edelstein aus, dann zeigen sich zwar auch historisch und politisch neue Seiten, vor allem aber epistemisch durchaus andere als die aktuellen Perspektiven. Von Edelstein aus kann man zeigen, dass Bildungsforschung nicht allein methodisch, und dann empirisch, sowie politisch definiert war. Daneben wurde Bildungsforschung – Edelstein wird der Beleg sein – immer auch als Theorie der Bildung, nicht nur als Analyse des Bildungswesens reflektiert, ohne dass sich diese Theorie hätte durchsetzen können, weder in der Bildungsforschung selbst noch innerhalb der traditionellen wissenschaftlichen Pädagogik. Die These ist hier zwar nicht, dass Edelstein letztgültig geklärt hätte, was Bildungsforschung sei oder sein könnte; die Botschaft seiner wissenschaftlichen Praxis legt aber nahe, die Geschichte der Bildungsforschung seit 1961 in historisch epistemologischer Perspektive anders zu sehen. Dazu gehört jedenfalls, mit der historischen Rekonstruktion nicht erst bei PISA und der ihr folgenden Variante von Bildungsforschung zu beginnen (so, verengt, Aljets 2015), sondern die ganze Vorgeschichte nach 1945 und die im Prozess zwar präsenten, aber ausgeschlossen Alternativen ebenfalls zu berücksichtigen. Dann könnte man sehen, dass die aktuellen Kontroversen über „empirische Bildungsforschung“ an falschen Fronten geschlagen werden. Man müsste dann Fragen der Forschungsorganisation für interdisziplinär relevante Themen – zu denen Bildung zweifellos gehört – nicht mehr mit systematischer Theoriearbeit verwechseln, und man würde auch nicht – wie zu Beginn im MPI – Methodenfragen, die meist doch nicht mehr sind als Überlegungen zu Praktiken der Datengenerierung und -auswertung, mit Theorieproblemen verwechseln.

Edelstein eröffnet solche Perspektiven, weil sein Lebens-Thema die Einheit von empirischer Forschung, die historische eingeschlossen, und kritischer Bildungstheorie war. Konstant ging es ihm nämlich um nicht weniger als die Frage, ob und wie die Bildung des Subjekts angesichts der Widersprüche der Gesellschaft und der immer präsenten Formen der Entfremdung möglich ist. Das wiederum ist ein Thema, von dem aus sich jenseits der Personen, Organisationen und disziplinären Machtfragen systematische Fragen der aktuell so heftig diskutierten Bildungsforschung klären lassen. Das MPI ist für dieses Konzept von Forschung ein zentraler Kontext gewesen, schon weil der Begriff hier geprägt wird. Deshalb beginnen die folgenden Analysen (1.) mit dem MPI, aber Edelsteins Modell von Bildungsforschung versteht man in Zuwendung und Kritik nur, wenn man seine eigene wissenschaftliche Praxis neben der des MPI als weiteren, autonomen und für die Theorie und Praxis von Bildungsforschung und Erziehungswissenschaft systematisch bedeutsamen Reflexionsraum mitberücksichtigt (2.). Vor dem Hintergrund dieser zweifachen Referenz kann man auch die aktuellen Debatten über Bildungsforschung anders lesen (3.), distanzierter, weniger aufgeregt, aber für die Theorie und Praxis der Erforschung von Bildung und Bildungswesen vielleicht etwas produktiver.

2 „Bildungsforschung“ in Programm und Praxis des MPI – die metatheoretische Perspektive

2.1 Die Entstehung der „Bildungsforschung“ – das dominierende Narrativ

In der Außenbeobachtung, so die herrschende Lehre, hat die als „Bildungsforschung“ codierte wissenschaftliche Praxis ihren Ursprung in den Planungen des MPI und bei Hellmut Becker und seinen Mitstreitern. Stilisiert wie ein Mythos, wird ihre Erfindung einer durchwachten Nacht des Jahres 1961 zugeschrieben. Da habe Wolfgang Edelstein, der junge, reformerfahrene Studienleiter der Odenwaldschule, in einem Arbeitsrausch zusammen mit Alexander Kluge (Jürgen Habermas wird als dritter Autor genannt, war aber nur tagsüber noch dabei) den „Plan eines Instituts für Bildungsforschung“ entworfen und damit die folgenreiche Zäsur gesetzt. Hellmut Becker, schon damals nicht nur der Sohn des berühmten preußischen Kultusministers Carl Heinrich Becker, sondern schon prominenter Anwalt, Mentor von Erwachsenbildungs- und Landerziehungsheimbewegung – daher der Kontakt zu Edelstein –, habe – so geht dieses Narrativ weiter – diesen „Plan eines Instituts für Bildungsforschung“ (Becker 1961) dann, unter seinem Namen, den Instanzen der Max-Planck-Gesellschaft vorgelegt. Dank der Unterstützung durch sein protestantisch-akademisch-liberal fundiertes Netzwerk – die Forschung hält gerade das für entscheidend (Behm 2023; Herrmann 2014; Leschinsky 1996; Thomas 2017; Wiarda 2015) – war er schließlich 1963, trotz aller Bedenken gegen Person und Sache in der MPG, erfolgreich, zunächst mit einem Institut in der Max-Planck-Gesellschaft und, seit 1971, mit einem Institut der Max-Planck-Gesellschaft. Edelstein war zwar erst seit 1964, aus der Odenwaldschule ausgeschieden, Mitarbeiter des Instituts, gehörte aber nach den Gründungsdirektoren – Goldschmidt, Robinsohn, Edding – seit 1973 dem Leitungsgremium an. Seit 1981 war er Direktor des Forschungsbereichs „Entwicklung und Sozialisation“, bis er 1997 ausschied und an seinem Thema als Emeritus weiterarbeitete. Hier, in diesem Institut und für dieses Institut, so die Standardgeschichte, habe „Bildungsforschung“ – schon der Name war neu (allerdings haben ihn Historiker der Geschichte von Bildung bereits in den 1920er-Jahren benutzt) – ihre fortwirkende Gestalt gefunden.

Was ist das für ein Modell von Forschung, das sich innerhalb des Instituts nach längeren internen Debatten durchsetzte? Man muss dafür den Mythos aus der Distanz beobachten, historiographisch, und das ist gleichermaßen notwendig für den Erfindungsteil des Mythos und für die Rolle der beteiligten Akteure. Der „Plan“ von 1961 entwickelt unter dem Namen „Bildungsforschung“ das Programm einer diverse, aber bereits existente Disziplinen integrierenden und damit auch interdisziplinären Forschung zu einem disziplinübergreifenden Thema, dem „Bildungswesen“, nicht etwa der „Bildung“. Das Institut sollte „durch Verbindung der Methoden der Pädagogik und Psychologie, der Sozialforschung, der Ökonomie und der Jurisprudenz die wissenschaftlichen Voraussetzungen unseres Bildungswesens klären“ – und „hierzu“, das folgt unmittelbar, „muß das Institut Methoden [im Plural!] und Theorie [im Singular!] der Bildungsforschung entwickeln“, und zwar „im unmittelbaren [sic!] Zusammenhang mit einer Forschungsarbeit, die die wissenschaftlichen Grundlagen für eine künftige Bildungspolitik vermitteln soll.“ Das sei notwendig, weil Bildungspolitik und die Gestaltung des Bildungswesens in einer „verwissenschaftlichten Welt“ ohne wissenschaftliche Forschung nicht mehr praktizierbar seien (Becker 1961, S. 2) und weil „zur politischen Entscheidung heute … die Verbindung wissenschaftlicher Erkenntnis und politischer Überzeugung notwendig“ sei (Becker 1961, S. 7).

Für das Programm werden – liest man den Text von 1961 – zwar knapp Vorbilder im Ausland, aber weder Vorläufer in Deutschland noch dort existierende Einrichtungen noch eigene aktuelle Vorarbeiten substantiell gewürdigt. Dagegen werden sogleich Diagnosen über den Status der zu integrierenden Disziplinen gegeben, und es sind durchgängig Defizitdiagnosen, die hier vorgetragen werden. Allerdings, es sind seit langem bekannte Defizitdiagnosen, wie man schon für 1961 sagen kann (und der Bildungshistoriker freut sich natürlich, dass auch die – unbestreitbaren – Defizite der – ebenfalls für notwendig gehaltenen – „Bildungsgeschichte“ benannt werden, die allein als „kritische Geschichtsbetrachtung“ hilfreich sei).

Bleibt man nur in der Zeit seit 1945/50 und studiert man z. B. die Gründungsdokumente, die 1950 vom Hessischen Kultusminister Erwin Stein zusammen mit den amerikanischen Alliierten und den nach Deutschland zurückgekehrten Mitarbeitern des preußischen Zentralinstituts, z. B. Erich Hylla, für die Einrichtung der „Hochschule für Erziehungswissenschaft und internationale pädagogische Forschung“ vorgelegt wurden, dann finden sich bedeutsame Vorläufer. Die einschlägigen Dokumente (Frommelt und Rittberger 2010, bes. S. 33 ff.) und die Forschung (Behm und Reh 2016; Behm 2017; Mast 1996) belegen nicht allein die Tradition der „Tatsachenforschung“ der Weimarer Republik, sondern auch das aus dem HIPF erwachsene „Deutsche Institut für Internationale Pädagogische Forschung“ (DIIPF) und seine damaligen Mitarbeiter: Eugen Lemberg, der die Notwendigkeit der empirischen Soziologe weit vor Becker betont hatte, Heinrich Roth, der die empirische Psychologie forcierte, Hans Heckel für die Jurisprudenz, wenn auch nur als „Schulrechtskunde“, und Friedrich Edding für die „Bildungsökonomie“. Es ist exakt das Ensemble der Fächer des Becker-Plans und des MPI, das in Frankfurt schon vor 1961 lange existierte. Interdisziplinäre Forschung im Blick auf das Bildungswesen war also so wenig neu wie die Absicht der Politikberatung. Man sollte ja auch das seit 1952 existente UNESCO-Institut für Pädagogik in Hamburg nicht ignorieren, aus dem Becker Saul Robinson, Komparatist und Curriculumtheoretiker zugleich, als Gründungsdirektor nach Berlin holte.

