1 Einleitung

Mit Art. 24 der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-BRK) haben sich die Vertragsstaaten verpflichtet, Bildung inklusiv zu gestalten. Damit ist die Perspektive verbunden, dass alle Kinder und Jugendlichen gleichberechtigt, ohne Diskriminierung, an den vielfältigen, formal strukturierten und informellen Bildungsprozessen an allgemeinen Bildungsorten und Lernwelten teilhaben können. Im Horizont von schulischer Inklusion kommen in Deutschland unterstützende Leistungen zur Teilhabe an Bildung gemäß § 75 SGB IX zum Einsatz. Sozialrechtlich handelt es sich dabei zumeist um Einzelfallhilfen im Rahmen der Eingliederungshilfe, deren Inanspruchnahme voraussetzt, dass jungen Menschen eine wesentliche ‚geistige‘ oder ‚körperliche‘ bzw. eine ‚seelische‘ Behinderung medizinisch attestiert wird. Für unterstützende Leistungen zur Teilhabe an Bildung werden unterschiedliche Bezeichnungen, wie z. B. Schulbegleitung, Schulassistenz oder Integrationshilfe, verwendet (vgl. Dworschak 2010). Sie sind nicht auf den Unterricht beschränkt, sondern können auch die Begleitung etwa auf dem Schulweg, in Pausen und schulischen Ganztagsangeboten umfassen. Dies entspricht der Position, dass der schulische Alltag mehr ist als Unterricht (vgl. Reinert und Zinnecker 1978) und „Bildung […] mehr als Schule“ (Bundesjugendkuratorium et al. 2002).

Schulbegleitung, wie wir sie in diesem Beitrag nennen, ist inhaltlich weitgehend „unbestimmt [ ]“ (Arndt et al. 2017, S. 225). Dies spiegelt sich in einer äußerst vielfältigen Ausgestaltung der Maßnahme in der Unterrichtspraxis (Blasse 2017, S. 108). Einer Systematik von Meyer (2017, S. 57) zufolge unterstützen Assistenzpersonen Kinder und Jugendliche „bei lebenspraktischen Anforderungen“, „bei der Emotions- und Verhaltenskontrolle“ und sie leisten „[d]idaktische Unterstützung“. Bundesweite Statistiken zu Nutzung, Ausgestaltung und Konsequenzen von Schulbegleitung liegen nicht vor (vgl. Lübeck und Demmer 2019, S. 11). Praxisberichte und regionale Erhebungen weisen auf einen erheblichen quantitativen Ausbau der Maßnahme hin (vgl. Lübeck und Demmer 2019, S. 16).

Bereits vor dem Inkrafttreten der UN-BRK wurde Schulbegleitung in Deutschland „auch von ihren Verfechtern als notwendiges Provisorium angesehen, das den Zugang zu Bildung im Einzelfall erst ermöglicht, aber mit vielen Schwierigkeiten behaftet ist“ (Blömer-Hausmanns 2014, S. 226). Mit Blick auf Peer-Interaktionen von jungen Menschen wurde bereits Anfang der 2000er-Jahre (Schöler 2002) auf mögliche Stigmatisierungs- und Ausschließungseffekte durch den Einsatz von Assistenzpersonen in der Schule hingewiesen. Aus einer sozialpädagogischen Perspektive hat dieser Aspekt eine hohe Relevanz und Aktualität. Er verweist auf mögliche nicht-intendierte Konsequenzen von Schulbegleitung, die im Widerspruch zu der intendierten Zielsetzung dieser sozialen Maßnahme im schulischen Kontext stehen und für Kinder und Jugendliche weitreichend sind. Die Teilhabe an Peer-Interaktionen und der Peer-Kultur in der Schule ist für Kinder und Jugendliche von zentraler Bedeutung (vgl. auch Ehrenberg und Lücke 2017, S. 34 ff.; Lindmeier und Ehrenberg 2019, S. 145). Breidenstein (2021, S. 16) zufolge „[dürfte] [d]ie interaktive Bezugnahme auf die Mitschülerinnen und Mitschüler […] zumindest in manchen Phasen und Kontexten des Schulbesuchs alle anderen schulischen Sinngebungen dominieren“. Aufgrund der Verwobenheit der verschiedenen Lebensfelder des Alltags, wie Familie, Schule, Freizeitaktivitäten etc., in die sich die alltägliche erfahrene Wirklichkeit von Kindern und Jugendlichen gliedert, ist sie auch für deren außerschulische soziale Teilhabe von Belang.

Das Geschehen außerhalb des Unterrichts hat für Peer-Interaktionen und die Peer-Kultur von Kindern und Jugendlichen großes Gewicht. Die schulische „Hinterbühne“ (Zinnecker 1978) wird alltäglich im Unterricht bespielt und im außerunterrichtlichen Schulgeschehen voll entfaltet. In Pausen, beim Frühstück und Mittagessen, in Angeboten der Ganztagsbetreuung und bei Schul- und Klassenaktionen knüpfen Kinder und Jugendliche – zunehmend online – Kontakte, pflegen Freundschaften und tragen Konflikte aus. Die Peers setzen sich mit Machtverhältnissen, Hierarchien und Zugehörigkeiten, gesellschaftlichen Vorstellungen von Normalität und Leistung sowie Differenz und Alterität auseinander (vgl. Bennewitz et al. 2016; Kelle und Breidenstein 1996; Rose und Seehaus 2019; Schmidt 2014; Zinnecker 1978).

Nun wird der Einsatz von Assistenzpersonen in schulischen Settings international schon seit längerem erforscht. Vorliegende Erkenntnisse beziehen sich dabei in erster Linie auf den Unterricht. Empirische Befunde zu Schulbegleitung, die das außerunterrichtliche Schulgeschehen mit einbeziehen, sind rar; solche, die ihren Fokus darauf richten, liegen unserer Kenntnis nach bislang nicht vor.

Im Rahmen einer vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten Studie haben wir das soziale Miteinander in inklusiven Settings mit Schulbegleitung im außerunterrichtlichen Schulgeschehen mit einem qualitativ-empirischen Zugang in den Blick genommen. Erkenntnisleitend war dabei ein ethnografischer Forschungsansatz (vgl. Breidenstein et al. 2015). In zwei Feldphasen, die sich über den Zeitraum von April 2018 bis November 2019 erstreckten, führten wir an zwei Offenen Ganztagsgrundschulen teilnehmende Beobachtungen durch, um zu erkunden, was im außerunterrichtlichen Schulgeschehen in inklusiven Settings mit Schulbegleitung geschieht.

