1 Einleitung

Das übergreifende Ziel eines qualitätsvollen Unterrichts ist, neben der Vermittlung von Wissen und Können, die Ermöglichung von Bildungsprozessen (vgl. bspw. Rothland 2018).Footnote 1 Ein bildungsorientierter Unterricht zielt darauf ab, im Hinblick auf häufig benannte Aspekte, sinnvolle und bedeutsame Verbindungen zwischen den objektiven Bezügen fachlicher Lerninhalte und der subjektiven Erfahrungsqualität der Lernenden herzustellen, sodass diese als Impulse und Ressourcen zur Bereicherung ihrer Selbst- und Weltdeutungen sowie zur Gestaltung eines gelingenden Lebensentwurfs dienen können (vgl. Klafki 1975; Rucker 2020; Stojanov 2014; Wagenschein 1999). Obwohl freilich keine Einigkeit darüber besteht, wie der Unterricht dies konkret leisten soll, und der Begriff der Bildung selbst nicht unumstritten ist, scheint dennoch Konsens darüber zu bestehen, dass Bildung über einfaches Lernen und Kompetenzerwerb hinausgehen sollte und als grundlegende Änderung der ganzen Person (vgl. Humboldt 2002, S. 235 f.; Dewey 1997) zu verstehen ist. Bildung lässt sich als eine Transformation auffassen, wie es in einflussreichen Neufassungen des Bildungsbegriffs heißt (Beljan 4,5,a, b; English 2014; Koller 2012; Marotzki 1990; Nohl 2006; Stojanov 2014), durch welche die Selbst- und Weltbezüge des Individuums tiefgehend umgedacht und umgestaltet werden. Bildungsorientierter Unterricht soll demnach nicht nur informativ gestaltet werden; er soll, der These nach, transformativ sein.

Gegenwärtig dominiert in der deutschsprachigen Erziehungswissenschaft dabei die Vorstellung transformativer Bildung als ein krisenhaftes Geschehen, welches durch irritierende sowie unter gewissen Bedingungen stark disruptive Ereignisse Neufassungen und Neustrukturierungen von Selbst- und Weltverhältnissen evoziert (vgl. Kokemohr 2007; Koller 2012; Marotzki 1990). Dieses transformatorische Bildungsverständnis hat inzwischen auch Eingang in (fach-)didaktische Überlegungen gefunden, die hervorheben, dass bildender Unterricht über die Aneignung von Gewissheiten hinausgehen und das Aushalten und Ingangsetzung von Irritationen befördern sollte (vgl. Bähr et al. 2019).

Die qualitativ-empirische Unterrichtsforschung untersucht indes daran anknüpfend die Ermöglichung bzw. die Verhinderung von Irritationen, Krisen, Fremdheits- oder Verstehenserfahrungen in unterrichtlichen Interaktionsprozessen (vgl. Reh 2015, S. 330). Negative Erfahrungen (vgl. Buck 1989) erscheinen damit auch als beobachtungsleitende Kategorie, mit der gesetzt wird, was im Unterricht als Phänomen von Bildung oder zumindest als „Bildungsvorhalt“ (Kokemohr 2014) in Erscheinung tritt. Wirft man einen Blick in den Forschungsstand (vgl. bspw. Lübke et al. 2019, S. 177 ff.) stellt sich insgesamt jedoch folgender Eindruck ein: Wenn über Bildung im Kontext von Unterricht gesprochen wird, so wird in aller Regel über Defizite geklagt. Bildende Erfahrungen scheinen eher selten zu sein und innerhalb des alltäglichen Unterrichts kaum aufzufinden. Zur Erklärung dieser empirischen Schieflage wird neben der Infragestellung einer grundsätzlichen methodischen Zugänglichkeit zu Bildungsprozessen im Unterricht (bspw. über Sprache) diskutiert, inwieweit es sinnvoll erscheint, von grundlegenden Veränderungen auszugehen und, ob empirische Rekonstruktion nicht eher niederschwelliger bei subtilen „Verschiebungen […] des etablierten Verhältnisses zur Welt“ ansetzen sollten (Lübke et al. 2019, S. 200).

Aus der Sicht dieses neueren Forschungsdiskurses erscheinen Bildungsprozesse im Unterricht als derart unwahrscheinliches Ereignis, das sich – wenn überhaupt – ausschließlich unter besonderen Bedingungen empirisch rekonstruieren und pädagogisch hervorrufen lässt. So gesehen wird der Anspruch, dass Unterricht transformativ wirken soll, entweder stark verkürzt oder sogar aufgegeben: „Bildung […] kann durch pädagogisches Handeln weder bewirkt noch veranlasst werden“ (Koller 2016, S. 233 f.), oder es werden didaktische Methoden der Irritierung und kritischer Hinterfragung vorgeschlagen, welche zwar die allerersten Züge eines Bildungsprozesses ausmachen mögen, aber eigentlich keine konstruktive Transformation zu erwirken beanspruchen.

Hier möchten wir mit unserem Beitrag ansetzen und uns zunächst problematisierend mit der Möglichkeit auseinandersetzen, dass bildsame, transformative Erfahrungen im Unterricht lediglich unter dem Vorzeichen von Krisen und disruptiven Irritationen initiiert werden können. Obwohl transformatorische Unterrichtskonzepte – d. h. unterrichtliche Ansätze, die von der Theorie transformatorischer Bildungsprozesse und anderen krisenorientierten Bildungstheorien (z. B. Mezirow 2000) ausgehen – über eine unleugbare Überzeugungskraft verfügen, bleibt eine kritische Prüfung weitestgehend aus, inwieweit diese Konzeptualisierung der Bildung als zentrale Heuristik für die (empirische) Beschreibungen sowie für die (didaktische) Initiierung schulischer Bildungsprozesse überzeugend ist. Leitend ist dabei einerseits die Frage, inwieweit das oben genannte Ausbleiben von Bildung nicht in der defizitären Praxis des Unterrichts liegt, sondern eventuell das Resultat der Tatsache sein könnte, dass an das Unterrichtsgeschehen ein (relatives enges) Bildungsverständnis (vgl. auch Tenorth 2016) herangetragen wird, das das Geschehen womöglich überhöht und der bildenden Qualität des Unterrichts nicht gerecht wird. Andererseits stellt sich die Frage, inwieweit es sinnvoll ist, insbesondere in ethischer Hinsicht, Bildung im Kontext schulischen Lernens als irritierendes und krisenhaftes Geschehen zu konzipieren.

Daran anknüpfend möchten wir einige alternative Ansätze vorstellen, die es erlauben sollen, die transformativen Momente im Unterricht jenseits von Krisen und Irritationen diskutieren zu können. Ziel des Beitrages ist es schließlich, die Grundzüge eines analytischen Vokabulars zu entwickeln, um im Rahmen einer bildungstheoretisch fundierten Unterrichtsforschung die bildungsweisenden, transformativen Wirkungen des Unterrichts empirisch in den Blick nehmen zu können. Dieses Vokabular soll als Heurisitik für die empirische Unterrichtsforschung dienen können, welche sich mit der Frage beschäftigt, wann und in welcher Weise ein Unterrichtsgeschehen zu gelingenden Transformationen der Selbst- und Weltbezüge beiträgt. Was als gelingende Transformation sowie überhaupt als bildungsrelevanter Selbst- und Weltbezug in diesem Kontext gilt, wird im Rahmen der verschiedenen, diesem Vokabular zugrundeliegenden und unten erläuterten Theorieangebote geklärt.