Neu war für die Beteiligten allerdings der Begriff der „Bildungsforschung“, selbst für Becker und seine Mitstreiter, und neu war auch die Organisationsform und die Zuordnung zur Max-Planck-Gesellschaft. Das hatte selbst Hans Heckel, damals kurzzeitig außerhalb des DIPF, aber mit Becker befreundet, in einem erhebliche Irritationen, ja eine „Existenzkrise“ im DIPf auslösenden Gutachten zu Beckers Gründungsschrift als die bessere Option bezeichnet (Mast 1996, S. 59 ff.). Becker selbst hatte zwar das Programm von 1961 in großen Zügen schon auf dem Soziologentag von 1959 vorgestellt, allerdings als Aufgabe der „Sozialforschung“ (Becker 1959), erkennbar vom Frankfurter Institut „für Sozialforschung“ beeinflusst, an dem er ja kurzfristig auch gearbeitet hatte, das aber auch künftig eine wichtige Referenz blieb, wie Adorno in seinem Gutachten von 1961 selbst betont (Adorno 1961) und andere Zeitzeugen bestätigen (Edelstein 1994, S. 17).

Manche Interpreten (v. a. Raulff 2009) sehen in der Gründung, die sie häufig allein von Becker aus lesen, neben den theoretischen auch andere, gesellschaftliche Konstellationen und Netzwerke wirksam, z. B. die langen Nachwehen des George-Kreises. Aber das protestantisch-liberale Milieu um Hellmut Becker oder Hartmut von Hentig, Richard von Weizsäcker oder Hermann Heimpel und Georg Picht ist nicht insgesamt George-geprägt, wenn auch zweifellos sehr hilfreich gewesen. Theoretisch ist der George-Bezug auch nicht unmittelbar einleuchtend, denn selbst ein Vortrag, den Becker zum Thema „Stefan George und die Bildung“ 1983 gehalten hat, würdigt allein Georges Lyrik, auch nur fachdidaktisch, als denkbare Quelle für den Deutschunterricht (Becker 1983). Wissenschaftstheoretisch dagegen ist die Zuordnung sehr viel plausibler, denn man kann nicht Max Weber und sein asketisches, gegenüber aller „Mission“ der Wissenschaft höchst distanziertes Plädoyer für „Wissenschaft als Beruf“ als den Paten dieses Programms sehen, sondern vielleicht eher Erich von Kahler. Dem George-Kreis zugehörig hatte er seinen vielbeachteten, Weber-kritischen Essay „Beruf der Wissenschaft“ (Kahler 1920) publiziert, war nach Emigration und Ausbürgerung bis zu seinem Tode 1971 in Princeton tätig und hatte, anders als Weber, keine Angst, von einer „Mission“ der Wissenschaft zu reden, so wenig wie Hellmut Becker und seine Mitstreiter. Sie propagierten „Aufklärung“, Veränderung und Innovation als gleichgewichtige Aufgabe neben der Forschung und sahen Bildungsforschung nur dann als legitime Forschung, wenn sie sich nicht auf Webers harte Begrenzungen einließ. Becker und seine Mistreiter waren allenfalls in ihren Metaphern vorsichtiger. Sie argumentierten nicht religiös, sondern rechtlich und politisch, unterstellten allein ein „Schiedsrichteramt der Forschung“ und waren nur interessiert an einer „Sachorientierung, die verhindert, daß die an der Bildungspolitik Beteiligten blind arbeiten“ (Becker 1961) und plädierten für eine Forschung, die für die Diagnose der Situation sowie für Prognosen und Wirkungsanalysen kompetent ist, ohne ihre eigene Wertbindung zu verschweigen (Becker 1964). Diese Arbeit nannten sie „Aufklärung als Beruf“, wie der Titel von Beckers biografisch zentrierter Aufsatzsammlung lautete (Becker und Hager 1992), etwas paradox, hatte doch Kant nicht den akademischen Berufen, sondern den Subjekten selbst die Befreiung aus selbstverschuldeter Unmündigkeit – „Aufklärung“ also – aufgeladen.

Gleichwie, man versteht diese Programmatik insgesamt aber nur, wenn man auch die damit zu überwindende Vergangenheit sieht. Das war nicht etwa primär die NS-Zeit, obwohl es auch dazu personenbezogen Anlässe gegeben hätte, wie uns jüngst für Edding und Becker (Behm 2022; Behm und Rohstock 2020), für das MPI und für Bildungsplanung und -ökonomie, aber auch für das DIPF, Eugen Lemberg und Roth gezeigt wurde (Rohstock 2019), sondern die alte Pädagogik, die alte Bildungspolitik und die mit ihr verbundene Form von Beratung (Tenorth 2014). Der „Deutsche Ausschuss für das Erziehungs- und Bildungswesen“ (DA) hatte 1953 mit der Politikberatung begonnen, geisteswissenschaftlich im Denkstil und traditionell orientiert, genauso wie die Hochschulrektorenkonferenz, die für Gymnasiale Oberstufe und Hochschulzugang auf Wilhelm Flitner vertraute. Sie alle hatten mit ihrer Argumentform spätestens nach 1960 ihren Kredit verloren, zumindest bei den beobachtenden Sozialwissenschaften, wie – gleichsinnig – die Kritik bei Helmut Schelsky oder Hellmut Becker belegt. Das belegt aber auch, die These von „Wissenschaft als Voraussetzung der Bildungspolitik“ war jedenfalls schon explizit formuliert, bevor das Institut seine Arbeit aufnahm, auch in einem Vortrag, den Becker zum Thema „Sozialforschung und Bildungspolitik“ (Becker 1959) auf dem Soziologentag – „Soziologie und moderne Gesellschaft“ 1959 – gehalten hatte, und zwar in dem damals erstmals stark präsenten „Fachausschuß für Erziehung und Bildung“ (Behrmann 2006, 2013). Explizit unter dem Titel „Bildungsforschung und Bildungspolitik“ sprach er allerdings erst im „Plan“ 1961 und dann erneut 1964 (Becker 1964, 1968), wenn er auch die „Notwendigkeit integrierter Forschung“ und „interdisziplinärer“ Forschung propagierte.

Aber selbst wissenschaftsbasierte Expansion und Erneuerung des Bildungswesens begannen nicht erst in Berlin und mit Becker, sondern waren schon länger Thema in der Politik, auch nicht allein bei George-Freunden oder im protestantischen Milieu. Bildungsökonomie, die Becker so sehr forcierte und gegen den Ökonomismus-Vorwurf in der Bildungsdebatte verteidigte, hatte der im SPD-Kabinett Hoegner amtierende bayerische Kultusminister Rucker bereits 1957/58 ebenso gefordert wie die Bildungsplanung und vor allem einen „Wissenschaftsrat“ als Instrument dieser Planung. Diesen „Rat“ gab es dann auch bald, seit 1957 zwar etwas später als den anders konstruierten Deutschen Ausschuss, aber schon nicht mehr als Honoratiorenversammlung, sondern in der Verbindung von Wissenschaft, Politik und Administration, womit er 1965 auch Vorbild für den Bildungsrat wurde. Max Horkheimer z. B. hatte den Kontakt zu Rucker gesucht, um die Sozialforschung zu befördern (Herrmann 2014, S. 12). Schließlich, 1963, als das Institut in Berlin seine Arbeit aufnahm, war auch die viel kritisierte akademische Pädagogik schon nicht mehr nur philosophisch oder berufspraktisch orientiert: Heinrich Roths Antrittsvorlesung von 1962 anlässlich des Wechsels vom DIPF nach Göttingen, in der die „realistische Wendung in der pädagogischen Forschung“ so selbstdefensiv und mutig zugleich gefordert worden war, war schon ein Jahr alt, und sie formulierte auch eine politische Botschaft: „Es geht nicht um Enttheoretisierung, sondern Entideologisierung der Pädagogik, um die Stärkung ihres Sachverstandes zur Minderung ihrer Ideologie-Anfälligkeit.“ (Roth 1963, S. 117) 1963 endlich, auch das hat Symbolwert, starb Eduard Spranger, Relikt der Vorkriegspädagogik und Propagandist staatsaffiner Ideologie, den zu verachten Hellmut Becker schon bei seinem Vater gelernt hatte, und die Denkform Sprangers fand in der deutschen Pädagogik keinen gleichgesinnten Nachfolger, definierte eher einen weiteren Anlass, den Abschied von der geisteswissenschaftlichen Pädagogik zu markieren.

Bildungs- und wissenschaftspolitisch wurden die Planungen für einen Bildungsrat, die die Bildungsforschung und das MPI erst wirklich beflügelten, mit seiner Gründung 1965 vollendet, mit Becker als Mitglied, ja als spiritus rector. Jetzt schlug seine Stunde. Die Politikfunktion und -ambition des MPI und seiner Forschung fanden ihren sozialen Ort und politischen Raum, samt der starken Annahmen über die Rolle der Wissenschaft für die Konstruktion und Legitimation der für notwendig deklarierten Reformprozesse. Die hier dominierende dichte Entsprechung, ja die Annahme der Harmonie von Forschung und Handeln, gesellschaftlicher Entwicklung und politischer Reform, Wissenschaft und Praxis galt auch nicht nur bei Becker unbestritten. Erst 1975 wurde sie theoretisch z. B. in den Gutachten für den Bildungsrat ganz zaghaft hier und da problematisiert (z. B. bei Hornstein et al. 1975, S. 13). Schließlich machte der Bildungsrat zum Ende seiner Arbeit ja noch selbst einen Vorschlag für eine interdisziplinär-integrative „Bildungsforschung“, auch nicht nur außeruniversitär platziert, sondern sogar mit der Zuschreibung einer „Sonderrolle“ für die Erziehungswissenschaft, die sie weder im Umkreis von Becker oder im MPI noch danach aber je erreichen konnte (Deutscher Bildungsrat 1974; Roth und Friedrich 1975, S. 24 f.).