Auf Grundlage dieser Studie analysiert der vorliegende Beitrag explorativ die folgenden Fragestellungen:

  • Wie wird Schulbegleitung von den Beteiligten in Situationen im außerunterrichtlichen Schulgeschehen in inklusiven Settings als alltägliche Praxis vollzogen und ausgestaltet?

  • Welche Folgen hat Schulbegleitung im außerunterrichtlichen Schulgeschehen für das alltägliche soziale Miteinander im Hinblick auf Peer-Interaktionen von Grundschulkindern?

Wir referieren im Folgenden zunächst den Forschungsstand zur Schulbegleitung hinsichtlich des skizzierten Erkenntnisinteresses dieses Beitrags (Abschn. 2), bevor wir den theoretisch-methodologischen Rahmen der Studie (Abschn. 3) sowie unsere Vorgehensweise in der Datenerhebung und -analyse näher erläutern (Abschn. 4). Anhand von Ausschnitten aus ethnografischen Beschreibungen werden sodann Formen und Folgen von Schulbegleitung rekonstruiert, wobei wir zwei Formen des Begleitens exemplarisch näher betrachten (Abschn. 5). Abschließend diskutieren wir die Befunde unter Berücksichtigung der aus dem gewählten Studiendesign resultierenden Reichweite und den Limitierungen ihrer Aussagekraft (Abschn. 6).

2 Forschungsstand

Die Spannungsfelder, in denen sich Schulbegleitung als soziale Maßnahme im schulischen Kontext bewegt, werden seit einigen Jahren in der Forschungslandschaft in Deutschland zunehmend diskutiert (vgl. Arndt et al. 2017). In den Blick gelangt sind neben Fragen der Qualifizierung und Professionalisierung (z. B. Heinrich und Lübeck 2013; Meyer 2017) insbesondere die Breite des Aufgabenspektrums von Assistenzpersonen und die Schwierigkeit der Abgrenzung ihrer Tätigkeiten zu einem in der Rechtsprechung häufig herangezogenen pädagogischen Kernbereich, der Lehrkräften vorbehalten bleiben soll (vgl. z. B. Dworschak 2010). Die Frage, wie Schulbegleitung in der Praxis konkret ausgestaltet wird, steht damit im unmittelbaren Zusammenhang. Sie ist ebenso wie die Frage nach den Konsequenzen des Einsatzes von Assistenzpersonen in schulischen bzw. primär unterrichtlichen Settings Gegenstand quantitativer und qualitativer Studien des hier in den Blick genommenen deutsch- und englischsprachigen Raums. Dass Rückschlüsse von Ergebnissen internationaler Studien auf die Situation in Deutschland aufgrund unterschiedlicher Bildungs- und wohlfahrtstaatlicher Systeme, Rahmenbedingungen und Verfasstheiten des Einsatzes von Assistenzpersonen in der Schule nicht unmittelbar möglich sind, sei an dieser Stelle vorausgesetzt (vgl. Lübeck und Demmer 2019, S. 23 f.).

Im Ergebnis vorliegender Studien zur Ausgestaltung von Schulbegleitung werden verschiedentlich diverse Rollen oder Positionen beschrieben, die Schulbegleitungen im Unterricht einnehmen und die begleiteten Schüler*innen zugewiesen werden (z. B. Blasse 2017; Broer et al. 2005; Böing und Köpfer 2019; Ehrenberg und Lindmeier 2020; Henn et al. 2022; Lübeck 2019; Skär und Tamm 2001). Exemplarisch kann auf Ergebnisse der Studie von Broer et al. (2005) verwiesen werden, die auf der Grundlage einer mündlichen Befragung von ehemaligen Schüler*innen mit Lernschwierigkeiten, die in der Schule eine Begleitperson hatten, herausarbeiteten, dass die Assistenzperson von diesen als „Mutter“, „Freundin“, „Beschützerin gegen Mobbing“ oder „primäre Lehrkraft“ wahrgenommen wurde (Broer et al. 2005, S. 420).

Darüber hinaus existieren Untersuchungen, die nicht das Ziel verfolgen, die Rollen oder Positionen der Beteiligten zu bestimmen, sondern die konkreten Merkmale der Interaktionen zwischen Assistenzpersonen, begleiteten Kindern und weiteren Beteiligten in schulischen Settings Kindern zu beschreiben. Aufgrund ihrer Relevanz mit Blick auf die Fragestellung dieses Beitrags werden die Studien von Giangreco et al. (1997) sowie Adio-Zimmermann et al. (2019) im Folgenden skizziert.

Giangreco et al. (1997) haben Beobachtungen in Klassenräumen sowie teilstrukturierte Interviews mit Schulmitarbeitenden und Eltern von begleiteten Schüler*innen im Alter von 4 bis 20 Jahren durchgeführt. Als Resultat ihrer Studie problematisieren sie insbesondere eine ständige Präsenz, im Sinne einer körperlich-räumlichen Nähe, zwischen Assistenzpersonen und begleiteten jungen Menschen. Diese Präsenz werde z. B. durch ein Aufrechterhalten des physischen Kontakts, aber auch durch die Begleitung in allen Bereichen des Schulgeländes vollzogen (vgl. Giangreco et al. 1997, S. 9). Befragte sähen körperlich-räumliche Nähe teilweise als erforderlich und zum Teil, etwa wenn es um taktile Zeichen ging, als essenziell an. Sie machten jedoch auch deutlich, dass eine enge Nähe nicht immer notwendig sei und auch schädliche Auswirkungen für Kinder und Jugendliche haben könne – u. a. etwa eine Separation von den Peers (Giangreco et al. 1997, S. 10). Ausgehend von den Befunden dieser Studie sowie weiteren Arbeiten warnt Giangreco vor einer Isolation von Schüler*innen mit Behinderungen von ihren Peers durch „Inselbeziehungen“ (Giangreco 2003, o. S., im englischen Original: „insular relationships“) mit Assistenzpersonen, die Malmgren und Causton-Theoharis (2006, S. 310), an Giangrecos Arbeiten anschließend, als „isolating bubble of paraprofessional support“ beschreiben.