Die Argumentation des Beitrags entfaltet sich in vier Schritten: Im ersten Schritt werden die jüngsten Versuche, die pädagogischen und unterrichtlichen Implikationen eines transformatorischen Bildungsbegriffs auszuarbeiten, diskutiert und kritisch evaluiert. Auch wenn sich zeigt, dass die transformatorische Bildungstheorie ein kohärentes Theoriegerüst zur Beschreibung der transformativen Wirkung des Unterrichts leistet, wird argumentiert, dass dieses der Vielfalt bildsamer Erfahrungen nicht gerecht wird, welche eine Rolle in einem bildungsorientierten Unterricht spielen können. Im zweiten Schritt werden drei alternative Genren bildsamer Erfahrung diskutiert, welche in den letzten fünf Jahren einen zunehmenden Einfluss auf die internationale bildungstheoretische Debatte ausgeübt haben. Die Begriffe der Artikulation (Taylor), der Resonanz (Rosa) und der Aspiration (Callard) werden in diesem Zuge erläutert und anschließend auf ihre Vor- und Nachteile für eine transformationssensible Unterrichtsforschung geprüft. Es stellt sich heraus, dass diese Erfahrungsformen – trotz unterschiedlicher Schwerpunktsetzungen und philosophischer Grundlegungen – in ein gegenseitiges Ergänzungsverhältnis gebracht werden können, das einen besonderen empirischen Zugang zur Rekonstruktion der transformativen Momente des Unterrichts ermöglichen kann. Im dritten und letzten Schritt werden die Umrisse eines solchen Zugangs ausgearbeitet, um programmatische Hinweise für die Konzipierung und Durchführung von transformationssensibler Unterrichtsforschung ausmachen zu können, welche wir „Unterrichtliche Transformationsforschung“ nennen möchten.

2 Krisen, Irritation und Fremdheitserfahrungen im Unterricht

In unterschiedlichen didaktischen Ansätzen wird davon ausgegangen, dass die Auseinandersetzung mit fachlichen Gegenständen, sofern sie bildend sein soll, so gestaltet sein muss, dass diese – über die bloße Aneignung hinausgehend – irritierende Momente, Fremdheitserfahrungen oder Verstehen möglich machen sollten (vgl. Combe und Gebhard 2009; Gruschka 2011; Müller-Roselius 2013). Die verschiedenen Ansätze verbindet die Annahme, dass vor allem enttäuschende oder krisenhafte Momente Lernenden ermöglichen, über sich hinauszuwachsen, neue Erfahrungen mit sich selbst zu machen und zu einem tiefen Verstehen des Gegenstandes beitragen zu können. Solch diskontinuierliche Momente und ihr potenzieller Beitrag zur Emergenz neuer Perspektiven und Formen der Problembearbeitung wird in der Regel von einem bloß additiven und reproduzierenden Lernen abgegrenzt. Solch’ negativen Erfahrungen verstehen sich als Negation einer Erwartung bzw. einer Antizipation und damit als Bruch mit der Kontinuität von Erfahrung, die gleichwohl die Möglichkeit eröffnet, nicht nur etwas über den Gegenstand, sondern auch über sich selbst zu lernen. Denn solche Kontinuitätsbrüche ermöglichen – zumindest prinzipiell – das Bewusst-Werden des ihnen zugrunde liegenden Erwartungshorizonts sowie dessen Grenzen (vgl. dazu Buck 1989; Brinkmann 2018; Rödel 2019).

Derzeit wird dabei vor allem auf das Konzept transformatorischer Bildung im Anschluss an Koller (2012) rekurriert. Obwohl die Theorie nicht primär für pädagogische Problemstellungen, sondern mit dem Ziel entwickelt worden ist, Wandlungsprozesse in Biografien beschreiben und empirisch erfassen zu können (vgl. Giesinger 2020, S. 90), hat sie neuerdings auch Eingang in (allgemein-)didaktische Überlegungen gefunden. Bildung ermöglichender Unterricht versteht sich dabei als Inszenierung von Irritation, als „Durchbrechung institutioneller Routinen, im Verlangsamen schneller Deutungsprozesse, in der Konfrontation mit Ungelöstem, Unfertigem, Widersprüchlichem, Konfrontation mit radikal Neuem“, das im nachdenklichen Gespräch interpretierend bearbeitet werden soll (Bähr et al. 2019, S. 9).

Dabei wird nicht nur davon ausgegangen, dass das Paradigma transformatorischer Bildung und daran anknüpfend Irritation als „didaktisch-methodisch-domestizierte Krise“ (Herricks und Bonnet 2013, S. 46) durchaus geeignet erscheint, als ein Fenster für subjektiv bedeutsame Zugänge zu fachlichen Gegenständen zu fungieren, sondern darüber hinaus auch dem, was im Unterricht passiert, empirisch angemessen auf die Spur kommen zu können (vgl. Müller-Roselius und Herricks 2013). So liegen inzwischen eine Reihe von empirischen Studien (insb. aus der Schulpädagogik und einzelnen Fachdidaktiken, aber auch aus der allgemeinen Erziehungswissenschaft) vor, die bildende Erfahrungen und Momente der Krise, Irritation und Negativität in den Blick nehmen.Footnote 2 Dabei wird entweder retrospektiv z. B. durch Interviews oder Videographie und (nicht)teilnehmende Beobachtung erhoben bzw. beide Zugänge trianguliert und untersucht, inwieweit die schulische Wirklichkeit dem (bzw. diesem spezifischen) Ideal der Bildung gerecht werden kann (vgl. Lübke et al. 2019, S. 177 ff.).

Bei vielen dieser Studien zeichnet sich ab, dass sich in der beforschten Unterrichtspraxis keine Bildungsprozesse rekonstruieren und sich sogar im Gegenteil eher Momente der Verhinderung von Bildung auffinden lassen (vgl. bspw. Gruschka 2011, 2013; Lüsebrink und Wolters 2019; Müller-Roselius 2013; Rödel 2015; Schierz 2012). Ein tiefes, durch Krisen hervorgerufenes Verstehen der Sache und damit Spuren von Bildungsprozessen erscheinen eher als „unwahrscheinliches Ereignis“ (Gruschka 2017, S. 10), sie sind „Inseln in einem Meer von Routine“ (Combe und Gebhard 2012, S. 228). Müller-Roselius stellt in ihrer Studie fest, dass der (Literatur‑)Unterricht eher die Haltung der Kennerschaft und einen Umgang mit dem Unterrichtsstoff als ein business as usual begünstigt, wodurch ein echtes Sich-Einlassen auf neue und krisenhafte Umbrüche und Umstellungen im Denken scheitert. Es vollzieht sich eher eine Verfestigung bestehender Selbst‑, Fremd- und Weltverhältnisse. Die Identifikation mit dem Unterrichtsstoff „verhindert Bildung im Sinne transformatorischer Bildungsprozesse“ (Müller-Roselius 2013, S. 100).

Als Ursachen werden u. a. die Dominanz informationsentnehmender Arbeitsformen, frontale Unterrichtsordnungen, die Vereindeutigung oder Begrenzung von Perspektiven sowie die Begünstigung der Verfestigung von Selbst- und Weltverhältnissen benannt und insbesondere der Fokus auf Kompetenzen und Bildungsstandards. So formuliert Gruschka (2011) im Anschluss an seine empirischen Studien eine radikale Kritik an gängigen Praxen und Konzepten des alltäglichen Unterrichts, der den Zugang zu einem tieferen Verstehen verhindere, in dem er auf Methodentraining, rasches Durchnehmen von Fachinhalten und eng geführte Unterrichtssettings setze. Obwohl Schüler*innen eigentlich durchaus Ansätze zeigten, genauer verstehen zu wollen, worum es geht, werden sie nur mit Lerninhalten ‚gefüttert‘. Lehrende würden sich zwar am Anspruch des Verstehens orientieren, diesen jedoch gleichzeitig selbst unterlaufen, so Gruschka.Footnote 3 In der Diskussion zeichnet sich damit insgesamt eine Skepsis gegenüber den Möglichkeiten von Bildung im Regelunterricht ab.Footnote 4

Im Anschluss an diese Kritik an den Unterrichtspraxen und ihrer Tendenz zur Verhinderung von Bildung stellt sich die Frage, inwieweit solch eine defizitäre Perspektive auf Unterricht und das Handeln von Lehrkräften tatsächlich förderlich ist und ob nicht der Bildungsbegriff selbst, der an die unterrichtliche Praxis angesetzt wird, zunächst auf den Prüfstand gestellt werden müsste. So weist die Orientierung an Bildung als transformatorischer, d. h. durch Irritation und krisenhafte Ereignisse ausgelöster Prozess, durchaus einige blinde Flecken und Verengungen auf, die zwar im bildungstheoretischen Diskurs diskutiert, aber im Kontext der Unterrichtsforschung und in didaktischen Übersetzungen jedoch bislang kaum reflektiert werden. Das Konzept von Bildung als transformatorischer Prozess kann dabei aus zwei unterschiedlichen Perspektiven problematisiert werden:

Zunächst kann aus einer empirischen Perspektive gefragt werden, inwieweit transformatorische Bildung eine tragfähige Heuristik für die Erforschung des Unterrichts darstellt:

  • Ist es sinnvoll, den Fokus nur auf KrisenFootnote 5 zu setzen und Bildung so auf eine Teilklasse der denkbaren Formen des Umgangs mit der Welt einzugrenzen, indes andere bildende Erfahrungen nicht in den Blick kommen (vgl. Fuchs 2014; Krinninger und Müller 2012; Tenorth 2016)? So kann bezweifelt werden, ob krisenhafte Erfahrungen alleiniger Anlass für persönlichkeitsbildende Prozesse sind, vielmehr ist denkbar, dass sie nur einen möglichen Anlass von Bildung repräsentieren (vgl. Lipkina 2021). Geht man davon aus, dass der Prozess der Bildung nicht nur Veränderung, sondern auch den Aufbau und die Aufrechterhaltung von Selbst- und Weltverhältnissen impliziert (vgl. Marotzki 1999, S. 58), stellt sich die Frage, wie diese verschiedenen bildungsstiftenden Dynamiken (vgl. Rucker 2014) initiiert und empirisch beobachtet werden können.

  • Damit betrifft diese Verengung des Bildungsbegriffs auch die Schüler*innen, deren Identitätsentwicklung und nicht nur die Infragestellung von Identität außer Acht gelassen wird: Auf diese Weise gerät generell die pädagogische Unterstützung von Identität aus dem Blick. Dabei stellt sich die Frage, ob krisenhafte Identitätsumbrüche nur unter bestimmten Bedingungen (bspw. eine privilegierte Herkunft: Wischmann 2010) produktiv genutzt werden und bei der Vielzahl von Schüler*innen eher zu Blockaden führen können, die einen persönlichen Zugang zum Gegenstand erschweren.

  • Damit einher geht auch die Frage, ab welchem Alter sich solch komplexen Bildungsprozesse überhaupt vollziehen können. So vermutet Wiezorek (2016), dass transformatorische Bildungsprozesse wohl frühestens im jungen Erwachsenenalter zu erwarten seien, indes Konstitutionsprozesse von Welt- und Selbstverhältnissen in Kindheit und Jugend nicht als Bildungsprozesse beschrieben werden können. Dies führt dazu, dass der Entwurf von Selbst- und Weltverhältnissen eher als Sozialisation oder Entwicklung theoretisiert wird. „Denn theoretisch setzt das Konzept der Bildung als Transformation von Selbst- und Weltverhältnissen die Formation eines wie auch immer gearteten Selbst-Welt-Verhältnisses bereits voraus […]. Hier ist fraglich, inwiefern bzw. ab wann vorausgesetzt werden kann, dass Heranwachsende darüber verfügen.“ (Wiezorek 2016, S. 70).

Die zweite Perspektive betrifft die didaktisch-pädagogische Ausrichtung und normative Fundierung transformatorischer Bildung. Diese beziehen sich darauf, dass man sich für pädagogisches Handeln nicht mit der bloß formalen Forderung begnügen kann, dass Unterricht Anlässe für Transformationen bieten muss, sondern man nicht umhinkommt, auch zu fragen, welche Transformationen pädagogisch wünschenswert erscheinen.

  • So kann für die möglichen negativen psychologischen Effekte sensibilisiert werden, die mit Erfahrungen transformativer Diskontinuität einhergehen können. Die Infragestellung existenzieller Rahmungen kann mit Sinn- und Orientierungsverlust und schließlich ernsthaften Identitätskrisen einhergehen (Transformatorisches Trauma; vgl. Yacek 2019), die die Aufrechterhaltung der psychosozialen Gesundheit, die seelische Integrität und Handlungsfähigkeit des Selbst gefährden können (vgl. Straub 2019). Damit stellt sich aus einer ethischen Perspektive die Frage, inwieweit es wünschenswert und überhaupt rechtfertigbar ist, solche Prozesse pädagogisch zu initiieren. Die Bewältigung krisenhafter Erfahrungen erfordert schließlich bestimmte (psychosoziale) Ressourcen, wie bspw. vorangehende stabilisierende Erfahrungen – denn erst eine gesicherte Identität zeigt sich offen für Erfahrungen des Neuen (ebd.; vgl. Yacek 2021, 2020).

  • Außerdem wird der Aufbau der Identität insbesondere in einer zugespitzten Kontingenz der Spätmoderne zum Problem, sodass pädagogisch weniger die Initiierung als die angemessene Bearbeitung und der Umgang mit Krisen in den Blick rücken müssen. Dies wiederum impliziert bestimmte Ressourcen und Fähigkeiten, die es zunächst einmal überhaupt erlauben, krisenhafte Erfahrungen interpretieren und artikulieren zu können (vgl. auch Giesinger 2020, S. 92). Neben Fragen der Kontinuität, die gerade in Zeiten der Verunsicherung und Diskontinuität bedeutsam werden (vgl. Keddi 2011), wäre auch kritisch zu reflektieren, inwiefern in diesem Kontext die Veränderungsbereitschaft (siehe auch die Kritik am Lebenslangen Lernen) als Disposition erscheint (vgl. Lüdemann 2021).

  • Und schließlich geht mit dem Fokus auf die Initiierung von Krisen die Vernachlässigung inhaltlicher Aspekte einher. Die transformatorische Bildungstheorie spezifiziert nicht, anhand welcher Gegenstände und Inhalte Bildung vollzogen wird. Die Bedeutsamkeit und der Wert bestimmter kultureller Praktiken und Güter (jenseits ihrer irritierenden Wirkung) gerät dabei aus dem Blick (vgl. Klepacki 2013).

Obwohl mit dieser Problematisierung einige blinden Flecken und Verengungen des transformatorischen Unterrichtskonzepts genannt worden sind, soll keineswegs daraus geschlussfolgert werden, dass das Konzept und das Erleben von Transformation keine Rolle in einem bildungsorientierten Unterrichtsverständnis spielen sollen. Transformative Lehr- und Lernvorgänge, wenn sie denn gelingen, haben eine einzigartige Bedeutung für die Entwicklung der je eigenen Selbst- und Weltdeutung und damit auch die Selbstverwirklichung der Betroffenen. Sie öffnen den Erfahrungshorizont der Lernenden und lassen Unterrichtsinhalte nicht nur als ‚Futter für den Intellekt‘ erscheinen, sondern als Inspirationsquellen für die Erweiterung und Bereicherung von Lebensentwürfen (vgl. Pugh 2011). In diesem Sinne ist der Versuch, nach den Implikationen eines transformativen Bildungskonzepts für die Unterrichtsforschung und -praxis zu fragen, gerechtfertigt. Problematisch ist hingegen die einseitige vorherrschende Auffassung von bildenden Transformationen und die fehlende Reflexion darüber, dass weitere Formen transformativer Erfahrung sowohl möglich als auch wünschenswert sind, welche nicht immer das Zeichen von Irritation und Krise tragen. Im nächsten Abschnitt sondieren wir, wie weitere Genre transformativer Erfahrungen, die für ein überzeugendes Unterrichtskonzept und schließlich für eine bildungstheoretisch visierte Unterrichtsforschung fruchtbar gemacht werden können.

3 Alternative Zugänge zu bildenden Erfahrungen im Unterricht

Im Folgenden werden drei Genres bildsamer transformativer Erfahrung vorgestellt und kritisch auf den Prüfstand gestellt, welche im letzten Jahrzehnt zwar an Aufmerksamkeit gewonnen haben, jedoch bisher keinen sicheren Eingang in die deutschsprachige Erziehungswissenschaft erzielen konnten: die Erfahrung der Artikulation, der Resonanz und der Aspiration. In jedem Fall geht es um einen bildsamen Erfahrungsprozess, welcher nicht nur einen vornehmlich konstruktiven Transformationsvorgang beschreibt, sondern auch phänomenologische Möglichkeiten zur Ingangsetzung von (transformativen) Bildungsprozessen jenseits von Krise und Irritation offenlegt.