2.2 Die systematischen Defizite: „Bildungsforschung“, Forschung ohne integrierende Theorie

Die Bildungsforschung des MPI begann in diesem Kontext, auch theoretisch nicht singulär, denn auch das spezifische Programm einer „interdisziplinären“ und „integrierenden“ Forschung war allenfalls semantisch neu. In der Realisierung dagegen war die Institutspraxis eher konventionell: Projekte wurden entlang der disziplinären Grenzen vorgeschlagen, mit Themen von Schulleistung bis Begabung, sozialer Herkunft und Bildungskarrieren, Lehrplanfragen, Fachdidaktik und Eliterekrutierung (etc.). Das waren alles Themen, die seit den 1920er-Jahren in der Diskussion waren (abgesehen von der „Sozialgeschichte des Bildungswesens“). In der Abteilungsgliederung gab es neben den disziplinär definierten Abteilungen auch keine übergreifende Theorie- und/oder Methodengruppe, sondern Zusammenhang allenfalls über die Person Becker. Aber eine theoretische Integration fehlte, deren Fehlen z. B. im Gutachten von Adorno schon 1961 ebenso moniert worden war wie das Desiderat einer „inhaltlichen … Konzeption“ (Adorno 1961, S. 6). Adorno war da auch gar nicht anspruchsvoll, ihm reichte so „etwas wie ein theoretischer Entwurf, von dem die Anlage des Forschungsplans abhängig zu machen wäre“, also die disziplinübergreifende Definition der Themen wie die Organisation des hausinternen Lernprozesses aufgrund der eigenen Forschungen. Für all das gab es einzig die Koordination über das Direktorium und eine Leitungskonferenz.

Es war also kein Zufall, dass sich bald nach der Gründung des MPI – und dann für mehr als zehn Jahre – intensive Debatten an der Frage entzündeten, wie denn die Ambitionen, zumal die der Beratung, forschend einlösbar sein könnten, und zwar jenseits der ad-hoc-task-force, auf die sich Becker für die Arbeit im und mit dem Bildungsrat stützte. Aus den systematischen Fragen dagegen entwickelte sich ein institutsinterner Streit, der in seiner Fraktionierung und Separierung vor allem die sozialwissenschaftlichen Metatheoriedebatten der Zeit spiegelt. Hier wie dort dominierten Argumente, die als „methodologisch“ und „wissenschaftstheoretisch“ codiert wurden, aber primär wissenschaftspolitische Fraktionierungen dokumentierten: zwischen Tradition und Moderne, rechts und links, pragmatisch oder kritisch, empirisch oder geisteswissenschaftlich (etc.), auch mit den marxistischen Argument-Relikten der Zeit angereichert, und insgesamt dadurch verschärft, dass sich die spezifische Verbindung von Forschung und Politikberatung in den diversen Fraktionen zugleich noch innerhalb der Max-Planck-Gesellschaft und gegen deren Bild von Forschung behaupten musste (Behm 2023). Allerdings, die Vernetzung mit der Arbeit des Deutschen Bildungsrates hat, ebenso wie Beckers politische Rolle, die hausinternen metatheoretischen Kontroversen und die internen und externen Obligationen, auch die Distanz der forschenden Beobachter, überlagert, entlastet und zugleich forciert.

Die scharfen internen Debatten wurden dadurch aber nicht befriedet. Das erzwang zum einen das Ende der Ambitionen des Bildungsrates, das 1973 angesichts politischer Kontroversen unübersehbar wurde, und zum anderen der Generationenwechsel in der Leitung des MPI. Der begann 1973 mit der Berufung von Edelstein und Roeder, der 1977 auch seine eigenen „Überlegungen zur Schulforschung“ vorlegte und sich damit als ein Promotor von „Pädagogik als empirische Wissenschaft“ präsentierte (Roeder et al. 1977). Dieses Programm wie andere Texte gehören, kontextualisiert man die Debatten im Institut bundesweit, zugleich schon zum „melancholischen Diskurs ‚nach der Orgie‘“ (Terhart 2001, S. 17), dokumentieren also die Phase der radikalen bildungspolitischen Ernüchterung nach 1975. Sie wird im MPI mit dem als tiefe Zäsur wirksamen Amtsantritt von Paul Baltes 1980 vollendet. Jenseits der großen Propaganda regierte jetzt die Logik einer ambitionierten, in den bekannten human- und sozialwissenschaftlichen Methoden arbeitenden Institutsarbeit, ausgestattet mit den datengenerierenden und -verarbeitenden Praktiken disziplinärer – also soziologisch oder psychologisch konzipierter – Forschung. Jetzt wurden auch die großen Politikambitionen ausgekühlt, ja die Beobachterperspektive ging so weit, dass das Institut selbst die Analysen lieferte, in denen der illusionäre Charakter der alten Reformprogramme, auch der Gesamtschulhoffnungen, kühl aufgewiesen und die früher starke und eindeutige politische Gestaltungsambition aufgegeben wurde. Die Institutsmitarbeiter nahmen diesen radikalen Wechsel und das Ende der Programmdebatten auch deutlich wahr, auch personenbezogen, wie sich z. B. in den Urteilen über Roeder oder Baltes belegt findet (Wiarda 2015, S. 124 f.).

Peter Roeder, und dann auch Paul Baltes, Karl Ulrich Mayer und, als Roeder-Nachfolger, Jürgen Baumert entfalteten allerdings nicht Programm und Praxis einer Bildungsforschung, wie Adorno sie erwartet hatte: „Sie [diese Theorie und Forschung, HET] dürfte nicht sich beruhigen bei der Analyse dessen, was ist, sondern müsste, durch belegte und triftige Kritik des gegenwärtigen Zustands von Bildung in all seinen Aspekten, zugleich die Anweisung auf eine richtige Praxis enthalten.“ (Adorno 1961, S. 7) Adorno grenzt sein Modell, zuerst metatheoretisch, gegen „das … mittlerweile etwas fadenscheinige(n) Max Webersche(n) Ideal der Wertfreiheit“ ab, und statuiert dann, bildungstheoretisch: „Die Erkenntnis der Problematik und der Widersprüche des Bildungswesens, die kritische Theorie der Bildung, die aus einer Konfrontation mit ihrem eigenen Begriff folgt, kann im Klima eines bloß feststellenden Neutralismus nicht gedeihen.“ Aber auch die zu große Nähe zur Politik hält er für ein Problem: „Weil das Institut rücksichtslos die Frage nach Recht oder Unrecht an der Bildung aufwerfen und beantworten muss, kann es nicht von irgendwelchen Institutionen sich abhängig machen, die, aus welchem Grund und in welcher Richtung auch immer, auf bereits als gültig supponierte Bildungsideen oder -ziele vereidigt sind. Die Thematik des Instituts ist keine für Ressortforschung; nur die vollste organisatorische Autonomie gibt Hoffnung auf Erfolg“ (Adorno 1961, S. 7).

Die Autonomie hat die Max-Planck-Gesellschaft garantiert und nach ihren Regeln für Forschung kontrolliert, aber das, was Adorno schon 1961 als wesentliches Desiderat markierte, eine eigene Theorie, die blieb kontinuierlich Desiderat. Dabei war sie, paradox genug, gleichzeitig immer auch im Institut präsent, allerdings nicht als dominante Theorie allseitig anerkannt, obwohl es diese Theorie sogar an prominenter Stelle gab, bei Wolfgang Edelstein nämlich. Seine alternative Position sieht man aber nur, wenn man sie als Theorie umfassend rekonstruiert, auch zeitlich und mit der Dissertation einsetzt, nicht erst mit der Arbeit im MPI (wie Oser 1990), oder ihn nur biographisch deutet, dann vor allem vor dem Hintergrund von Vertreibung, Emigration und Exil. Die waren für seinen „Durkheimschen Blick auf Gesellschaft“ bedeutsam, wie Habermas zu Recht unterstellt. Bezieht man aber seine Dissertation mit ein, dann sieht man, dass er theoretisch vor allem dort „für die dialektische Seite jener anomischen Potentiale“ sensibilisiert wurde, und das mag zusammen mit den biographischen Erfahrungen für sein „Interesse“ für „jenes Spannungsfeld“ verantwortlich gewesen sein, „wo sich spontane Kräfte der Persönlichkeitsentwicklung an gesellschaftlichen Strukturen brechen, wo diese Dynamik im Sog sozialer Ungleichheiten schon an der Wurzel ausgezehrt wird.“ (Habermas 1997, bes. S. 42 f.). Aber Genesis und Geltung der Theorie sollte man auch hier trennen.

Edelstein hat eine eigenständige „kritische Theorie der Bildung“ vertreten, auch nicht erst 1973, sondern konstant, und es ist deshalb an der Zeit, seine Vorstellung von Gesellschaft und Bildung, Forschung und Theorie, Reform und Praxis in die Debatte über „Bildungsforschung“ einzuführen. Sein Konzept zeigt einen Typus von Forschung über Bildung, die nicht mehr nur metatheoretisch, multidisziplinär und organisatorisch, MPI- oder Becker-imprägniert gestaltet ist, sondern von Beginn an theoretisch eigenständig und integrierend war. Sie ruhte zugleich auf der Erfahrung einer ihr adäquaten Praxis auf, jenseits der Prämissen von Bildungsrat und Bildungspolitik, aber relevant für Interaktion, Organisation und Gesellschaft. Aber diese Theorie war im Institut eher ein Außenseiter als Ausdruck der Tatsache, dass etwa Edelstein das Selbstverständnis des Instituts repräsentierte, wie aktuell, fälschlich, suggeriert wird (z. B. Herrmann 2014, S. 17), Nicht allein die Forschungsarbeiten des Institut dokumentieren deren theoretisch je eigenen Zugang, auch die Zeitzeugen und Mitarbeiter nehmen, zeitgenössisch und bis heute, Edelsteins Außenseiterposition deutlich wahr, wie es publizistisch belegt ist (Hartung 1997; Naumann 1993, S. 302) und in Nachfragen aktuell bestätigt wurde.