Die Ethnografie „Was passiert beim Schulessen?“ (Rose und Seehaus 2019) ist nicht unmittelbar in der Schulbegleitungsforschung, sondern im Kontext pädagogischer Essensforschung verortet. Im Rahmen eines Exkurses gehen Adio-Zimmermann et al. (2019, S. 82) jedoch auf „[d]ie sozialräumliche Positionierung der Schüler_innen mit Handicaps“ ein. Sie beschreiben, dass Kinder mit Behinderungen beim Essen in der Mensa allein oder mit Erwachsenen an Tischen sitzen (Adio-Zimmermann et al. 2019, S. 83). Im Ergebnis ihrer Beobachtungen konstatieren die Autor*innen eine „schwächere Interaktionsdichte – auch schon deshalb, weil weniger Personen involviert sind“ (Adio-Zimmermann et al. 2019, S. 82) sowie, „dass als Interaktionspartner_innen fast ausschließlich jene Erwachsene auftreten, die als individuelle Assistenzkräfte fungieren. Peerinteraktionen […] sind hier extreme Ausnahmen“ (Adio-Zimmermann et al. 2019, S. 82). Sie verweisen, ähnlich wie Giangreco et al. (1997), auf eine vergleichsweise große Rolle des Körperkontakts in den Interaktionen zwischen begleiteten Kindern und Erwachsenen (Giangreco et al. 1997).

Was wissen wir nun näherhin über die Folgen des Einsatzes von Assistenzpersonen im schulischen Kontext für Peer-Interaktionen von jungen Menschen? Mit Blick auf die Perspektiven von jungen Menschen, die von Assistenzpersonen begleitet werden, die ihrer Peers und bezüglich Fragen von sozialer Teilhabe an peerkulturellen Interaktionen und Aktivitäten berichten Untersuchungen sowohl von positiven als auch von negativen Konsequenzen (Alborz et al. 2009, S. 14; Blasse 2017; Blatchford et al. 2012; Broer et al. 2005; Henn et al. 2022; Skär und Tamm 2001).

Als vorteilhaft für ihre Beziehungen zu Peers betrachteten es die von Skär und Tamm (2001) befragten Kinder und Jugendlichen im Alter von 8 bis 19 Jahren mit eingeschränkter Mobilität und persönlicher Assistenz, wenn die Assistenzperson die Rolle eines „Freundes“ einnähme, „auch, um die ‚Eintrittskarte‘ zum Spiel oder, für Jugendliche, zur Peer Group, zu sein“ (Skär und Tamm 2001, S. 926). So könnten z. B. Assistenzpersonen von Kindern besser fragen, ob man an einem Spiel teilnehmen könne, und bei der Umsetzung helfen (Skär und Tamm 2001).

Als eine mögliche negative Konsequenz werden insbesondere Stigmatisierungs- und Ausschließungseffekte durch den Einsatz von Assistenzpersonen in der Schule diskutiert (vgl. z. B. Blasse 2017; Blatchford et al. 2012; Ehrenberg und Lindmeier 2020; Ehrenberg und Lücke 2017; Giangreco 2003, 2013; Giangreco et al. 1997; Lindmeier und Ehrenberg 2019; Lindmeier und Polleschner 2014; Malmgren und Causton-Theoharis 2006; Schöler 2002; Sharma und Salend 2016). Dies unterstreicht der bislang umfassendste Review zum Thema. Er basiert auf den Resultaten von 61 Studien zum Einsatz von Assistenzpersonen in inklusiven Unterrichtssettings aus elf Ländern, die im Zeitraum 2005–2015 in englischsprachigen Journals veröffentlicht wurden (Sharma und Salend 2016). Die Autor*innen des Reviews stellen im Ergebnis heraus, dass Schulbegleitung dazu führen könne, dass Kinder und Jugendliche mit Beeinträchtigungen weniger mit ihren Lehrkräften – die sich auch weniger für die Bildung aller Schüler*innen zuständig ansähen – und weniger mit ihren Klassenkamerad*innen interagieren würden, und dass Stigmatisierung, Isolation und Abhängigkeit von Erwachsenen auf Seiten von jungen Menschen mit Beeinträchtigungen befördert würde (vgl. Sharma und Salend 2016, S. 128).

In den vorliegenden deutschsprachigen qualitativen Studien zu Schulbegleitung scheint sich dies widerzuspiegeln. So macht z. B. Blasse (2017, S. 111) im Ergebnis ihrer ethnografischen Unterrichtsbeobachtungen darauf aufmerksam, dass zwischen Schüler*innen und Lehrkräften vermittelnde Tätigkeiten seitens der Assistenzpersonen im Unterricht zwar durchaus notwendig sein könnten. Jedoch, so die Autorin, „geht mit diesen stellvertretenden, überbrückenden, verbindenden Aktivitäten einher, dass die betreffenden Schüler/innen als anders, besonders oder hilfsbedürftig markiert werden. Es wird eine Differenz erzeugt zwischen Schüler/innen mit und ohne Schulbegleitung, die sich auch auf das soziale Miteinander auswirkt“ (Blasse 2017, S. 111).

Ehrenberg und Lücke (2017) arbeiten als Resultat von Gruppendiskussionen, die sie mit Mitschüler*innen von begleiteten Grundschulkindern geführt haben, heraus, dass ein einzelfallbezogener Einsatz von Assistenzpersonen im Unterricht von diesen als exklusiv, normabweichend, kontrollierend und sozial erwünschtes Verhalten gegenüber dem begleiteten Kind hervorrufend erfahren werde (Ehrenberg und Lücke 2017, S. 43). Lindmeier und Ehrenberg (2019, S. 148) konstatieren davon ausgehend, dass „sowohl die passive Anwesenheit als auch die aktive Intervention die Reziprozität von Peerinteraktionen, die Eigenständigkeit und Selbstbestimmung der Kinder und das Ge- oder Misslingen der Interaktion beeinflussen [können]“.