3.1 Artikulation als transformative Erfahrung

Im Anschluss an Charles Taylor (1992, 1994, 2017) kann die transformatorische Kraft der Artikulation in den Blick genommen werden, die für einen Prozess der „Entäußerung starker Wertungen“ steht. Starke Wertungen verstehen sich als identitätsstiftender Rahmen, „innerhalb dessen ich von Fall zu Fall zu bestimmen versuchen kann, was gut oder wertvoll ist“ (Taylor 1994, S. 55). Sie sind primär und implizit in Form von moralischen Gefühlen wie Scham, Ehrfurcht oder Stolz zugänglich, die sich als emotionaler Ausdruck der Anerkennung bestimmter Werte verstehen lassen, ohne dass ein Bewusstsein über die Existenz dieser Maßstäbe vorhanden sein muss. Die Grundlage für starke Wertungen bildet die soziale Praxis, die Güter bereitstellt und damit den inhaltlichen Gehalt des jeweiligen Selbst- und Weltverhältnisses des Subjektes bestimmt. Die Formung der Identität vor dem Hintergrund eines überindividuellen Rahmens vollzieht sich jedoch nicht als blinde Übernahme und Reproduktion, sondern bietet die Möglichkeit einer Re-konfiguration von sozialen Ordnungen. Starke Wertungen stellen eine Positionierung zu bestimmten kulturellen Gütern dar, wobei dadurch auch die Einführung neuer, konstitutiver Formulierungen (vgl. Taylor 2017, S. 363) möglich wird.

Damit starke Wertungen handlungsleitend und letztlich zum Gegenstand transformativer Erfahrungen werden können, bedürfen sie einer (Selbst‑)Vergewisserung, die sich nach Taylor als Prozess der Entäußerung vollzieht: „Ein Großteil unserer […] Wertungen […] ist nicht einfach gegeben. Wir formulieren sie in Worten oder Bildern. Tatsächlich müssen unsere Bestrebungen aufgrund der Tatsache, dass wir sprachbegabte Tiere sind, auf die eine oder andere Weise artikuliert werden“ (Taylor 2017, S. 38 f.). Menschen sind damit nicht nur stark wertende Wesen, sondern verspüren auch das Bedürfnis nach „expliziten und reflexiven Selbstdeutungen“, indem sie fragen, „was eine Situation wirklich für sie bedeutet, was sie wirklich wollen, was wirklich gut oder wichtig ist etc.“ (Rosa 1998, S. 86; Hervorh. im Original). Es geht dabei um das „unstrukturierte Gefühl, etwas Wichtiges zutage fördern zu müssen“ (Taylor 2017, S. 355). Denn ohne Artikulation ist es nicht möglich, die Bedeutung, die hinter einem Gefühl steckt, in voller Form zu erfassen. Ziel der Artikulation ist dabei die Herstellung eines (vorübergehenden) Gleichgewichts zwischen den handlungsleitenden Werten und ihrer reflektierten Vergegenwärtigung, bei der das Selbst versucht, sich in Übereinstimmung mit sich selbst adäquat zu artikulieren.

In diesen Versuchen der Artikulation steckt ein transformatives Moment. Denn auch wenn die Rede von der Verwirklichung eines Selbst ist, meint dies keinesfalls nur das Gerechtwerden einer wesensmäßigen Bestimmung. So geschieht eine Artikulation durch Rückgriff auf intersubjektive Medien, bei denen insbesondere die Sprache als reflexives und metareflexives Medium eine herausragende Rolle spielt. Auch wenn Taylor dabei der Sprache eine besondere Bedeutung zuweist, geht er vor einem weiten Verständnis von Artikulation und einer potenziellen Vielfalt expressiver Möglichkeiten (wie Bilder, Gesten, Bewegungen u. a.) aus, mit denen jeweilig andere und eigenlogische Optionen des Selbstausdrucks möglich sind (zur Multimodalität von Artikulationen vgl. auch: Jung 2005).

Dabei bezieht sich die Transformation auf die Übersetzung vom Impliziten ins Explizite und stellt einen Bildungsprozess dar, in dem ein Selbst- und Weltverhältnis eine neue Qualität erfährt. Artikulationen sind in diesem Sinne nicht nur abbildend, repräsentativ, sondern zugleich auch erschließend und schöpferisch. Erst durch Rückgriff auf ein Medium kann etwas formuliert werden, das anfangs unvollständig oder konfus ist. Diese Art der Formulierung oder Reformulierung jedoch läßt ihren Gegenstand nicht unverändert. Etwas eine bestimmte Artikulation zu verleihen bedeutet, unser Verständnis von dem zu formen, was wir wünschen oder was wir in einer bestimmten Weise für wichtig halten (Taylor 1992, S. 39).

Die treibende Kraft dieser Transformation kommt dabei (nicht unbedingt) von außen, sondern entspringt primär dem inneren Bedürfnis nach der Steigerung der Artikuliertheit. Dies wiederum erfordert einen kulturellen Vorrat an Deutungsmustern, auf den in der Artikulation zurückgegriffen wird. Artikulation nimmt, wie Taylor es schreibt, Bezug zu „frei stehenden Realitäten“ (2017, S. 375). Schulische Gegenstände können damit den Zugang zu kulturellen Deutungsmustern bereitstellen und Schüler*innen dazu verhelfen, sich auf bestehende Werteinterpretationen beziehend zu artikulieren. So verweist Joas auf die Möglichkeit, sich über kulturelle Deutungsmuster einen Zugang zu Erfahrungen und Interpretationen zu eröffnen, die ohne sie nicht möglich wären: „Die Begegnung eines Menschen mit ihm bis dahin unbekannten Interpretationen kann eine längst vergangene Erfahrung in treffender Weise ausdrucksfähig machen“ (vgl. Joas 2002, S. 236). Dazu bedarf es eines Netzes öffentlich etablierter Weltdeutungen, die einen inspirieren, artikulierter und seiner sozialen Umwelt gerechter zu werden.

Das Konzept der Artikulation ist damit an pädagogische Überlegungen anschlussfähig. So spricht bspw. Stojanov von der Notwendigkeit der Vermittlung „zwischen subjektiven, vor-kognitiven Intuitionen und dahinter steckenden lebensweltlichen Erfahrungen einerseits und objektiven begrifflichen Propositionen und Argumentationen andererseits“ (Stojanov 2014, S. 161). Diese Vermittlung stellt für ihn Bedingungen für Bildungsprozesse in der Schule dar, innerhalb derer die lebensweltlichen Ideale und Wertevorstellungen „propositional ausdifferenziert“ und nach „ihrer intersubjektiven Begründbarkeit befragt“ werden (Stojanov 2014, S. 161). Dazu müssen sich Lernende mit überindividuellen Wissensbeständen befassen und sie schließlich mit den eigenen lebensweltlichen Erfahrungen verknüpfen, womit die identitätsstiftenden Werte einer kritischen Reflexion und Transformation unterzogen werden. Dadurch erscheinen die „akademischen Inhalte im Rahmen der bildungsstiftenden Perspektive nicht als neutrale Informationsbestände, sondern als Orientierungsmittel bei der Suche nach einem richtigen und guten Leben.“ (Stojanov 2014, S. 162).