3 Bildung und Entfremdung – Edelsteins theoretische Perspektive und ihre Entfaltung

3.1 „eruditio et sapientia“ – die Dynamik der Bildung im Widerspruch zur Gesellschaft: der Ursprung von Edelsteins Theorie

Wolfgang Edelstein hat sein interdisziplinäres Konzept von Bildungsforschung und seine kritische Theorie der Bildung – das also, was Adorno als Desiderat markierte – nicht erst im MPI ausgearbeitet, sondern bereits in seiner Dissertation von 1962 vorgestellt (Edelstein 1965). Es wird dort systematisch in einem Vorwort expliziert, das auf 1964 datiert ist und der Druckfassung von 1965 vorangeht, aber durchgehend in der Interpretation seiner – karolingischen! – Quellen im Detail entfaltet.Footnote 1 Diese Einleitung der Arbeit ist schon ungewöhnlich, denn eine philologische, im mittelateinischen Seminar der Heidelberger Universität vorgelegte Dissertation wird mit theoretischen Bemerkungen eröffnet, die sich wie ein bildungssoziologischer Text des späten 20. Jahrhunderts lesen und gleich zu Anfang schon andeuten, was der Text ausführt und material belegt: Zur angemessen Lektüre der Quellen sei es notwendig, ihr Thema in „den Bildungszusammenhang einer ‚traditionsgeleiteten Gesellschaft‘“ insgesamt zu stellen. Diese Struktur von Gesellschaft, traditionsgleitet und von David Riesman aus theoretisch gedeutet, beziehe sich in ihren eigenen Texten, hier in Alkuins Briefen, zwar auf den orbis christianus als regierende Lebensform, deren eigene norma rectitudinis und deren dominante Sinngebung, die fides orthodoxia. Sie sei aber auf Erziehung, eruditio, zu ihrer Realisierung angewiesen, d. h. auf die Bearbeitung der Roheit der Natur, aus des heraus erst der Mensch zum Menschen wird. Diese Ordnung der Gesellschaft in der Zeit, Erziehung als Kontrolle des Generationenverhältnisses, enthalte, das ist die zentrale These, zugleich einen latenten Widerspruch, die spannungsreiche Dynamik von individuellen Erwartungen und gesellschaftlichen Ordnungen und Möglichkeiten, die sich biographisch entwickeln. Sie könne man erkennen, wenn man „das psycho-soziale Kontinuum, in dem die Motivationen der Personen und der Charakter ihrer sozialen Beziehungen angelegt sind“ im Prozess betrachtet (42, Anm. 40), und diese in den Quellen identifizierten theoretischen Dimensionen, Motivationen und soziale Beziehungen, bleiben für Edelstein bis ins 21. Jahrhundert zentral.

Methodologisch gesehen zeige sich diese Dynamik allerdings erst, wenn der Forscher in der Interpretation seiner Texte „bis an die Schwelle eines soziologischen Strukturverständnisses“ geht, um den Eigensinn des Erziehungsfeldes innerhalb der dominanten Strukturen zu sehen. Dann, so Edelstein, wird die „Dialektik der Entfremdung“ aber schon in der karolingischen Gesellschaft und in deren Reflexion und Praxis von Bildung sichtbar, so, wie sie Alkuin mit seiner Idee von eruditio als „Bildung“, Bearbeitung und Kultivierung der rohen Natur des Menschen, zeigen kann. Dafür müssten auch vertraute Bahnen der Interpretation verlassen, Bildung also nicht erneut von den Ergebnissen oder Inhalten, den so bekannten artes, aus bestimmt werden, wie sie im „Lehrplan des Abendlandes“ (Dolch 1965) codifiziert wurden, sondern als Prozess der eruditio. In diesem Prozess konstruieren, bilden, sich die discipuli durch ihre eigenen Lernaktivitäten, primär im gemeinsamen kommunikativen Umgang mit Texten in einer material und formal zwar traditional bestimmten Lernwelt, aber gespeist aus den immanenten Praktiken und Zielen der sapientia, die ihre Selbständigkeit im Umgang mit Welt und damit eine eigene Kraft und „Dynamik“ entfalten (bes. Anm. 80, S. 110). Und nur am Rande: Für dieses Bildungsverständnis hätte Edelstein in der kritischen Theorie schon früh Bestätigung gefunden, denn Max Horkheimer hatte in seiner Immatrikulationsrede zum Winter-Semester 1952/1953 den Begriff der Bildung vergleichbar eingeführt: „Ungebildet nennen wir gewöhnlich einen Menschen, wenn er uns als ungeschliffen erscheint, wenn er Natur darstellt, die nicht gesellschaftlich gestaltet, nicht gesellschaftlich vermittelt ist.“ (Horkheimer 1952). Horkheimer erinnert dann an „das lateinische eruditio, der altüberlieferte Ausdruck gerade für die gelehrte Bildung, daß ein Mensch aus dem Zustand der Roheit herausgenommen sei“. Von hier aus diagnostiziert er – 1952! – eine „Krise der Bildung“ angesichts der Tatsache der „Ausmerzung der Natur, ihre Vernichtung zu bloßem Material“, mit der Konsequenz, dass „dem Begriff der Bildung … im wörtlichsten Sinne seine Substanz dadurch entzogen worden (wäre), daß es nichts Ungebildetes, keine unbeherrschte Natur im menschlichen Bereich überhaupt mehr gibt, die zu bilden wäre“. „Unbildung“ – Edelsteins Dual von Bildung und Unbildung auch hier – sei die Konsequenz in diesem „Prozeß der universalen Vergesellschaftung“ (wie es auch Adorno in der „Theorie der Halbbildung“ diagnostizieren wird).

Die bis heute in jeder kritischen Theorie wohl vertrauten Begriffe, von „Entfremdung“ bis „Verdinglichung“ (resümierend, S. 147), die Thesen über die „Dynamik“ von Bildung und die Ermöglichung von Emanzipation – hier von der „früheren theologalen Zuordnung“ (S. 206) – auch in einer traditionsgeleiteten Gesellschaft, die dank der „‚List‘ der Entwicklung“ den Strukturen immanent sei, sind also schon 1965 argumentativ präsent und in den Quellen identifizierbar. Natürlich gilt auch: Man sieht das alles nur, wenn man die Vergangenheit theoretisch sieht und analysiert, gesellschaftstheoretisch und soziologisch „Bildung“ im gesellschaftlichen Kontext und zugleich in ihrer Eigenlogik betrachtet. Man sieht das, zweitens, auch nur, wenn man strukturalistisch denkt, zwischen Oberfläche und Tiefenstruktur, langue und parole, in den Sinndimensionen unterscheidet. Saussure wird früh kritisch gegen die textfixierten – theorielosen – Mediävisten methodisch bemüht, wobei der Doktorand Edelstein seine Kritik an keinem geringeren als dem (bis heute renommierten) Josef Fleckenstein entfaltet, der 1952 mit einer Arbeit über die Bildungsreform Karls des Großen bei einem anderen großen Mediävisten, Gerd Tellenbach, promoviert worden war.

Diese Lesart seiner Dissertation, also so, wie Edelstein sie verstanden wissen wollte, von kritischer Theorie geleitet, aber in den Quellen fundiert, wird durch ein Gespräch bestätigt, dass Edelstein 2010 (anlässlich des 50jährigen Bestehens des MPI für Bildungsforschung) mit Alexander Kluge geführt hat.Footnote 2 Hier hat er nicht nur Bildung erneut unter Rückgriff auf „eruditio“ erläutert, sondern für die Entstehungsgeschichte der Dissertation an seinen frühen eigenen Plan erinnert und eingeräumt: „ich wollte eine quasi marxistische Dissertation schreiben“, nämlich, über „Schule als Ort der Entfremdung“. Nur weil der Soziologe Helmut Plessner, den er zuerst gefragt hatte, das zu riskant fand, und er Helmut Schelsky (wegen des Todes von Edelsteins Vater) nicht zeitnah fragen konnte, hat er sich seiner philologischen und linguistischen Studien erinnert und Alkuin und die karolingische Reform philologisch thematisiert, allerdings mit seinem eigenen „marxistischen Blick“. Marx wird 1965 z. B. nicht zitiert, aber doch Hegel und der „deutsche Idealismus“; auch Adorno kommt vor, allerdings mit den Bemerkungen zur Spannung von Tradition und Fortschritt aus der „Philosophie der neuen Musik“ (S. 161, und Anm. 55, S. 217 in Anm. 96 mit einem Verweis auf Adornos „Philosophie der neuen Musik“ von 1956), mit Argumenten, die Adorno auch in der Theorie der Halbbildung 1959 nutzt. Edelstein verfasst in seiner Dissertation (1965) auch keine der damals gängigen Analysen der Schule, sondern eine Studie zur Funktion von „eruditio“, aber diese wird – als funktionales Äquivalent von Schule – als bildende soziale Form in traditionalen Gesellschaften vorgestellt. Er zeigt schließlich die „Dynamik“ dieser Praxis als einen Prozess von Bildung, die sich (auch) gegen die herrschende Lehrpraxis durchsetzt und eine andere Welt antizipieren kann, weil „Bildung immer zugleich auch der Zukunftsentwurf einer Gesellschaft ist“ (S. 178). Edelstein sieht auch schon in der Dissertation und für die Karolinger-Zeit „eine eigentümliche Dialektik von ‚Innerlichkeit‘“, „oder“, wie er sagt „wenn eine spätere Kategorie hier statthaft ist: Subjektivität“ und objektiver Verdinglichung, wenn man nur „die bildungssoziologische Struktur jener Epoche … ihre Einheit, ihre Widersprüche und ihre Wandlungen“ betrachtet (S. 110, Anm. 80). Eruditio – Bildung – ist dann zwar „scientia propter se ipsam appetenda“ (S. 218), eigenlogisch also, so wie bei Seneca die Freundschaft definiert ist, als „amicitia propter se ipsam appetenda“, weil „eine Freundschaft um ihrer selbst willen angestrebt werden muss“, so wie „Bildung um ihrer selbst willen“ angestrebt wird, wie aktuell „humane Bildung“ immer noch interpretiert wird. Aber sie erzeugt gerade dieser Eigenlogik wegen einen systematisch mit ihr implizierten produktiven Widerspruch.