Welche Schlussfolgerungen lassen sich aus der Forschungslage zum Einsatz von Assistenzpersonen in der Schule ziehen? Zunächst ist festzustellen, dass die bislang vorliegenden Erkenntnisse zu Schulbegleitung, mit vereinzelten Ausnahmen, aus unterrichtsbezogenen Forschungen hervorgegangen sind. Graßhoff et al. (2019, S. 216) haben mit Blick auf Ganztagsangebote darauf aufmerksam gemacht, dass der Unterricht und das außerunterrichtliche Schulgeschehen jeweils eigenen praktischen Logiken folgen. Dies kann aus unserer Sicht auch für Situationen wie z. B. die Pause, das Warten auf den Fluren des Schulgebäudes, bevor ein Raum aufgeschlossen wird oder die Klassenfahrt angenommen werden. Es gibt jedoch Überschneidungen in den Teilnehmerschaften sowie Programmelemente des Ganztags, die durchaus als „unterrichtsnah“ (Graßhoff et al. 2019, S. 214) betrachtet werden können insofern, als dass sie „neben einer didaktisierten Auseinandersetzung mit einer zu lernenden Sache und einer zielgerichteten Gesprächsführung bzw. zeitlichen Durchstrukturierung des Ablaufs auch auf die Leistungsdimension bezogen sind“ (Graßhoff et al. 2019, S. 214). Der Alltag in modernen Schulen ist zudem durch zunehmend fluidere Übergänge, wie z. B. den sogenannten Offenen Anfang des Unterrichts, gekennzeichnet. Trotz ihrer Unterrichtszentriertheit können vorliegende Forschungen zu Schulbegleitung daher wichtige Hinweise zur Beantwortung der Fragestellung dieses Beitrags geben.

Die skizzierten Befunde legen in ihrer Zusammenschau nahe, dass Schulbegleitung zum einen in unterschiedlichen Varianten erfolgt, zum anderen weitgehende, und potenziell negative Auswirkungen für Interaktionen zwischen Peers und die Teilhabe von jungen Menschen mit Beeinträchtigungen an der schulischen Peer-Kultur haben kann. Insbesondere die physische Nähe zwischen Assistenzperson und begleitetem jungen Menschen scheint einen Einfluss auf die Konsequenzen der Maßnahme für Kinder und Jugendliche zu haben.

Während Beschreibungen von Tätigkeiten von Assistenzpersonen im Klassenzimmer und davon existieren, welche Rollen sie im Unterricht einnehmen, liegen bislang keine Studien vor, die die Frage fokussieren, was sie und weitere, in die Praxis des Begleitens und ihre Folgen involvierte Personengruppen – wie u. a. Schüler*innen, Lehrkräfte und pädagogische Mitarbeitende in Ganztagsangeboten – in Situationen außerhalb des Unterrichts alltäglich tun und welche Folgen ihr Einsatz hat. Lassen sich im außerunterrichtlichen Schulgeschehen, das für Peer-Interaktionen und die Peer-Kultur hochrelevant ist, ähnliche Formen und Konsequenzen des Begleitens finden? Können wir mit unserer Forschung im außerunterrichtlichen Schulgeschehen die bisher gefundenen Formen und Konsequenzen möglicherweise erweitern? Bevor in der Darstellung unserer Ergebnisse diese Frage aufgegriffen wird, werden im Folgenden zunächst die theoretischen und methodologischen Zugänge sowie die Vorgehensweise in der Studie vorgestellt.

3 Begleiten als Alltagspraxis: Theoretische und methodologische Zugänge

Der Forschungszugang der vorgestellten Studie beruht auf ethnomethodologischen Überlegungen. Er ist zudem inspiriert von Ansätzen der ethnografischen Kindheits-, schulischen Peerkultur- sowie Differenzforschung (z. B. Kelle und Breidenstein 1996), die sich im weitesten Sinne als praxistheoretisch gerahmt kennzeichnen lassen.

Garfinkel (2020 [1967]) hat auf den Umstand aufmerksam gemacht, dass eine uns als rational und objektiv gegeben erscheinende Wirklichkeit in Prozessen der Interaktion als praktische Herstellungsleistung hervorgebracht wird und dabei soziale Ordnung (re-)produziert wird. Die Ethnomethodologie zielt darauf, diese Prozesse und die im Vollzug alltäglicher Aktivitäten zur Anwendung kommenden Methoden, mithin „die als selbstverständlich hingenommenen Strukturen unserer Alltagswelt sichtbar zu machen“ (Weingarten et al. 1976). Dementsprechend gehen wir in unserer Studie davon aus, dass Schulbegleitung nicht einfach da ist, etwa, sobald eine Assistenzperson sich in einer Schulmensa oder auf dem Pausenhof aufhält. Schulbegleitung muss vielmehr in spezifischer Weise getan werden, um als solche überhaupt praktisch wirksam, d. h. von Beteiligten in Situationen wahrgenommen und benannt werden zu können und für weitere Aktivitäten anschlussfähig zu sein.

Unser Zugang basiert darüber hinaus auf dem Grundgedanken der Praxistheorie, die „Handlungen nicht isoliert betrachtet, sondern als einen Zusammenhang begreift“ (Schäfer 2016, S. 11). Schatzki (2002, S. 88) beschreibt Praktiken als „nexuses of doings and sayings“. Daraus folgt für unseren Forschungsgegenstand, dass Assistenzpersonen nicht allein Schulbegleitung tun. Vielmehr sind daran neben Assistenzpersonen und Schüler*innen auch Lehrkräfte, sonderpädagogische Fachkräfte, Sozialarbeitende, Erzieher*innen und weitere Personen ebenso wie nicht-menschliche Partizipanden bzw. Aktanten und Dinge – wie z. B. das Mobiliar in einem Ganztagsraum – beteiligt, die miteinander interagieren und so situations- und kontextspezifische Formen und Folgen von Schulbegleitung hervorbringenFootnote 1. Praktiken, mit denen Schulbegleitung hervorgebracht wird, sind darüber hinaus mit anderen Praktiken, wie z. B. dem Pause machen, verknüpft bzw. verkettet (Schatzki 2016, S. 33).

In dem Ansatz des Un/doing Differences (Hirschauer 2014) erfährt die Ethnomethodologie eine praxistheoretische Zuspitzung mit Blick auf Praktiken, mit denen soziale Differenzierungen zwischen Menschen – wie etwa ‚Mädchen‘, ‚Junge‘, ‚Kind‘ ‚mit Migrationshintergrund‘ oder ‚Beeinträchtigung‘ – in situ sozial hergestellt werden. Hirschauer zufolge können solche „Humandifferenzierungen“ (2014) aber auch wieder in den Hintergrund rücken bzw. neutralisiert werden. Ausgehend von den Hinweisen auf Prozesse der Herstellung von Differenz in vorliegenden Forschungsergebnissen zur Schulbegleitung ist dieser Aspekt für das Forschungsinteresse der Studie, aus der wir in diesem Beitrag Ergebnisse präsentieren, hochbedeutsam.