Auch Giesinger (2010) geht davon aus, dass die Identität von Personen durch normative Festlegungen bestimmt ist, wobei Prozesse der Selbstverständigung dazu verhelfen können, die Art und Weise, wie man sich als Handelnder und Erfahrender in der sozialen und natürlichen Welt positioniert, zu verstehen. Schule hat entsprechend die Aufgabe – will sie Bildung vermitteln – in die Praxis der Selbstverständigung durch Förderung derjenigen Kompetenzen, Werthaltungen oder Wissensbestände, die für deren erfolgreiche Ausübung nötig sind, einzuführen. Wobei kulturelle Produkte im Bildungsprozess ihren Wert daraus gewinnen, dass sie Prozesse der Selbstverständigung in Gang setzen und unterstützen. Sie verhelfen dazu, gewisse Wertvorstellungen, Denk- und Handlungsoptionen zu explizieren, die die Lernenden gegebenenfalls implizit bereits anerkennen. „Die Beschäftigung mit diesen kann ihnen ihre eigenen Orientierungen bewusst machen. Dies wird andererseits auch durch ein Eintauchen in kulturell Fremdes – in die kulturellen Produkte anderer Kulturen oder früherer historischer Epochen – ermöglicht. Ideale Medien der Selbstverständigung, so könnte man vielleicht sagen, schaffen beides zugleich: Erfahrungen der Vertrautheit und der Fremdheit“ (Giesinger 2010, S. 8). Die Auseinandersetzung mit kulturellen Produkten – mit denen nicht nur Literatur, Künste, Philosophie, sondern auch naturwissenschaftliche Konzepte gemeint sind, erlaubt also die Weiterentwicklung des Selbstverständnisses sowie der Artikuliertheit des Selbst.

So gesehen muss eine transformative Unterrichtsforschung im Sinne der Taylor’schen Artikulationstheorie vornehmlich das Austesten und Ausprobieren von für den Lernenden neuer Begrifflichkeiten und theoretischer Perspektiven, und zwar prinzipiell in allen schulischen Lernfächern, in den Blick nehmen. Solche sprachlichen Experimente sind nicht nur als Übungsformen zu verstehen, die zu gesteigertem Wissen im relevanten Feld führen. Vielmehr stellen sie einzigartige Gelegenheiten für transformative Artikulationsversuche dar, wenn sie pädagogisch angemessen unterstützt werden (vgl. Pugh 2011). Dies gilt natürlich nicht nur für Artikulationsversuche im Medium der Sprache, sondern gleichermaßen auch für kreativ-ästhetische Versuche des symbolischen Selbstausdrucks durch Kunst, Musik, Sport u. a., die weitere und in mancher Hinsicht auch facettenreichere Möglichkeiten bieten können, starke Wertungen zum Ausdruck zu bringen und zu erproben (vgl. Langer 2018; Mollenhauer 1994).

Trotz der verschiedenen Möglichkeiten und Vorteile einer artikulationssensiblen Unterrichtsforschung reicht der Artikulationsbegriff allerdings nicht aus, um die transformativen Momente des Unterrichts umfassend nachvollziehen zu können. So beschränkt sich die Artikulationstheorie eher auf vage Aussagen zu den Gelingensbedingungen von Artikulationen, anstatt konkrete Bestimmungskriterien zu liefern, durch welche gelungene von misslungenen Artikulationsprozessen systematisch voneinander unterschieden werden könnten. Nach Taylor gelten als Bedingung für eine gelingende Artikulationen – neben der Authentizität im Sinne einer Übereinstimmung von starken Werten und ihrer Interpretation durch das jeweilige Individuum – Erfahrungen der Anerkennung, die er als Wertschätzung und Bestätigung von Artikulationen in der sozialen Praxis definiert (vgl. Rosa 1998, S. 212 f.).

Der Verweis auf Anerkennung ist einleuchtend, jedoch erweist er sich als unbefriedigend, weil Prozesse der Anerkennung grundsätzlich ambivalent und mit Unterwerfungspraktiken verbunden sein können (Bedorf 2010; Butler 2001). So kann das Streben nach sozialer Anerkennung prinzipiell ‚authentische‘ Artikulationen hemmen. Folglich reicht intersubjektive Anerkennung nicht aus, um die Gelingensbedingungen transformativer Bildungsprozesse bestimmen zu können, weil ebenso auf die Frage Bezug genommen werden muss, inwieweit damit verbundene ‚Adressierungsformen‘ auch reflexiv angeeignet werden können (insbesondere, wenn ihr ethischer Inhalt selbst ambivalent ist) (vgl. Jaeggi 2005). Und schließlich ist damit nichts über bestärkende Erfahrungen ausgesagt, die jenseits intersubjektiver Prozesse der Anerkennung verortet werden müssen.

Darüber hinaus wird deutlich, dass eine Beschränkung auf die Taylor’schen Überlegungen den bildungstheoretisch interessierten Blick auf Versuche der Selbstthematisierung und -deutung allzu sehr eingrenzen würde. Der Begriff der Resonanz kann dabei helfen, die Möglichkeiten und den bildsamen Charakter transformativer Erfahrung weiter auszudifferenzieren und aufzuzeigen, worin eine weitere mögliche Gelingensbedingung von Artikulationen liegen kann. Schließlich bietet sich mit dem Begriff der Resonanz auch eine nähere Bestimmung inspirierender Momente an, die eine Horizonterweiterung und Umdeutung anregen können.

3.2 Resonanz als transformative Erfahrung

Die Resonanztheorie Hartmut Rosas (2016) stellt eine weitere Möglichkeit dar, die Beschaffenheit und Bedeutung bildender Transformationen theoretisch zu erfassen. Resonanz beschreibt ein Verhältnis gegenüber und innerhalb der Welt, in der das Individuum eine besondere Form der Verbundenheit mit seiner Umgebung erfährt. Resonanz tritt dann auf, wenn sich das Individuum in einem responsiven Verhältnis zur Welt befindet – man reagiert antwortend auf seine Umgebung in dem Sinne, dass sich eine gegenseitige Wechselwirkung des Subjekts und dessen Erfahrungsraums vollzieht. Diese Wechselwirkung ist laut Rosa ein erstrebenswerter Zustand, eine als gelingend zu bezeichnende Weltbeziehung, da resonante Verhältnisse die Eigenschaften (oder Stimmen) aller Betroffenen in besonderer Weise zu bestärken vermögen. Das Individuum fühlt sich im Modus der Resonanz durch einen „vibrierenden Draht“ (Rosa 2016, S. 24) zu seiner Umgebung verbunden, welche als eine Expansion oder Intensivierung seines Wertempfindens anerkannt wird. Diese Form der Verbundenheit soll von einer „Kontrolle“ oder „Beherrschung“ (Rosa 2016, S. 32) der Umgebung unterschieden werden, da solchen Weltbeziehungen der kooperative Charakter der Resonanz fehlt. Dabei soll sie gleichzeitig einen Gegenpol zu entfremdeten und verstummten Weltbeziehungen bilden.

Nach Rosa sei eine resonante Beziehung zur Welt schließlich auch das, was Taylors Werk motiviere: Es geht darum, dass die „soziale Welt nicht als eine Welt isolierter Entitäten, sondern als ein geradezu energetisch aufgeladenes, vibrierendes Netzwerk zu konzeptualisieren, dem das Subjekt nicht einfach gegenübersteht, sondern in das es gleichsam ‚responsiv eingebettet‘ ist“ (Rosa 2011, S. 19). So können Taylor’sche Artikulationsprozesse als Resonanzerfahrungen verstanden werden, sofern die Ersteren tatsächlich in gesteigerter Artikuliertheit und einer real erlebten Intensivierung der Intersubjektivität mündet.

Für die Bestimmung des Resonanzbegriffs als Erfahrungsgenre in Abgrenzung zu anderen Formen transformativer Erfahrung ist der Prozess der Anverwandlung grundlegend, der sich in Resonanzverhältnissen entfalten soll. Anverwandlung besteht nicht nur in einer Transformation des erfahrenden Subjektes, sondern auch in den Gegenständen, mit denen es sich antwortend auseinandersetzt. Eine erfolgreiche Anverwandlung im Rahmen einer Sportveranstaltung führt z. B. zum bekannten Gefühl, dass die verschiedenen dazugehörenden Elemente – Mitspieler, Ball, Netz, sonstige relevante Spielgegenstände und -geräte – zu einem zusammenhängenden Ganzen werden. Man fühlt sich unmittelbar verbunden mit seiner Umwelt, jedoch nicht in Form eines Selbstverlustes oder einer Selbstauflösung, sondern im Sinne einer Ermächtigung und Bereicherung des Selbst. Wichtig ist, dass die Herstellung dieser ganzheitlichen Erfahrung nicht zwingend bessere Leistungen mit sich bringt. Der Wert und das Gut der Resonanz liegt nicht in dem, was aus der Tätigkeit der Anverwandlung gewonnen wird, sondern im (sich) anverwandelnden Erlebnis selbst.