Edelstein prüft selbst kritisch seine Lesart der Eigenlogik von Bildung für das Mittelalter, der man solche Eigenart ja nicht primär zuschreibt. Aber abgesehen davon, dass er in der aktuellen Forschung Bestätigung findet, in der ja eine kritische Argumentation auch schon für mittelalterliche Philosophie gesehen wird (Perler 2006) oder der „gelehrte Eigensinn“ und die „Scholastik als die Kultur von Schulen“ jetzt auch „als utopische(r) Ort in der Ära der Kirchenreform“ verstanden wird (Rexroth 2018). Vor allem die Interpretation der eruditio als Bildung bleibt aber so fremd wie scheinbar überzogen, wenn er z. B. hegelianisch formuliert (s. a. S. 178) und Bildung als „die … Möglichkeiten der eruditio in ihrem Fürsichsein“ (Hegel Rechtsphilosophie, §§ 57, 270, 87) sieht, d. h. als „freie Subjektivität“. Aber er interpretiert das, ohne es „absolut zu werten“, will nur die historische Dynamik belegen, um Bildungsprozesse „in ihrer Potenz analytisch aufzudecken“. Methodisch wird dieses Argument im Stile der kritische Soziologie begründet: „Es kam nur darauf an, die geheime Intention, die ‚List‘ der Entwicklung, die Potentialität der Kategorien analytisch in den Griff zu bekommen, die das Verständnis der ‚Bildung‘ in einer gegebenen Epoche begründen und sie in ihren Konsequenzen zu verfolgen.“ (S. 178) Edelstein sichert sich so gegen den naheliegenden Einwand, „daß eine so antagonistische Charakterisierung überzeichnet ist“ (S. 178). Im Blick nach vorn sieht er historisch zugleich aber schon – dialektisch – die andere Seite dieser „Potentialität“. In der weiteren europäischen Tradition des Bildungsdenkens, „gehen paradoxerweise die ‚substantiellen‘ Kategorien in den ästhetischen Bereich über“, und „der innere Widerspruch dessen, was in der europäischen Tradition ‚Bildung‘ genannt wird“, zeigt sich in seiner komplexen, auch zu kritisierenden, Gestalt, denn „ein von Haus aus dialektisches Gebilde ist nunmehr nicht nur in dialektischem Widerspruch, sondern noch in kategorialer Ambivalenz verhaftet“ (S. 179).

3.2 Theorie der Bildung als Zentrum der „Bildungsforschung“ – „Edelstein 1973

Diese Position regierte nicht allein seine Unterrichtspraxis in der Odenwaldschule, die er noch in Begriffen, z. B. dem exemplarischen Lernen, interpretiert und vorstellt (Edelstein 88,89,a, b). Schaut man nach vorne und auf Edelsteins Theoriepraxis in seinen Forschungen in der Zeit im MPI, wird sie auch immer stärker für die Argumente leitend, mit denen er sich an der forschungsstrategischen Debatte im Institut beteiligt. 1966 bieten seine „Überlegungen zur Forschungsstrategie und Arbeitsorganisation des Instituts für Bildungsforschung“ (Edelstein 1966) für die Frage, wie gute Bildungspolitik möglich ist (neben der Antwort: ‚durch eine gute Bildungsforschung‘) zuerst nur eine Forschungsstrategie, die im Relevanzbegriff, dem Schibboleth der zeitgenössischen Debatte, erläutert wird. Er liefert also eher eine metatheoretische Strategie als eine inhaltliche Konzeption für das gesamte Institut. 1973 beteiligt er sich erneut, jetzt mit Überlegungen zur Curriculumforschung unter dem ambitiösen Titel „Struktur, Prozess, Diskurs. Vorüberlegungen zu einer strukturellen Curriculumtheorie“ (Edelstein 1973).Footnote 3

Dieser Text zeigt seine spezifische Theorie-Intention, und in der Zentrierung auf die Subjektseite und mit seinem sozialpsychologischen Begriff von Entfremdung – heute sehr aktuell (Jaeggi 2005) – statt auf politisch-ökonomische Strukturen auch seinen eigenen Ort in der zeitgenössischen Marx-Debatte. Die fing damals ja gerade an, das „subjektive Defizit“ der Marxschen Theorie abzuarbeiten (z. B. Ottomeyer 1974) und Mensch und Gesellschaft, aber auch Bildungsprozesse anders zu sehen. Edelstein bleibt zwar an Marx orientiert, wird aber nie zum Polit-Ökonomen oder gar zum parteidoktrinären Stalinisten. Man kann den Text von 1973 zugleich als Indiz für die Zäsur lesen, die sich in den 1970ern, zumal 1973 auch bildungspolitisch, in der dazu gehörigen Forschung abzeichnet. Edelstein setzt jetzt auf alternative Strategien der Politik und auf radikale Selbstkritik, während z. B. Hellmut Becker energisch und nachdrücklich weiter daran arbeitet, gegen alle empirische Evidenz an seinen Prämissen der Bildungsreform festzuhalten, wie schon sein Vorwort zur deutschen Ausgabe von Jencks „Inequality“, ebenfalls 1973, belegt (Becker 1973).

Edelstein argumentiert 1973 ganz anders. Nicht nur, dass er versucht, Robinsohn und das MPI curriculumtheoretisch zu überbieten, er will auch Metatheorie und Theorie, Methode und Handlungsorientierung neu und jetzt systematisch vereinen und zugleich die Erfahrungen mit der Bildungspolitik bis nach dem Ende der Reformillusionen verarbeiten. Theoretisch führt das bis zur Begründung in einem „metaszientifischen Programm von Wissenschaft“, auch wenn nur knapp und bereichsspezifisch gesagt wurde, was das integrativ und interdisziplinär zu bedeuten hätte (und dass sogar Stalin zitiert wird, macht ihn nicht zum StalinistenFootnote 4). Zuerst muss man für 1973 aber festhalten: Organisationsprobleme der Bildungsforschung interessieren ihn nicht mehr, ja der Begriff selbst kommt wie das „Bildungswesen“ seither nicht mehr vor. Jetzt dominieren andere und konkrete Forschungsthemen, die im Prozess von Unterricht und Schule aufgeworfen werden. Inhaltlich gesehen, so eine spätere Selbsterläuterung (Edelstein 1995a), war das, wie der Versuch in Island – wo er als Emigrant gelebt hatte und kontinuierlich politisch beratend und forschend aktiv war –, zuerst vor allem „ein Beispiel entwicklungsdidaktisch orientierter Curriculumkonstruktion“. Er selbst sagt, dass er „einerseits“ motiviert war durch die „kognitive Wende“ in der Psychologie, „andererseits durch … eine Reflexion auf Prozesse des Unterrichts und entsprechende Konstruktionen des Curriculums, die eine Abkehr von lerntheoretischen Traditionen markiert.“ Der Kontext für den Revisionsbedarf war der „Sputnik-Schock“, Indiz „für die Unfähigkeit der Schule, in den Köpfen hinreichend Interesse und Handlungsfähigkeit im Umgang mit Wissenschaft aufzubauen, die als Voraussetzung gesellschaftlich vermittelter Kompetenz galt.“ (Edelstein 1995a) Edelstein erweist sich hier deshalb auch zuerst als erfahrener Didaktiker, der sieht, dass „die funktionalen Ziele einer neuen Erziehung … zu dogmatisierten Inhalten einer neuen Dressur“ werden können, denn „der Verzicht auf die Kategorie der Vermittlung führt zu einer neuen Unmittelbarkeit der Inhalte“, so dass eine „Rückkehr ins Archaische“ drohe (Edelstein 1995a, S. 53). Diese didaktische, prozessbezogene Perspektive fehlte 1973 in den Arbeiten des MPI und sie fehlt konstant, bis zu den outcomefixierten schulbezogenen aktuellen Arbeiten der Bildungsforschung überhaupt.