Ein aus Sicht der Praxistheorie darüber hinaus wichtiger Aspekt, der hier erwähnt werden soll, besteht nicht zuletzt im Unterschied zwischen Handlungen und Praktiken. Handlungen können als Aktivitäten verstanden werden, die intentional erfolgen oder mit Motiven verknüpft sind (Schütz und Luckmann 2003). Praktiken sind begrifflich, wie Hirschauer (2004, S. 73) es formuliert, tiefergelegter, elementarer als Handlungen, und gehen diesen voraus. Praktiken verweisen damit auf das, was nicht intendiert ist. Sie bringen soziale Ordnung hervor, die auch anders gedacht sein kann. D. h. Praktiken müssen nicht im Einklang stehen mit den Intentionen der Handelnden, dem, was gemacht werden soll und als normativ erstrebenswert angesehen wird. Alle Menschen agieren im Alltag auf der Grundlage impliziter Wissensordnungen, die in Praktiken ihren Ausdruck finden. Wie und mit welchen Folgen Schulbegleitung von den Beteiligten in Situationen als alltägliche Praxis vollzogen und ausgestaltet wird, welche Differenzen dabei hervorgebracht werden oder auch nicht und wie welche soziale Ordnung darüber (re)produziert wird, ist Gegenstand unserer ethnografisch teilnehmenden Beobachtungen und Analysen.

4 Vorgehensweise in der Datenerhebung und Auswertungsstrategie

Unsere Studie war ethnografisch angelegt, da sich dieser Forschungsstil für die Beschreibung von Praktiken und die Entdeckung der ihnen zugrundeliegenden sozialen Ordnungen besonders anbietet. Die von uns gewählte Forschungsstrategie einer (pädagogischen) Ethnografie basierte dabei wesentlich auf den Überlegungen von Amann und Hirschauer (1997) sowie Zinnecker (1995). In der praktischen Umsetzung stützten wir uns auf die Ausführungen von Breidenstein et al. (2015). Leitend für die empirische Herangehensweise war dementsprechend für uns die Logik des Feldes. Im Zentrum stand die Beschreibung und das Verstehen – nicht die Bewertung – und Analyse von Situationen und Interaktionen, durch teilnehmende Beobachtungen im Rahmen ausgedehnter Feldaufenthalte.

Das Sample der Studie umfasste schwerpunktmäßig Situationen außerhalb des Unterrichts an zwei Offenen Ganztagsgrundschulen sowie ergänzend an einer weiterführenden Schule. Die drei Schulen lagen in verschiedenen deutschen Städten in zwei Bundesländern. Die Organisation von Schulbegleitung erfolgte in den Schulen unterschiedlich: Während in einer der Grundschulen und der weiterführenden Schule jeweils das Modell einer 1:1-Begleitung durch Assistenzpersonen verschiedener Träger umgesetzt wurde, gab es an der zweiten Grundschule ein Projekt, in dem die Assistenzleistungen für mehrere Schüler*innen zusammengefasst und von der Schule organisiert wurden (sog. Pool-Lösung). Die Assistenzpersonen waren dort Teil des Ganztagsteams.

An den beiden Offenen Ganztagsgrundschulen, die den Schwerpunkt der Ausführungen in diesem Beitrag bilden, führten wir die Studie in zwei Feldphasen im Zeitraum von April 2018 bis November 2019 durch. An insgesamt 49 Tagen vor Ort wurden dabei ethnografisch teilnehmende Beobachtungen in folgenden Situationen durchgeführt: Während der Pausen (Hofpausen, Frühstückspausen), beim Mittagstisch, in der Ganztagsbetreuung (Hausaufgaben, offene Angebote, AGs), bei (Sport‑)Festen, Ausflügen, Klassenfahrten und Schulaktionen, auf dem Schulhof oder im Schulgebäude vor oder nach Beginn des Unterrichts- bzw. von AGs, auf dem Schulweg sowie, da uns auch Kontraste zum und Übergänge in den Unterricht interessieren, auch dort. Die Dauer der Aufenthalte im Feld variierte dabei zwischen einigen Stunden und gesamten Schultagen.

Während der teilnehmenden Beobachtungen wurden Feldnotizen angefertigt. Wir arbeiteten klassisch mit Stift und Notizbuch und hielten möglichst detailliert die aus unserer Sicht „key components of observed scenes, events or interactions“ (Emerson et al. 2011, S. 31) fest. Dies erforderte mitunter, da wir als Teilnehmende in den unterschiedlichsten Situationen beobachteten und beobachtend teilnahmen, „das Schreiben notwendig aus der beobachteten Situation in die Nischen des Beobachtungsalltags (stille Orte wie Flure, Treppenhäuser, Autos, Toiletten)“ (Breidenstein et al. 2015, S. 102) zu verlagern.

Die Feldnotizen wurden im direkten Anschluss an die Feldaufenthalte „im ständigen Bemühen um eine Rekonstruktion der Teilnehmerperspektive“ (Breidenstein et al. 2015, S. 177) zu Beschreibungen des Alltagsgeschehens ausgearbeitet. Dies geschah im Bewusstsein, dass sie als ethnografische Texte allein unsere Perspektiven als Ethnograf*innen auf Situationen widerspiegeln, die wiederum von unseren eigenen sozialen Positionierungen in gesellschaftlichen Machtverhältnissen nicht ablösbar sind.