Deutlich wird dabei, dass sich auch hier ein Moment der Transformation verbirgt, dem jedoch eine andere Qualität innewohnt als einer Transformation durch Artikulation. Wie Artikulation enthält Resonanz eine positive Erfahrungsqualität, sie verweist aber zugleich darüber hinaus auf ein pathisches Moment des Ergriffenwerdens. Auf diese Weise wird sowohl das Subjekt als auch die Welt transformiert und in eine reziproke Beziehung zueinander gebracht, welche eine starke leibliche Empfindungsdimension aufweist.

Resonanzerfahrungen können prinzipiell in vielen Bereichen des menschlichen Tuns und Strebens auftreten: etwa in liebevollen Beziehungen, in herausfordernden Sportarten, in beruflichen Kontexten, und auch in besonders gelungenen Unterrichtssituationen (vgl. Beljan 2019a). Laut Beljan, der die Überlegungen von Rosa in einen erziehungswissenschaftlichen Kontext überführt, soll der Resonanzbegriff in pädagogischen Kontexten dafür sensibilisieren, dass schulische Bildungsprozesse Erfahrungsräume benötigen, in welchen ganzheitliche Auseinandersetzungen und Erlebnisse mit fachlichen Lerninhalten ermöglicht werden (vgl. Beljan 2019a). Resonanz steht sowohl für eine bestimmte Qualität der Lehrer-Schüler-Beziehung als auch der Beziehung zum Gegenstand. „In Resonanzbeziehungen haben Schüler und Lehrende Kontakt zueinander, die Lehrenden können sich für die Sache begeistern und zwischen den Schülern und der Sache findet etwas statt, das Wolfgang Klafki als ‚Erschließung‘ genannt hat“ (Beljan und Winkler 2019, S. 57). Er legt darüber hinaus nahe, dass auch die physischen und räumlichen Bedingungen der Schule eine bedeutsame Rolle für die Ermöglichung von Bildungsprozessen spielen, da Lehr- und Lernvorgänge auch von einer gewissen Leiblichkeit tangiert werden.

Somit steckt ein großes Potenzial in der forschungspraktischen Bedeutung der Resonanztheorie, welches sich vor allem in der Ergänzung zur Artikulationstheorie äußert. Den Bezug zu Taylor stellt Rosa her, indem er darauf verweist, dass Resonanz ohne Bezug zu starken Wertungen nicht denkbar sei: Resonanz gelingt mit Weltausschnitten, die ihren Werten in sich selbst tragen und nicht einfach nur als nützlich oder praktisch erscheinen (vgl. Rosa 2016, S. 622.) So liefert schließlich das Resonanzkonzept eine Orientierung, um feststellen zu können, welche Artikulationsprozesse als gelungen oder misslungen betrachtet werden können. Ein Artikulationsversuch ist demnach als gelungen zu bewerten, wenn der Lernende eine antwortende Haltung gegenüber der Erfahrungsdomäne, die die Artikulation betrifft, nun (besser) einnehmen kann. Wenn eine Schülerin etwa versucht, eine Erfahrung anhand des Begriffs der Konsumgesellschaft neu zu interpretieren und dazu sensibilisiert wird, ökologischer zu leben und eine reichhaltige Beziehung zur Natur zu pflegen, ist dies eine resonanzbegünstigende Artikulation. Wenn ein Schüler oder eine Schülerin demgegenüber vor der Ubiquität des Konsumdenkens und -verhaltens in zeitgenössischen Gesellschaften in Verlegenheit und Resignation gerät, dann muss zwingend (ohne weitere Informationen) von einem misslungenen Artikulationsversuch gesprochen werden.

Gleichzeitig kann die Resonanzidee weitere Phänomene des Lernens und der Welterschließung begreifen, die nicht vornehmlich sprachlich-artikulativer Art sind. Wenn man mit neuen Begriffen, Perspektiven, Werten und Denkformen konfrontiert wird, weist z. B. die Erfahrung oft weitere phänomenologischen Facetten auf, die sich (zunächst) in nicht-sprachlicher, meta-artikulativer Art äußern, etwa Erfahrungen der Faszination, des Staunens oder der Inspiration. Durch die resonanztheoretische Brille kann z. B. die Körperhaltung der Schüler*innen im Unterricht relevant werden – somit wird das faszinierte Sitzen am Rande des Stuhls mit glänzenden Augen oder ein ermüdetes Zurücklehnen mit einem gelangweilten Blick ebenso wie ein aufgeregtes Unterhalten oder ein abwesendes, gar abgelenktes Quatschen zu wichtigen Indizien, die ebenso zu einer umfassenden Forschungsperspektive gehören, welche unterrichtliche Transformationen begreifen und rekonstruieren soll.

Auch wenn die Artikulations- und Resonanztheorien vielversprechend miteinander vereinbar sind, reichen sie nicht aus, um das Transformative des Lehrens und Lernens vollumfänglich zu begreifen. So zeigt sich im Anschluss an die Überlegungen von Rosa, dass das Fehlen von Resonanz nicht immer ein Zeichen von einem misslungenen Erfahrungsprozess ist. Vor allem in unterrichtlichen Kontexten ist eine Perspektive notwendig, die den Stellenwert von z. B. Herausforderung, Anstrengung und Selbstüberwindung anerkennen kann, welche noch nicht in resonanter Form erlebt werden können. Insbesondere, wenn es darum geht, den bisherigen Erfahrungshorizont durch die Auseinandersetzung mit (zuerst etwas befremdlichen) akademisch-fachlichen Inhalten zu dehnen und zu erweitern, wird man nicht immer von vollständigen Resonanzerlebnissen reden können. Lernende werden etwa Zeit und Unterstützung brauchen, bis sie die Lösung einer schwierigen Problemstellung in der Mathematik als eine Resonanzquelle oder auch als eine Gelegenheit zur Selbstartikulation empfinden können. Notwendig erscheint also ein theoretisches Vokabular, das zwischen transformationsbegünstigenden und transformationshemmenden Begegnungen mit Herausforderungen und Lernhindernissen unterscheiden kann.Footnote 6

Die Resonanztheorie beschreibt somit zwar einen wünschenswerten Zustand der Weltbeziehung, die prinzipiell durch die Auseinandersetzung mit Unterrichtsinhalten entstehen kann, nicht aber die Beschaffenheit des psychologischen Prozesses, durch welchen das Individuum diesen Zustand erreicht. Dieser Prozess, welcher eben nicht nur aus Resonanzerfahrungen bestehen kann, wird durch das Konzept der Aspiration weiter spezifiziert.

3.3 Aspiration als transformative Erfahrung

Ein weiteres, bildungsbedeutsames Genre transformativer Erfahrung wird durch den Begriff der Aspiration erhellt. Laut Agnes Callard (2018) steht der Aspirationsbegriff für „die charakteristische Form der Handlungsfähigkeit, welche auf Werteaneignung ausgerichtet ist“ (Callard 2018, S. 4 f.). Er deutet auf den Erfahrungsprozess, wodurch der intrinsische Wert einer Aktivität oder Lebensform erkannt und daran anschließend weiterverfolgt wird. Aspiration ist somit eine Form des Strebens bzw. des Anstrebens, jedoch nicht nach einem bereits vorgeplanten Ziel oder Gut. Sie bezeichnet eine Erweiterung dessen, was für uns überhaupt als erstrebenswerte Ziele und Güter zählen. Wenn etwa das erstmalige Hören einer Komposition von Tárrega zu dem Beschluss führt, das Spiel der Gitarre zu erlernen; wenn das Erleben eines Gemäldes von Albrecht Dürer veranlasst, dass man sich nun selbst an der Malerei versuchen möchte; oder wenn das Erblicken der Notlage und Würde eines Menschen in ein ehrenamtliches Engagement in der Bahnhofsmission mündet – dann erfährt man ein Bewegt-sein durch diese aspirative Form des wertgebundenen Strebens.