Theoretisch leitend waren 1973 für Edelstein die alten Begriffe von „Struktur“ und von Bildung als „Prozeß“, wie schon 1965 (die Diss. wird zitiert!), jetzt erweitert um den „Diskurs“, der die Geltungsfragen und die Didaktik klärt. Auch die gesellschaftstheoretische Referenz kehrt wieder, jetzt im Bezug auf die verwissenschaftlichte Zivilisation. Von ihr aus wird die ihr entsprechende Curriculumtheorie entfaltet, die „Struktur der Disziplin“, Wissenschaft als gesellschaftliches Konstitutionsprinzip wird also gesucht und – wie Oser Edelsteins Programm so knapp wie zutreffend resümierte – „die ‚Konstitution von Wissenschaft in den Subjekten‘ gilt es zu sichern“ (Oser 1990). Curriculumfragen werden nicht mehr vom gesellschaftlich-ökonomischen Bedarf aus und systemisch konstruiert, wie vorher im MPI und sonst, sondern vom Lernenden und den für ihn notwendigen Kompetenzen aus. Edelstein musste dafür z. T. auch – erneut z. B. in Island und für die Sozialkunde – „die Struktur eines Gegenstands als Schulfach überhaupt erst aus … bilden“ und „die Funktion einer Wissenskonstruktion erst definieren, die in anderen Fächern zumindest der Tradition nach gegeben war.“ Diese theoretische Konstruktionsarbeit aber, so konstatiert er, „bot jedoch zugleich Gelegenheiten zu einer intensiveren Klärung der Implikationen von Struktur (des Wissens), Prozeß (der Wissenskonstruktion, des Unterrichts, der Vermittlung) und Diskurs (Edelstein 1973). Kriterial für die Diskurse über die Struktur ist der Prozeß, in dem die Struktur zur Geltung kommt, die Funktionalität der Struktur im Prozeß des Wissensaufbaus im Unterricht.“ (Edelstein 1995a, S. 4). In diesen Erläuterungen nutzt er auch die für ihn zentralen Referenzen von Piaget bis zu Bruner und Hilda Taba, aber auch Martin Wagenschein als pädagogischen Neo-Klassiker. In der parallel zu lesenden exemplarischen Studie von 1976, die ein sozialwissenschaftliches Curriculum für die deutsche Debatte präsentiert, werden die allgemeinen didaktischen Prämissen und die der Wissenschaftsdidaktik gebündelt, eingeschlossen die Habermasschen Überlegungen zu Wissenschaft als Ideologie, zusammen mit den Erfahrungen seiner eigenen OSO-Praxis und den Erwartungen an die Praxis des Unterrichts und an die zu sichernde Kompetenz der Lernenden.Footnote 5

3.3 Edelsteins Theorie der Bildung – der nicht rezipierte Außenseiter der Bildungsforschung nach 1970

Der Status dieses Papiers von 1973, „nicht zur Veröffentlichung bestimmt“, erklärt vielleicht, warum es in der deutschen und internationalen Debatte so gut wie nicht wahrgenommen wurde, so wenig wie Edelstein als Grundlagentheoretiker der Curriculumkonstruktion. Prüft man dafür nur die seinen Reflexionen nahen Standardwerke der Curriculumforschung (Frey et al. 1975; Hameyer et al. 1983) und die aktuelle Debatte über fachorientiertes Lehren und Lernen (u. a. Goodson et al. 1999; Heer und Heinen 2019), dann wird er allenfalls sehr randständig rezipiert. Auf die Orientierung an der „Struktur der Disziplin“ als Modell der Curriculumreform wird verwiesen, nicht selten sehr distanziert (Rumpf 1975), aber meist nur knapp in dem Hinweis auf Bruner oder auf „Man – A Course of Study“ als Exempel. Edelstein als innovativer Rezipient kommt nicht vor, die Diskussion der Fachlichkeit von Unterricht und die Referenz auf Wissenschaftsdidaktik und Wissenschaftspropädeutik bleibt sehr innerhalb der deutschen gymnasialen Tradition, mit ganz wenigen Ausnahmen beim sozialwissenschaftlichen Curriculum (Brügelmann 1975; Knab 1975), und ohne die Optionen in der Struktur der Disziplin hinreichend zu sehen, die Edelstein schon 1973 eröffnet hatte. In der Curriculumtheorie und forschung der 1970er-Jahre und bis heute kommt er mit anderen Texten vor, z. B. mit seinen Plädoyers für die Beteiligung von Lehrpersonen an der Lehrplanrevision (Edelstein 1971 zit. in Hesse und Manz 1972; Menck 1975), für die Legitimationsfunktion der Wissenschaft zwischen diskursiven oder ideologischen Praktiken (Edelstein 1974), in seiner Expertenrolle bei der Planung der Hessischen Rahmenrichtlinien von 1967, oder mit empirischen Studien von 1968. Fast häufiger werden die allgemeinen Arbeiten zur Lerntheorie gesehen, wie sie der Sammelband mit Dieter Hopf dokumentiert, oder die Beiträge zur Unterrichtsanalyse (Edelstein und Hopf 1973), später dann die moraltheoretischen Schriften, dann auch in der sich selbst als kritisch etikettierenden Pädagogik (z. B. Gruschka 1994), die sonst Edelstein nicht als ihren Vorläufer wahrnimmt. Solche Rezeptionsmuster lassen sich – außer durch die Vorliebe für die Referenz im eigenen Milieu für die Curriculumforschung – vielleicht noch stärker dem theoretischen Status dieses Reviers zurechnen. Schon 1983 war ja konstatiert worden war, dass „die erziehungswissenschaftlichen/didaktischen Wenden … in den letzten Jahrzehnten zahlreich geworden (sind)“, begleitet von dem Kommentar, das damit schon hinreichend das „Chaos neuerer Theorienbildung“ belegt werde (Reich 1983). Insgesamt sieht man damit aber auch, welchen Status „Bildungsforschung“ zu Anfang der 1970er-Jahre selbst im vermeintlichen Kernbereich der theoretischen und methodischen Innovation, der Curriculumforschung, hatte und welche, geringe, Qualität ihr in der Regel zugebilligt wurde.

Theoretisch signifikant ist für diesen Zeitpunkt, und nicht nur bei Edelstein, zugleich die eindeutige historische und gesellschaftstheoretische Kritik der reformorientierten Bildungspolitik. Seine Position ist aber erneut ungewöhnlich, sowohl für die Zeit als auch für das Institut. Er schließt sich nämlich in der Analyse der Politik – überraschend genug – zwar einerseits den Urteilen von Hans Maier an (Edelstein 1973, S. 28 f.), dem konservativen CSU-Kultusminister Bayerns, aber er lehnt jede Antipädagogik oder radikale Schulkritik ab und rekurriert gleichzeitig, explizit in einem knappen Hinweis, systematisch gesehen ausführlich und mit identischen Argumenten auf Heinz-Joachim Heydorn (S. 48 f.). Dieser Frankfurter Erziehungsphilosoph hat mit Arbeiten über „Bildung und Herrschaft“ eine eigene, bis heute kritisch diskutierte (Tenorth 1999) Schule kritischer Erziehungswissenschaft begründet (Heydorn 1973, 1979, 1980), die Edelstein ebenfalls, kritisch-selektiv, in seiner Analyse einbezieht. Heydorn hatte als Effekt der gesamtschulorientierten Bildungspolitik die drohende „Ungleichheit für alle“ konstatiert, weil die emanzipatorischen Lernmöglichkeiten, die traditionale, klassische, Bildung den Eliten eröffnet habe, jetzt niemandem mehr zuteilwerde. Die Praxis der Reform und die Arbeit der Schulen, auch der Gesamtschulen, belegten nachdrücklich, so Edelsteins analoge Kritik, dass die Reformer das Verständnis für Inhalt und Prozeß der Bildung zugunsten von Strukturfragen verloren hätten, und man versteht, warum Edelstein sich hier zustimmend bedient. Die klassische humanistische Bildung und die alten Sprachen seien nämlich, so Heydorn (und Edelstein zitiert zustimmend das Blankertz-Diktum über Heydorn als „der Konservative als Revolutionär“) nicht zu ersetzen. Erst aus der je individuellen Arbeit an und in Auseinandersetzung mit der „Struktur der Disziplin“, dann aber nicht etwa nur an den alten Sprachen, sei Bildung möglich, so generalisiert Edelstein die Lernerwartungen in einer verwissenschaftlichten Zivilisation, antitraditional und curriculumkritisch zugleich.

Die Gesamtschule dagegen und ihre schultheoretischen Apolegeten sähen nicht nur die Funktion des Curriculums und der notwendigen Lernformen didaktisch falsch, sondern auch nicht den aktuellen Widerspruch von „Lernwelt und Lebenswelt“ (Edelstein 2000), wie Edelstein seine Kritik systematisiert hat. Sein Dual soll die Perspektive eröffnen, dass die Lernwelt, also die Schule, so gestaltet wird, dass die Motivation der Lernenden dort nicht zerstört wird, sondern sie Erfahrungen machen können, „die in der Lernwelt der Schule die Bereitschaft fördern, Verantwortung zu übernehmen, und in der Lebenswelt der Schüler den Habitus der Schüler kultivieren“ (Edelstein 2008, Herv. dort). Man erkennt hier auch die Basisannahmen der Demokratiepädagogik, wie Edelstein sie entwickelt, nachdem er sich von den Illusionen der ersten Bildungsreform verabschiedet hat, aber auch die Orientierung der Nach-PISA-Reformpraxis nicht übernehmen will. Er bleibt zwar immer noch kritisch gegen die alltägliche Schule, aber auch optimistisch für die Schule als Welt eigener Art, die er auch für geeignet hält, strukturelle Defizite von Gesellschaft zu bearbeiten. Bildung, auch schulische Bildung, erweist, mit anderen Worten, auch in der Moderne ihre Kraft und Notwendigkeit.

3.4 Die gesellschaftstheoretischen Fundamente von Edelsteins Bildungstheorie: Bildung in einer anomischen Gesellschaft

Seine Gesellschaftstheorie und -diagnose bezieht sich jetzt aber nicht mehr auf traditionale Gesellschaften, sondern auf die gegenwärtige. Dabei denkt er zwar immer noch aus der Distanz zur Gesellschaft, aber nicht etwa politisch-ökonomisch fundiert, sondern moraltheoretisch, in Bildungsdimensionen. Jetzt nimmt Emile Durkheim bei ihm für moderne Gesellschaft die Stelle ein, die David Riesman für die traditionale hatte. Für die Diagnose der Moderne und angesichts ihrer strukturellen Defizite betont er Durkheims Diagnose ihrer „anomischen“ Struktur und sieht Moralerziehung, Bildung also, als ein Strukturmoment, Individuen, zumal die Jugendlichen (Edelstein 1995b), auch in und für diese Gesellschaften handlungsfähig zu machen, und zwar unter allgemein anerkannten Normen. Seine gesellschafstheoretisch reflektierte Bildungstheorie soll deshalb demonstrieren, dass „moralische Erziehung“ so notwendig wie möglich sei. Bildungstheoretisch bleibt seine Perspektive, in sich allerdings differenziert in der Funktion von Bildung für traditionale oder moderne Gesellschaften. In traditionalen Gesellschaften sieht er das Potential der Veränderung, das mit Bildung verbunden ist, und so hat er auch für Island argumentiert, wenn er von den immanenten Spannungen von Tradition und Moderne aus seine Beratung und seine Studien ansetzte (Björnsson und Edelstein 1977). Für moderne Gesellschaften werde mit Bildung dagegen das Potential sichtbar, dem vergessenen Allgemeinen – hier einer universalen Moral – dennoch zur Geltung zu verhelfen, weil es auch trotz Partikularisierung nicht verschwunden sei (Edelstein 1995b).