Angelehnt an die Methodologie der Grounded Theory (Strauss und Corbin 1996) beinhaltet das gewählte Auswertungsverfahren mehrfache Materialdurchgänge, in denen mittels Codierpraktiken, theoretical sampling und Fallanalysen das erzeugte Datenmaterial analysiert und die entwickelten Schlüsselbegriffe und -konzepte dimensionalisiert werden. Bereits bei der Ausarbeitung der Feldnotizen zu den Alltagsbeschreibungen wurden erste analytische Ideen in Form von „analytical notes“ (Breidenstein et al. 2015, S. 120) festgehalten. Die Alltagsbeschreibungen wurden offen kodiert (Strauss und Corbin 1996), um sie so für die weitere Analyse zugänglich zu machen. In einer kontinuierlichen Interpretationsgruppe wurden nach dem Prinzip des theoretical sampling ausgewählte Sequenzen aus den Alltagsbeschreibungen interpretiert. Im Verlauf des Projektes wurde deutlich, dass das umfangreiche Material nicht mit einer Kernkategorie erschlossen werden konnte, sondern mehrere empirische Phänomene gesondert bearbeitet wurden. So wurden mit Blick auf die in diesem Beitrag präsentierten Befunde alle Textpassagen zusammengestellt, die den Formen des Begleitens zugeordnet werden konnten. Dieser Schritt, ebenso wie die anschließende axiale Kodierung, wurde durch das Schreiben von Memos (Strauss und Corbin 1996) begleitet und befördert. Ein Bestandteil der Interpretationsarbeit in der Forschungsgruppe bestand nicht zuletzt darin, die beobachteten Formen des Begleitens hinsichtlich möglicher Folgen für die Beteiligten in Interaktionssituationen zu erwägen. In Fallanalysen (Breidenstein et al. 2015, S. 158 ff.) wurden Charakteristika von zwei Formen des Begleitens, die schließlich als das Boot sowie das unsichtbare Band bezeichnet wurden, in Form von verdichteten Beschreibungen detailliert herausgearbeitet. Die Auswahl erschien aufgrund der Kontraste dieser Formen besonders geeignet, um sich Aspekten des Begleitens als Alltagspraxis im außerunterrichtlichen Schulgeschehen verstehend anzunähern. Ausgehend von den Resultaten der empirischen Analyse erfolgte in einem letzten Schritt die theoretische Kontextualisierung im Sinne des ‚Anlegens‘ und damit Herstellens von theoretischen Bezügen, wobei wir auf spezifische Aspekte der Stigma-Theorie von Goffman (1967) und der Mimesistheorie (Gebauer 1997; Wulf 1994) aufmerksam wurden, die sich für die Kontextualisierung der im empirischen Material gefundenen Formen des Begleitens als produktiv erwiesen.

5 Ergebnisse

Schulbegleitung wird von den Beteiligten im außerunterrichtlichen Schulgeschehen durch vielfältige Aktivitäten in unterschiedlicher Weise praktisch ausgestaltet. Anschaulich zeigt sich dies bereits bei einem kursorischen Einblick in Alltagssituationen außerhalb des Unterrichts:

  • So sind Kinder, denen eine Assistenzperson zugeordnet ist, in der großen Pause beispielsweise mit diesen, allein oder mit ihren Mitschüler*innen auf dem Schulhof unterwegs und spielen, während sich Assistenzpersonen in einiger Entfernung von ihnen ebenfalls auf dem Schulhof aufhalten und sie beaufsichtigen oder sich im Teamraum im Schulgebäude befinden.

  • In Essenssituationen bereiten Assistenzpersonen z. B. das gesunde Frühstück für alle Kinder einer Klasse zu oder sie zerkleinern beim Mittagstisch in der Schulmensa Mahlzeiten.

  • In Angeboten der Ganztagsbetreuung und bei Schulaktionen werden Kinder von Assistenzpersonen mitunter motiviert und ermuntert, an künstlerischen Choreografien in Proben und Darbietungen von AGs oder sportlichen Wettkämpfen mitzuwirken und dafür gelobt, wenn sie dies tun. Wenn sie sich nicht so verhalten, wie es erwünscht wird, werden sie ermahnt, und sie sitzen mit Assistenzpersonen an den Hausaufgaben. Assistenzpersonen nehmen z. B. auch mit der Stoppuhr die Zeit beim 50-m-Sprint während des Sportfestes oder laufen beim Langstreckenlauf mit Kindern gemeinsam über die Ziellinie; sie führen die Ausleihkartei in der Schulbücherei und die Namensliste darüber, welche Kinder in welchen Ecken im Ganztagsraum gerade spielen, die, wenn die Zeit dafür vorbei ist, dort wieder aufräumen müssen.

  • Vor- und nach dem Unterricht oder Angeboten der Ganztagsbetreuung tragen Assistenzpersonen auch mal die Tornister von begleiteten Kindern oder stellen deren Schuhe im Garderobenregal ab.

Im Folgenden wird exemplarisch näher betrachtet, wie einige dieser Aktivitäten wiederholt in Pausen‑, Warte‑, Mittagessens‑, Ganztagsbetreuungs‑, AG-, Schulaktions- und Ausflugssituationen mitunter realisiert werden. Im Laufe des Geschehens werden dadurch kontingente, analytisch unterscheidbare Formen von Begleitung hervorgebracht, die im Alltag prozesshaft ineinander übergehen.

Zwei dieser Formen werden nun vorgestellt. Für ihre Benennung haben wir im Ergebnis unserer Beobachtungen Metaphern verwendet, um mithilfe von Bildern zu versprachlichen, was im Feld passiert, aber nicht gesagt wird (vgl. Breidenstein et al. 2015, S. 160). Anhand von Ausschnitten aus dem Datenmaterial wird im Folgenden zunächst eine Form des Begleitens rekonstruiert, die wir das Boot genannt haben, und anschließend eine Form, die wir als das unsichtbare Band bezeichnen. Die Metapher des Bootes ist in Auseinandersetzung mit dem Bild der Insel von Giangreco (2003) entstanden, das er im Zusammenhang der unterrichtszentrierten Schulbegleitungsforschung erarbeitet hat. Die Metapher des unsichtbaren Bandes kennzeichnet eine Form des Begleitens, die im Forschungsfeld unserer Kenntnis nach bislang noch nicht diskutiert worden ist.

5.1 Das Boot

Als Boot kann eine Form der Begleitung bezeichnet werden, die insbesondere von einer vergleichsweise engen physischen Nähe zwischen Assistenzpersonen und begleiteten Kindern bei einer im Verhältnis größeren Distanz zu anderen Personen in einer Alltagssituation gekennzeichnet ist. Giangreco (2003) hat, wie beschrieben, darauf hingewiesen, dass sich durch körperlich-räumliche Nähe „Inselbeziehungen“ (Giangreco 2003) bilden könnten. Mit der Metapher des Bootes, das im Strom des Schulgeschehens unterwegs ist, wird gegenüber der Insel eine größere Beweglichkeit und Veränderbarkeit angezeigt. Verlassen wir das Klassenzimmer und betreten den weiteren Raum des Schulgeländes, in dem der Radius für Unternehmungen größer ist, um in den Blick zu nehmen, was während der Pause geschieht:

Schulassistentin Heidi kommt mit Noah über den Schulhof. Sie spricht mit ihm, während sie ihn an der Hand hält. Über was sie reden, kann ich nicht hören. Etwa zeitgleich kommen Schulassistentin Bärbel und Hedda vorbei. Bärbel, die Hedda ebenfalls an der Hand nimmt, sagt zu ihr, dass sie jetzt noch ein bisschen über den Schulhof gehen würden. Dann schelle es ja gleich. Dann sei die Pause zu Ende und dann „gehen wir rein.“ Es schellt und die Kinder gehen auf das Schulgebäude zu. Die beiden Schulassistentinnen gehen mit den beiden Kindern fast nebeneinander her, ohne miteinander zu reden oder sich anzusehen. Heidi hält Noah an der Hand bis sie das Schulgebäude betreten. Bärbel lässt Hedda einige Meter vor der Eingangstür los und Hedda läuft in das Gebäude. Bärbel folgt ihr langsam und wird dann vor dem Betreten des Gebäudes von einer Kindergruppe angesprochen. Sie bleibt einen Moment stehen und redet mit den Kindern. Dann geht sie weiter in Richtung Schulgebäude.