Laut Callard geht mit dem In-Erscheinung-Treten und Erkennen von Wert bei aspirativen Prozessen einher, dass man die bisherige Bewertungsperspektive als eingeengt, korrumpiert oder defektiv erlebt. Aspiration entwächst also nicht nur der Inspiration durch einen Wert, sondern zugleich einem „Bewusst[sein] der Defektivität in Bezug auf das Verständnis des relevanten Werts“ (Callard 2018, S. 226). So verfügen Aspiranten über zwei Beweggründe für ihre Bemühungen: erstens die „proleptische“ Motivation (Callard 2018, S. 68), welche an die erwarteten Vorteile und Möglichkeiten des angestrebten Gegenstandes gebunden ist, zweitens die negative Motivation, dass der Aspirationsprozess sie allmählich aus ihrem nun problematisch erscheinenden Bewertungsstadium befreit. Das Besondere an dem Begriff der Aspiration ist also, dass eine Diskrepanz zwischen unserem jetzigen Werterahmen und dem, der den neuen Wert integrieren würde, eröffnet wird. Diese anfängliche Diskrepanz und Distanz zum Wert motiviert, da sie an einem Gegenstand ausgerichtet ist, der nun als wert-voll empfunden wird. Aspiration folgt also auf die Hoffnung, dass durch die Auseinandersetzung mit dem aspirativen Gegenstand unser Leben mit Wert erfüllt(er) wird.

Aspiration lässt sich somit anhand vier zentraler Merkmale bestimmen. Sie entsteht erstens aus einer Andeutung von Wert. Diese Andeutung – welche als eine Art ‚präresonantes‘ Erlebnis ausgelegt werden kann – setzt zwar den wertgebundenen Aneignungsprozess in Gang, genügt aber nicht, um den neu erkannten Wert vollumfänglich zu erschließen. So ist die Andeutung von Wert mit einem weiteren Merkmal aspirativen Werterlernens eng verknüpft: das Erkennen einer ethischen Distanz. Man konfrontiert die Tatsache, dass die Erschließung von Wert Arbeit erfordert. Diese Arbeit an sich selbst umfasst jedoch nicht nur Übung und Wiederholung, sie setzt eine Transformation voraus, um zu dem ersehnten Wert zu gelangen. Dieses dritte Merkmal – das Erkennen einer ethischen Differenz – ist notwendig, um erstens den Einfluss des bestehenden (und nun als eingeschränkt wahrgenommenen) Werterahmens zu lockern, zweitens um die neuen Aufgaben, Beziehungsformen und Perspektiven des aspirativen Objekts anzueignen. Da solch aspirativen Transformationen schwierig und fast unvermeidlich mit Rückschlägen verbunden sind, beinhaltet Aspiration auf individueller Ebene einen Entschluss zum Anders-Werden, welcher auch durch bedeutsame Beziehungen mit anderen unterstützt werden muss (vgl. Yacek 2021).

Obwohl der Aspirationsbegriff im Rahmen einer Debatte zu Fragen rationaler Handlungsfähigkeit in der Philosophie entstanden ist (vgl. Paul 2014, 2015) und in der obigen Form bloß skizzenhaft dargestellt wurde, liegt auf der Hand, dass er auch als pädagogische Kategorie aufgefasst werden kann. Denn der Wert von Unterrichtsinhalten ist für Lernende anfangs oft schwer zu greifen, auch bei optimalen Lehr- und Lernbedingungen. Der Aspirationsbegriff kann dazu genutzt werden, um den psychologischen Prozess zu beschreiben, durch den Lernende die anfängliche Fremdheit des Lernstoffs überwinden und schließlich als Bereicherung der „Qualität der unmittelbaren, alltäglichen Erfahrung“ (Pugh 2002, S. 1101) erkennen können. Lernen ohne Aspiration, d. h. ohne eine als bedeutsam empfundene und dadurch motivierende Verbindung zum intrinsischen Wert des Lernstoffs, führt – wie Pugh in einer Reihe von empirischen Studien zu „transformative experience“ in naturwissenschaftlichem Unterricht belegt hat (z. B. Pugh et al. 50,51,a, b) – zu einer oberflächlichen oder rein pragmatischen Beziehung zu fachlichen Lerninhalten. In diesem Fall sind Lernende an extrinsische Belange wie Noten, Abschlüsse oder Karriereaussichten gebunden oder erhalten nur flüchtige Einblicke in intrinsische Wertquellen, die ihnen schnell wieder entgleiten. Wenn der Aspirationsbegriff die Art und Weise erklären kann, wie Lehrkräfte einen dauerhaften Kontakt mit den intrinsischen Wertquellen ihrer Disziplinen herstellen können, dann weist dies auf eine der zentralen Aufgaben eines bildungsorientierten Unterrichts hin (vgl. Yacek im Druck).

Eine zweite und vielleicht noch grundlegendere Verbindung zwischen Aspiration und pädagogischer Praxis betrifft die Art und Weise, wie der Aspirationsbegriff die Beziehung und Interaktion zwischen Lehrer*innen und Schüler*innen aufgreift. Der Blick durch die Brille der Aspiration sensibilisiert dafür – und dies ist auch für dessen Rolle als empirische Heuristik wesentlich –, dass Lehrkräfte eine Verbindung zum intrinsischen Wert fachlicher Bildungsinhalte herstellen müssen, um aspirative, statt bloß ambitiöse Lernprozesse in Gang zu setzen. Die zuvor herangetragene Unterscheidung zwischen intrinsischen und extrinsischen Wertquellen ist hier eigentlich zu unscharf, um solche Vermittlungsprozesse empirisch beschreiben und beobachten zu können. Eine aspirative Wertevermittlung impliziert eine existentielle Verbindung zu intrinsischen Wertquellen. Fachliche Lerninhalte müssen der These nach von Lernenden als wertvoll im Sinne einer Vertiefung ihrer Wahrnehmung und Bereicherung ihres Erfahrungshorizonts empfunden werden, sodass sie auch entschlossen sind, den Wert der Lerngegenstände weiterzuverfolgen und sich dabei zu verändern. Anders gesagt: die vier Merkmale aspirativer Erfahrung deuten auf potenziell beobachtbare Momente der Lernsituation hin, die erlauben, den aspirativen Charakter der Lehrer-Schüler-Interaktion zu rekonstruieren.

So scheint der Aspirationsbegriff die Resonanztheorie und den Artikulationsbegriff in entscheidender Weise zu ergänzen. Denn der Prozess, durch den das Individuum z. B. von präresonanten Andeutungen eines Wertes zum Ausleben der dabei versprochenen Resonanzverhältnisse gelangt, wird anhand des Aspirationsbegriffs weiterspezifiziert. Anders gesagt: Aspiration gibt Auskunft darüber, welche psychologischen Bedingungen vorhanden sein müssen, damit Resonanz als eine bestehende Beziehung zur Welt (und zum Unterrichtsstoff) entstehen kann. Das gleiche gilt für die Artikulationstheorie: Artikulationen sind dann sinnvoll, sofern sie an den intrinsischen Werten gekoppelt sind, die im jeweiligen fachlichen Kontext vorhanden sind bzw. durch die Auseinandersetzung mit fachlichen Inhalten freigelegt werden können. Die konkreten Implikationen des konzeptuellen Trias Artikulation-Resonanz-Aspiration sollen für die Unterrichtsforschung im nächsten und letzten Abschnitt ausgeführt werden.

4 Umriss einer unterrichtlichen Transformationsforschung

Die obigen Skizzen sollten aufzeigen, wie sich transformative Erfahrungen im Unterricht in ihrer Vielfalt und jenseits disruptiver Erfahrungen in der Auseinandersetzung mit fachlichen Gegenständen denken lassen. Dabei zeigen sich drei unterschiedliche Erfahrungen mit einer jeweils spezifischen transformatorischen Qualität, die auf Möglichkeiten der Anreicherung und Erweiterung von Selbst- und Weltverhältnissen verweisen. Die herausgestellten Relationen wiederum machen deutlich, dass sich Bildung nicht auf eine Bildungsdynamik (vgl. Rucker 2014) reduzieren lässt, sondern als komplexes und mehrdimensionales Geschehen konzipiert werden muss.