Aus diesen Diagnosen erwächst das Thema, das er u. a. mit Monika Keller, in der Forschungspraxis des Instituts und in seiner Abteilung umfassend untersucht hat, als „Sozialpsychologie“ theoretisch angemessen bezeichnet. Forschungen in diesem Revier zählen ja zu den klassischen interdisziplinären Arbeitsformen, angesiedelt an der Grenze von Psychologie und Soziologie. Edelstein arbeitet auch hier und konstant mit seinen alten Begriffen – Struktur, Prozess, Diskurs –, die transdisziplinären Status haben, nicht einer Disziplin allein zurechenbar sind, sich aber alle dem zu theoretisierenden Thema, der Bildung, eindeutig zuordnen lassen und dadurch ihre Bestimmtheit erhalten. Er arbeitet auch mit Methoden – Begriffskonstruktion, historisch-soziologische Analyse und Kritik, empirische Forschung –, die als Einlösung des Anspruchs des MPI gelten können, interdisziplinär und integriert zu forschen. Anders als Becker es in der Gründungsschrift sagte und die schultheoretisch inspirierte Gruppe um Roeder und Baumert praktizierte, gilt Edelsteins Arbeit, wie er explizit sagte, auch nicht dem „Bildungswesen“, sondern der „Bildung“ als dem umfassenden Thema und Problem, die es unter der Frage aufzuklären gilt, wie möglich ist, was gesellschaftlich und individuell erstrebt wird.

Seine Sozialpsychologie wird deshalb auch als eine kritische Gesellschaftstheorie ausgearbeitet, die der Geltung von Normen und Moralen, den Bedingungen der Konstitution von Intersubjektivität und sozialem Verstehen, also den Grundfragen der Möglichkeit kritischer Bildung nachgeht. Dabei argumentiert er im Übrigen immer alteuropäisch und laizistisch zugleich, frei von aller Kirchlichkeit der Religion, wie seine Argumente in der LER-Debatte belegen (Edelstein et al. 2011). Er stellt die Erklärung der Konstitution – oder des Verfehlens – von Individualität, die Analyse von Bildung im Prozess als „Soziogenese der Handlungsfähigkeit“ (wie die Reihe sich nennt, in der die einschlägigen Texte erscheinen und von Edelstein, Gil Noam und Fritz Oser herausgegeben werden), ins Zentrum seiner Überlegungen. Seit 1965 und bis heute erklärt er sein Thema auch aus dem „Strukturzusammenhang“ der Gesellschaft, also im Blick auf „das psycho-soziale Kontinuum, in dem die Motivationen der Personen und der Charakter ihrer sozialen Beziehungen angelegt sind“ (Edelstein 1965). In diesen sozialpsychologischen, eindeutig interdisziplinären Studien wird seit dem ausgehenden 20. Jahrhundert Bildung immer neu systematisch bearbeitet. Auch die Reformintention bleibt, denn diese Theorie liefert auch den Rahmen für die demokratietheoretische Bestimmung der Funktion und der Möglichkeiten von Schule (Edelstein 2001, 2005b; Edelstein und Fauser 2005; Edelstein et al. 2014). Edelstein bündelt diese Referenzen von Theorie und Praxis, Bildungsprozess und -reflexion, Schule und soziale Interaktion in einer kritischen Theorie der Bildung, in der Einheit von Analyse und Kritik, Praxisreflexion und Handeln in einer dichten Sequenz von Arbeiten (Edelstein 1989, 1993, 2005a; Edelstein und Hopf 1973; Edelstein und Keller 1982; Edelstein und Nunner-Winkler 1986). Letztlich liefert er damit ein Modell von Bildungsforschung, ohne noch den Namen zu gebrauchen. Gleichwie, die Differenz zu den Perspektiven, Methoden und Intentionen der nach-PISA dominierenden „empirischen“ Bildungsforschung sind evident.

3.5 Edelsteins Bildungstheorie in der Beobachtung durch die akademische Pädagogik

Ergänzen muss man allerdings, dass er mit dieser Strategie nicht nur Außenseiter im MPI war, sondern sich auch bei vielen Fachvertretern von Pädagogik und Erziehungswissenschaft nicht nur Freunde machte, aus verständlichen Gründen. Seine Position explizierend, mahnt er ja die Pädagogen zuerst: „Denn so weit ist klar, obwohl diese Wahrheit in Schule und Lehrerbildung nicht hoch im Kurs steht: nur brauchbare psychologische Theorien eröffnen die Chance (aber noch keineswegs die Gewissheit) einer sinnvollen Praxis im Unterricht. Lernen und Lehren sind zentrale psychologische Prozesse“ (Edelstein 2001, S. 13). Pädagogen, die in ihrer Edelstein-Kritik aber gelegentlich sehr punktuell orientiert sind, ohne die Entwicklung seiner Analysen einzubeziehen (z. B. Benner und Kemper 2007), akzeptieren schon die Dominanz der Psychologie nicht. Sie betrachten auch sein kritisches Bild von Schule ebenso reserviert wie sie die emphatische Fixierung auf Demokratiepädagogik als reformpädagogische Illusion beurteilen, schon weil Schule der Ort nicht sei, den Edelstein demokratiepädagogisch fingiert (Reichenbach 2017, bes. S. 17).

Andere sehen in den übersteigerten Erwartungen an die Praxis immer noch die Reformschulen als Referenz und die Odenwaldpraxis als Modell, das Edelstein auch gar nicht leugnet, wenn er seine Lernprozesse bei Walter Schäfer lobt und retrospektiv so eindeutig konstatiert „Die Odenwaldschule ist für mich identitätskonstitutiv gewesen“ (Edelstein 2010). Sein Reformkonzept dokumentiert das, denn unter ausdrücklicher Berufung auf Landerziehungsheime sagt er: „… um Jugendliche zu binden, muss Schule eine soziale, politische, kulturelle und moralische community werden, in der Selbstwirksamkeit und Initiative, Verantwortlichkeit und Solidarität, Leistung und Kooperation situationsgerecht nachgefragt und für außerschulische und nachschulische Verwendungs- und Verwertungskontexte vorgebildet werden können.“ Dazu gehörten auch „curriculare Autonomie und die individuell wirksame Differenzierung von schulischen Angeboten und Leistungsanforderungen“, die auch „mit systemisch geltenden Leistungsnormen und zentralen administrativen Regulativen durchaus kompatibel sind“ (Edelstein 2000, 2001, S. 281) Aber er kennt auch das wirkliche Desiderat jenseits der einzelnen Reformschulen: „Neu wäre die systemweite Durchsetzung der planvoll im Blick auf erzieherische Zwecke organisierten und selbstwirksam operierenden Schule mit weitem und autonomem Planungshorizont und curricularer Differenzierung, schulspezifischer Profilbildung, intensiv ausgestaltetem Gemeinschaftsleben und Bereitschaft zur Delegation von Verantwortung sowohl an die Kollegien als auch an Schüler und Eltern.“ (Edelstein 2000, 2001, S. 281) Dass er schließlich die Risiken solcher Lebensgemeinschaften gesehen hat, belegt seine frühe und scharfe Distanz gegenüber Gerold Becker.

Für die Pädagogik war es schließlich wohl auch nicht schmeichelhaft, dass er ihre Rolle in der Ausbildung der Lehrer überaus kritisch gesehen hat. Sie erzeuge doch nur eine Form von Professionalität, die Lehrer zwar im Fach zu Experten gemacht habe, aber nur Kunstlehre im pädagogischen Handwerk vermittele. Erwartbar schlägt er eine Reform der Lehrerbildung vor, die von der Psychologie ausgeht (Edelstein und Herrmann 1993), die aber rasch am etablierten universitären Ausbildungssystem scheitert. Selbst seine Versuche, die Handlungs- und Reformbereitschaft der Akteure zu stärken, sind psychologisch fundiert, gälte es doch, erneut psychologisch gedacht, starke Selbstwirksamkeitsüberzeugungen aufzubauen (Edelstein 2002). Aber diesem Modell von Bildungsforschung und Praxiskonstruktion folgen weder die aktuellen „empirischen“ Bildungsforscher noch die Mehrheit der Erziehungswissenschaft in ihren Debatten über „Bildungsforschung“. Edelstein liefert den substantiellen Kontrast zu deren Bildern von ihrer jeweils bevorzugten Gestalt der Disziplinen, die über Bildung und Erziehung forschen. Das führt dann auch zu der Lektion, die seine Praxis für die gegenwärtige Situation von Bildungsforschung und Erziehungswissenschaft bereithält.