Zuweilen wird die Geste des Händchenhaltens zwischen besten Freundinnen oder von Liebespaaren vollzogen, die auf diese Weise beim Flanieren engste emotionale Verbundenheit signalisieren. Auch ist das An-die-Hand-Nehmen durch Ältere üblich in der Betreuung von sehr jungen Kindern, die ihre ersten Schritte lernen und dadurch vor Risiken geschützt werden, etwa solchen, die das Hinfallen oder der Straßenverkehr bereithalten. Wenn Kinder in Bildungsinstitutionen, z. B. bei Ausflügen, eine Zweier-Reihe bilden, gehen sie zwar eng nebeneinander her, tun dies jedoch nach der frühen Schuleingangsphase üblicherweise nicht mehr, in dem sie sich währenddessen gegenseitig an den Händen festhalten. In der beschriebenen Episode bilden sich durch diese Geste inmitten des Geschehens auf dem Schulhof während der Pause zwei Dyaden, die aus jeweils einer erwachsenen Assistenzperson und einem Kind bestehen. Während Noah von Beginn der Episode an von Heidi an der Hand gehalten wird, nimmt Bärbel in ihrem Verlauf auch Hedda an die Hand. Der dadurch hergestellte körperliche Kontakt zwischen den Assistenzpersonen und den Kindern könnte beim Gehen über den Schulhof kaum enger sein. Die Nähe ließe sich währenddessen allein noch steigern, indem sie Arm-in-Arm gingen oder eine Person die andere tragen würde.

Die Geste geht hier jeweils von den Assistenzpersonen Heidi und Bärbel aus. Sie sind auch diejenigen, von denen sich aus Äußerungen an Noah und Hedda richten. Bärbel erklärt Hedda, was zu tun sei, und bestimmt damit, was als nächstes getan werden wird, wobei sie mit ihrem Hinweis auf das nahende Schellen die Rituale der schulischen Zeitordnung (vgl. dazu Kalthoff 1997, S. 74) aufruft. Noah und Hedda erscheinen in der Episode zunächst passiv, bis Hedda die erste Gelegenheit ergreift, als Bärbel sie loslässt: Daraufhin löst sich Hedda direkt aus dem Arrangement und läuft in das Gebäude. Dass Bärbel ihr nur langsam folgt, ließe sich als situative Unterstützung von Heddas Autonomie(bestrebung) lesen. So lange, wie das Händchenhalten anhält, besteht kein Kontakt zu den Peers von Noah und Hedda, die sich zeitgleich auf dem Schulhof aufhalten. Als Hedda sich von Bärbel getrennt hat und wie die anderen Kinder in das Schulgebäude läuft, spricht eine Kindergruppe Bärbel an.

Für die Bezeichnung der in dieser Situation hervorgebrachten Form der Begleitung käme auch das Bild einer „bubble of paraprofessional support“ (Malmgren und Causton-Theoharis 2006, S. 310) in Frage, das sich mit „Assistenzblase“ oder „Inklusionsblase“ einigermaßen passend, jedoch etwas umständlich klingend aus dem Englischen übersetzen ließe, weshalb wir uns für die Metapher des Bootes entschieden haben. In der beschriebenen Situation befinden sich das Arrangement der Dyaden aus jeweils einer Assistenzperson und einem Kind in Bewegung. Diese ähneln damit gewissermaßen zwei kleinen Booten, die jeweils zwei Personen Platz bieten. Der Strom der Ereignisse im Geschehen auf dem Pausenhof wird von ihnen nebeneinander gleichsam durchquert. Bleibt man in diesem Bild, lässt sich die Auflösung der Dyade von Hedda und Bärbel als Aus- und Umsteigen in andere Wasserfahrzeuge verstehen, die ebenfalls im fließenden Schulgeschehen unterwegs sind, das in der beschriebenen Situation von der Pause auf den Übergang zum Unterricht hin zuläuft.

Das Boot tritt auch in anderen Alltagssituationen in Erscheinung. Wir betrachten im Folgenden Aspekte der Sitzplatzwahl beim Mittagessen, der in peerkultureller Hinsicht Bedeutung zukommt (vgl. Adio-Zimmermann et al. 2019, S. 87). In der Schulmensa materialisiert sich zuweilen das Boot als durch Nähe hervorgebrachte Form der Begleitung nicht durch die Geste des An-die-Hand-Nehmens, sondern die spezifische räumliche Anordnung und die Nutzung des Mobiliars. Mittels der Tische und Stühle in der Schulmensa wird das Boot gewissermaßen festgemacht. Dies zeigt sich zum Beispiel, indem beim Mittagessen regelmäßig, wenn auch nicht immer, mehrere Kinder mit den ihnen zugeordneten Assistenzpersonen gemeinsam an einem Gruppentisch sitzen, wodurch sich dieser Gruppentisch von den anderen Gruppentischen in der Schulmensa unterscheidet, an denen seltener Erwachsene sitzen. In Form des Bootes wird dabei eine soziale Differenzierung prozessiert. Dies spiegelt sich in der folgenden Episode aus einer Mittagessenssituation, in der eine kindliche Sichtweise auf die von enger körperlich-räumlicher Nähe gekennzeichneten Dyaden aus Assistenzpersonen und begleiteten Kindern expliziert wird:

Zusammen mit fünf Mädchen im Alter von 7–9 Jahren sitze ich am Tisch im Essensbereich. Alle essen schweigsam ihr Mittagessen. Nur hin und wieder führen die Kinder ein kurzes Gespräch. Elisa sieht mich kurze Zeit später an und fragt: „Warum sitzt du hier?“ Ich stutze und überlege, ob sie jetzt meint, dass ich jemand anderem einen Platz weggenommen habe, doch sie fährt fort: „Bist du ein Betreuer?“ Verständnislos sehe ich sie an, da ich nicht weiß, was sie genau meint. Ich überlege, ob sie denkt, dass ich eine OGS-Mitarbeiterin bin. Sie beugt sich mit dem Oberkörper ganz leicht in meine Richtung und fragt mit gedämpfter Stimme: „Bist du ein Betreuer von einem hier am Tisch?“ Die anderen am Tisch sind weiter ins Essen vertieft.