Während der Begriff der Artikulation dabei für Versuche des Selbstentwurfs steht, in denen starke Wertungen im Anschluss an fachliche Gegenstände als Medien der Selbstverständigung gedeutet und präzisiert werden, steht Resonanz für Erfahrungen der Selbstwirksamkeit, die aus der gelungenen Artikulation heraus entstehen können. Ebenso kann Resonanz, die gleichsam auf leibliche und emotionale Dimensionen von Bildung verweist, den Beginn eines Bildungsprozesses markieren, in dem es zu einer Horizonterweiterung kommt, wobei sich der Begriff der Aspiration dafür eignet, zu beschreiben, wie sich Subjekte für Erfahrungen neuer Werte öffnen und wie daraus neue Artikulationsformen entstehen können.

Mit dieser Heuristik kommen schließlich weniger irritierende Momente oder ein Scheitern in den Blick, sondern eher ideenreich gestaltete fachliche Kontexte und Arrangements, die es erlauben, in der Auseinandersetzung mit Lerngegenständen (neu- oder fremdartige) Präferenzen und Wertungen zu artikulieren und auf ihr Potenzial für die Erweiterung und Bereicherung der eigenen Erfahrung zu prüfen. Diese Heuristik dient somit zur Fokussierung von Lehr- und Lernprozessen, die eine doppelseitige Relation zwischen individuell-subjektiven Wachstumsmomenten und akademisch-fachlichen Wertequellen herstellen. Dies erscheint uns insofern hilfreich, als solche bildenden Relationen allzu oft zugunsten von eher instrumentellen Beziehungen zu Lerngegenständen, durch technokratische Überformungen (z. B. durch Kompetenz- und Leistungsorientierung) ausgeklammert werden. Gleichzeitig muss vor Augen gehalten werden, dass die Heuristik in dieser Form natürlich nicht allen bildungsbedeutsamen Ereignissen im Klassenzimmer gerecht werden kann. Insbesondere die Eigenstruktur und der Charakter verschiedener nicht-sprachlicher Bildungsprozesse sowie ihre Potenziale für eine transformatorische Unterrichtsforschung sind noch systematischer auszuloten (vgl. bspw. Brinkmann et al. 2019; Wulf 1990, 2014). Thematisch orientierte Bildungsprogramme von zentraler gesellschaftlicher Bedeutung – etwa Demokratie‑, Umwelt‑, Persönlichkeits- und Charakterbildung – sind darüber hinaus noch nicht im Rahmen dieser Heuristik adressiert worden. Wie diese durch die Begriffstrias Artikulation-Resonanz-Aspiration anders gedacht bzw. beforscht werden können, ist weiterführenden Arbeiten vorbehalten.

Im Anschluss an diese Überlegungen möchten wir eine transformative Unterrichtsforschung vorschlagen, die auf einer Integration unterschiedlicher bildenden Erfahrungen (vgl. auch: Pugh 2011) basiert. Artikulation, Resonanz und Aspiration bezeichnen in diesem Sinne unterschiedliche Formen transformativer Erfahrungen, die sich dynamisch ergänzen können, aber auch jeweils für sich empirisch in Erscheinung treten können. Dieser Vorschlag beruht auf der Annahme der Offenheit von Bildungsprozessen, die in irgendeiner Form zu Veränderungen des Selbst- und Weltverhältnisses führen können, deren Ausgang aber letztlich nicht finalisiert werden kann. „Die Bedeutsamkeit und Wirkung der Welt und die Ergebnisse der Bildung lassen sich nicht philosophisch oder gar in Bildungskritik bestimmen, sondern bedürfen der Realitätsvergewisserung“ (Tenorth 2016, S. 58).

Die hier nur angedeuteten möglichen Relationen und Wechselwirkungen bleibt es damit schließlich in empirischen Studien mit Blick auf ihre empirische Konkretisierung in schulischen Interaktionsprozessen nachzugehen, wobei ein methodischer Zugang erforderlich ist, der mit einer gleichschwebenden Aufmerksamkeit (Freud) für unterschiedliche Momente von Bildung sensibel ist und schließlich: nicht zu vergessen auch Irritationen durch die Dignität der Praxis selbst zulässt.

Interessant wäre es dabei den Blick auf Lehrmethoden zu erweitern und zu fragen, welche Lerngenstände, Wissensformen, fachlichen Praktiken sowie auch schulkulturellen Ausformungen sich als besonders „bildungsbegünstigend“ erweisen. Ebenso relevant erscheint zudem, welche Rolle SchülerInnenmerkmale und Aspekte wie soziale Ungleichheit (in Zusammenspiel auch mit anderen Differenzkategorien) und verfügbare Ressourcen und Vulnerabilitätsrisiken, aber auch Alter und Entwicklungsstufe spielen und inwiefern damit eine gewisse Affinität zu bestimmten Erfahrungsmustern (Tendenz zur Stabilisierung oder Öffnung für Neuformation) einhergeht.

Diese ersten Überlegungen zu einem heuristischen Vokabular müssen in einem nächsten Schritt um methodische Überlegungen erweitert werden. Dabei ist es notwendig, die Phänomene Artikulation, Resonanz und Aspiration nicht nur konzeptionell, sondern auch methodologisch systematischer im Hinblick auf Aspekte der Leiblichkeit (vgl. Brinkmann et al. 2019; Wulf 2014) weiterzudenken – insbesondere, wie diese angemessen empirisch nachvollzogen werden könnten. Auch wenn sich in der Darstellung andeutet, dass sich solche konstruktiven Bildungsprozesse nicht bloß im Medium der Sprache bspw. durch das Ausprobieren neuer Begrifflichkeiten vollziehen muss, gilt es verstärkt auch andere Artikulationsformen im Zusammenhang mit den drei Dimensionen transformatorischer Bildung weiter auszudifferenzieren (vgl. bspw. Klepacki 2016; Lehmann 2020; Sabisch 2018). Auch wenn der Fokus unserer Überlegungen eher auf eine qualitative Unterrichtsforschung hin angelegt ist, erscheint es außerdem aussichtsreich, diese Überlegungen auch in Bezug auf Fragen der Unterrichtsqualität bzw. -effektivität zu beziehen (vgl. Rothland 2018) und bestehende Modelle um die vorgeschlagenen (entsprechend zu operationalisienden) Beobachtungskategorien zu ergänzen, sodass der von Pugh (2002) bereits angebahnte Anschluss an quantitativ ausgerichtete Forschungsprogramme weiterentwickelt werden kann.

Schließlich kommt auch diese Bildungskonzeption nicht umhin, das Verhältnis von Deskription und Normativität zu reflektieren. Denn versteht man Bildung nicht nur als Heuristik für empirische Unterrichtsforschung, sondern auch als pädagogischen Begriff, stellt sich die Frage nach inhaltlichen Orientierungen: Welche Artikulationen erscheinen pädagogisch wünschenswert und tolerierbar und inwieweit können Erfahrungen der Artikulation, Resonanz, oder Aspiration auch problematische Entwicklungen begünstigen? (vgl. Rieger-Ladich 2014; Stojanov 2006).

Auch wenn es für die empirische Forschung produktiv erscheint, normative Bewertungen zunächst außenvorzulassen (vgl. Vogel 2019), bedeutet dies nicht, dass nicht auch Bewertungen vorgenommen werden können bzw. für didaktische Überlegungen auch erfolgen müssen (vgl. Giesinger 2022) und sich Bildungsprozesse aus unterschiedlichen normativen-evaluativen Dimensionen bewerten lassen (vgl. Drerup 2019). Für die empirische Erforschung von Bildungsprozessen gilt aber zunächst – ohne sich des normativen Gepäcks einer pädagogischen Forschung vollständig zu entledigen – ein bloß evaluative Perspektive auf die (aus dieser Perspektive oftmals nur defizitär erscheinende) empirische Wirklichkeit zu vermeiden (vgl. Beier 2018) und zunächst offen nach dem Zusammenspiel unterschiedlicher Bildungsmomente und ihrer jeweiligen Konkretisierung in der pädagogischen Praxis zu fragen, womit ein Beitrag zu erziehungswissenschaftlicher Theoriebildung geleistet werden kann.