4 Bildungsforschung, Pädagogik, Erziehungswissenschaft – historische Lektionen der Rekonstruktion

Der Begriff der Bildungsforschung, zumal als „empirische“, verweist aktuell zuerst auf ein höchst kontroverses Diskursfeld, und Edelstein spielt dafür explizit keine Rolle. Die hier vertretene These ist nun nicht, dass Edelstein letztgültig geklärt hätte, was Bildungsforschung ist oder sein könnte und man ihn einfach rezipieren müsste. Die Botschaft seiner wissenschaftlichen Praxis ist anderer Natur. Sie legt nahe, die kontroversen Debatten aus der Distanz zu betrachten, sie selbst zu historisieren und sich der Lektion zu erinnern, die in der Bildungsforschung spätestens seit 1961 und mit den Debatten im MPI bereitliegt und historisch für die Klärung von Bildungsforschung nicht erst bei PISA und der Karriere der ihr folgenden Variante von Bildungsforschung zu beginnen. Die lange Geschichte der Bildungsforschung belegt, dass die kontroversen Schlachten heute noch an falschen Fronten geschlagen werden, dass man Fragen der Forschungsorganisation für interdisziplinär relevante Themen – zu denen Bildung ja zweifellos gehört – nicht mit Theoriearbeit verwechseln soll, so wenig wie Methodenfragen, die meist doch nicht mehr sind als Überlegungen zu Praktiken der Datengenerierung und -auswertung, schon Theorieprobleme klären.

Man könnte also mit Adorno und bei Edelstein lernen, dass sich die Qualität und Spezifik der Bildungsforschung erst an systematischen Begriffen, Modellen und Theorien entscheidet, die für Bildung als ein disziplinübergreifendes Thema gesucht werden, das in differenten, aber relationierbaren wissenschaftlichen Praxen interdisziplinär-integrativ theoretisiert wird. „Bildungsforschung“, wie der Titelbegriff im deutschen Namen des MPI immer noch sagt, kann deshalb auch in großer, aber distinkter Varianz definiert werden, nicht allein in Bezug auf das „Bildungswesen“ als Focus, wie Becker 1961 noch definierte, sondern auch in Referenz auf „Bildung“, wie Edelstein es vorgemacht hat. Es gab schließlich auch, um Helmut Fend nicht zu vergessen, der z. B. in seiner umfassend und systematisch angelegten „Entwicklungspsychologie der Adoleszenz“ auch Schule eingebunden (Fend 1997) und Bildungsforschung im Blick auf Bildungswesen und Bildung zugleich praktiziert hat – das war und ist ein eigenes, anfänglich DFG-finanziertes Programm, das Fend auch selbst in die Geschichte der Bildungsforschung als Spezifikum (ohne einen Blick auf Edelstein) eingeordnet hat (Fend 2010). Nicht zu vergessen, auch outcomeorientierte Forschung gab es schon vor PISA und den dazugehörigen Arbeiten. Man denke nur an die Lernstandsanalysen, die v. a. Rainer Lehmann an der Universität in Hamburg, für die Beratung der Bildungspolitik und im Kontext der IEA (International Educational Achievement) entwickelt hatte (z. B. Lehmann et al. 1995). Diese Forschung, obwohl früh auch scharf gegen die „I(d) E(st) A(bsurdum)“-Mathematikstudien polemisiert wurde (Freudenthal 1975, S. 909), wurde u. a. auch für die TIMMS-Studien methodisch prägend (Baumert und Lehmann 1997).

Auch für Bildung ist allerdings nicht allein der Theorieraum von Psychologie und Soziologie oder gar der Erziehungswissenschaft relevant, auch nicht allein eine kognitive Psychologie, sondern, wie bei Edelstein, thematisch und theoretisch der gesamte Raum von Kognition und Entwicklung, von Lernen, Motivationen und Emotionen, auch von Leiblichkeit und Praxis, insgesamt also die Gesamtheit der Theorien von Zeitlichkeit, Sozialität und Materialität der Welt. Der aktuelle englische Titel des MPI, „Institute for Human Development“, ist schon offener, um die Humanontogenese als Thema zu bezeichnen, wie es auch das aktuelle Forschungsprogramm propagiert.Footnote 6 Derart thematisch zentriert, könnte man auch die Forschungsarbeit der Gesamtheit der thematisch einschlägigen human- und gesellschaftswissenschaftlichen Max-Planck-Institute zwischen Berlin und München, Köln und Leipzig relationieren. Schon in der Tradition, z. B. bei Pestalozzi, galt ja die These, dass der Mensch Produkt seiner „Natur, seines Geschlechts [wie er für Gesellschaft sagt] und seiner Selbst“ ist. Insofern werden schon klassisch Reduktionen ausgeschlossen, wie sie in der Konzentration auf das Bildungswesen ebenso vorliegen wie in der Pädagogisierung des Bildungsthemas. Aber die Frage ist, ob bei dieser Konzentration auf Forschung noch der Beratungsanspruch der Gründungsphase des MPI aufrechterhalten werden kann. Wahrscheinlich ist es eine kluge Form der Arbeitsteilung in der außeruniversitären Forschung zum Thema Bildung, theoria cum praxi als systematisch beanspruchten Zusammenhang von Forschung und Praxis-Beratung, Analyse und politischer Konstruktion den Instituten der Leibniz-Gemeinschaft zu überlassen. Dem „Anwenden muss das Erkennen vorausgehen“, der Primat der Theorie ist dagegen die Selbstwahrnehmung der MPG, auch in ihrer Historiographie (Hoffmann et al. 2014)

Die aktuelle pädagogische Debatte über Bildungsforschung, nicht selten noch reduziert auf vermeintlich eindeutige „empirische“ oder „Bildungswissenschaften“, sollte man dagegen den Akteuren überlassen, die sich zumal im Revier der akademischen Erziehungswissenschaft tummeln. Dort dominieren disziplinäre Identitätsprobleme und Abgrenzungsgefechte, manchmal auch nur gespeist aus dem Ärger über die institutionalisierte Absonderung der „empirischen Bildungsforschung“. Die wissenschaftliche Pädagogik sollte sich dagegen zuerst selbstkritisch erinnern, dass sie schon die Zuschreibung des Bildungsrates über die „besondere Rolle der Erziehungwissenschaft“ nie hat einlösen können, bevor sie andere mit Kritik und Forderungen konfrontiert. Realistisch ist es eher, die eigenen „unscharfen Grenzen“ produktiv zu sehen und aus der Kommunikation über disziplinäre Grenzen hinweg zu lernen, ohne die besonderen deutschen Problemen als systematischen Lösungsweg zu stilisieren (Gross et al. 2022). „Bildung“ als Norm und Ziel, man muss es in Erinnerung rufen, war selbst in der empirischen Bildungsforschung nicht vergessen (Tenorth 2016), aber als ausgearbeitetes Theorieprogramm steht der Begriff pädagogisch nicht zur Verfügung. Der Erziehungswissenschaft wie der empirischen Bildungsforschung ist daher zu empfehlen, Edelstein zu folgen, d. h. die Fülle der in der Forschung bewährten Konzepte zu nutzen, psychologische mit Entwicklung oder Lernen und Selbstwirksamkeit, aber auch soziologische Theorien oder die reflektierte Tradition der deutschen Pädagogik zu beachten. Denn man kann sich sogar auf „Erziehung“ einlassen, wenn man z. B. Bernfeld folgt, der Natur und Psyche, Gesellschaft und professionelle Praxis zugleich im Blick hat. Anders gesagt, von Statuskämpfen sollte man sich verabschieden, theoretisch relevant ist die Debatte über Theorie-Modelle der Forschung. Selbst hier zeichnet sich ja ab, dass das lange unbefragt dominierende Angebots-Nutzungs-Modell der nach-PISA-Tradition inzwischen selbst bei seinen Erfindern und Nutzern zum Problem geworden ist (Tenorth 2023b). Man könnte sich also – mit Edelstein und jenseits der Fraktionierung – endlich auch einmal auf den „Prozess“ konzentrieren.

Auch wenn man Edelstein folgen will, bleibt „kritische“ Bildungstheorie insofern noch ein eigenes Problem, als die normativen Implikationen seiner Position ähnlich diskussionsbedürftig sind wie die starken kapitalismuskritischen Annahmen in der Heydorn- und Adorno-Nachfolge oder sein Bekenntnis zu einem wie immer definierten Marx. Das ist ein weites Feld, das hier nicht mehr behandelt werden kann oder gar muss, auch weil Edelsteins Position in dieser Tradition eigenständig und nicht politisierend war. Aber es ermuntert den Beobachter, wenn aktuell in einer Erinnerung an Adornos MPI-Gutachten zwar empfohlen wird, dass ein stark normativer, „ein substantieller kritischer Begriff von Bildung“ unentbehrlich sei – politisch oder pädagogisch –, dass er aber auch „nur zu heuristischen Zwecken“ genutzt werden kann (Herrmann 2014, S. 19). Kritische Bildung als Hypothese für die Prüfung der eigenen Fragen, forschend also, ob und wie – und vielleicht auch warum nicht –, solche starken normativen Erwartungen eingelöst werden (können), und ob und wann sie rechtfertigungsfähig sind – das ist die theoretisch empfehlenswerte Option. Edelstein und seine Mitstreiter mussten ja z. B. schon mit der Erfahrung leben, dass von den Kohlbergschen Stufen der moralischen Kompetenz die höchste kaum generalisierbar war. Auch die Kritik am Ziel der „Höherbildung der Menschheit“ hat ihre guten Gründe, seit und mit Kant. Edelstein sah zwar in der konkreten Schularbeit einen Weg, mit so großen Erwartungen umzugehen, irgendwie läuft es seit der Aufklärungsepoche offenbar doch auf die Praxis der Pädagogik hinaus, wenn man Pädagogen fragt, wie bessere Gesellschaften möglich sind, und man gerät in eine unendliche Aufgabe, wie man seitdem weiß. Warum überlassen die Bildungsforscher, die Erziehungswissenschaft eingeschlossen, solche Transformationsprozesse deshalb nicht auch den Pädagogen und belasten damit nicht weiter die Forschung? Kooperation zwischen Praxis- und Forschungswissen ist doch auch eine wohl bewährte Option.