Eine feste Sitzordnung beim Mittagessen gibt es an der Schule nicht; nur die Kinder gingen natürlich vor, hatte eine mit der Organisation des Mittagessens betraute OGS-Mitarbeiterin der Ethnografin – hier ist es einer der ersten Tage ihres Feldaufenthaltes – zuvor erklärt. Auf Elisas Frage reagiert die Ethnografin verunsichert: Hat sie vielleicht gegen eine ihr unbekannte Regel der Sitzordnung verstoßen, gar einen Platz eingenommen, der ihr nicht zusteht? Während sie mit einer Antwort noch zögert, hakt Elisa noch mal nach. Es versteht sich für sie nicht von selbst, dass eine unbekannte erwachsene Person an dem Gruppentisch, an dem sie selbst sitzt, Platz nimmt. Bei ihrer konkretisierenden Nachfrage, die das fortlaufende Zögern der Ethnografin, eine Antwort zu geben, unterbricht, signalisieren ihre zugewandte, in reduzierter Lautstärke vollzogene Sprechweise, dass sie von den anderen Mädchen am Tisch nicht gehört werden, somit kein Aufsehen erregen soll. Ihre Frage könnte demnach mit dem Aufdecken von etwas, das nicht aufgedeckt werden soll, wenn nicht gar dem Enthüllen eines Geheimnisses verbunden sein. Ob die Ethnografin eine Betreuerin ist, konnte zuvor noch in regulärer Lautstärke gefragt werden, denn zuweilen sitzen auch die Mitarbeitenden der OGS, die keine Assistenzpersonen sind, an Gruppentischen von Kindern, etwa, wenn sie dazu von den Kindern im Vorfeld aufgefordert oder eingeladen worden sind, so wie es der Ethnografin bei ihren weiteren Feldaufenthalten ebenfalls ergehen wird. Möglicherweise einen Betreuer zu haben wird durch die Sprechweise von Elisa jedoch mit besonderer Relevanz ausgestattet. Es könnte eine Begründung dafür sein, warum Erwachsene an einem Gruppentisch sitzen, und wird hier als ein Thema transportiert, über das offenbar nicht selbstverständlich in einer transparenten Weise, in einer am Mittagstisch üblichen Lautstärke, gesprochen werden kann.

Denn im Unterschied zu dem Betreuungsverhältnis zwischen OGS-Betreuer*innen und den Schulkindern handelt es sich bei dem Betreuungsverhältnis, auf das Elisas konkretisierende Nachfrage abzielt, um die Betreuung von Einem, also ein Betreuungsverhältnis zwischen einem Betreuer und einem einzelnen Kind. Falls ihre Frage von der Ethnografin bejaht werden sollte, könnte dies jemanden am Tisch folglich als Einen kennzeichnen, der betreut wird; als Einen, der einen eigenen Betreuer hat, der ihn in einer anderen Weise betreut, als es die OGS-Betreuer*innen allgemein mit Blick auf Alle tun; um eine Betreuung, die sich speziell auf diesen Einen richtet; und d. h. damit auch den Einen als Einen kennzeichnet, der eines solchen eigenen Betreuers und einer anderen, speziellen Betreuung bedarf. Elisa stellt sicher, dass sich diese Information nicht verbreitet. Sie setzt mit ihrer Äußerung voraus, dass es sich bei dem betreuten Einen um jemanden am Tisch handeln muss. Dies impliziert ihre Erwartung, dass sich in körperlich-räumlicher Nähe zu einem Betreuer auch der bzw. die Eine befindet, der bzw. die von diesem betreut wird, was dem Geschehen in der Schule, in der das Boot als Form der Begleitung alltäglich beobachtet werden kann, entspricht.

Mit der prozessierten körperlich-räumlichen Nähe von Assistenzpersonen und begleiteten Kindern vollzieht sich somit eine Praxis des Unterscheidens (Hirschauer 2014) zwischen Kindern ohne Betreuer*innen und Kindern mit Betreuer*innen. Diese Unterscheidung ist für schulische Peers relevant und von Interesse. Über die Frage, ob eine Person ein Betreuer von einem hier am Tisch ist, kann man jedoch nicht offen sprechen. Denn es würde bedeuten – wenn wir den empirischen Befund mit Goffman (1967) stigmatheoretisch kontextualisieren –, dass man gegen Interaktionskonventionen verstoßen und den Einen möglicherweise sozial diskreditieren würde. Begründen lässt sich dies durch den „informierenden Charakter der ‚Mit‘-Bezogenheit in unserer Gesellschaft“ (Goffman 1967, S. 63). Goffman zufolge kann „unter bestimmten Umständen die soziale Identität derer, mit denen ein Individuum zusammen ist, als eine Informationsquelle über seine eigene soziale Identität benutzt werden“ (Goffman 1967, S. 63). Assistenzpersonen können vor diesem Hintergrund zu „Stigmasymbolen“ (Goffman 1967, S. 59) werden; zu „Zeichen nämlich, die besonders wirksam darin sind, Aufmerksamkeit auf eine prestigemindernde Identitätsdiskrepanz zu lenken, und die ein andernfalls kohärentes Gesamtbild durch konsequente Reduktion unserer Bewertung des Individuums zerbrechen lassen“ (Goffman 1967, S. 59). Die durch eine enge körperlich-räumliche Nähe von Assistenzpersonen und Kindern prozessierte Begleitform des Bootes bringt einzelne Kinder als Betreute hervor und stellt ihre volle und wirksame Teilhabe am alltäglichen sozialen Miteinander im Hinblick auf Peer-Interaktionen in Frage.

5.2 Das unsichtbare Band

Die Begleitform des unsichtbaren Bandes wird in Situationen außerhalb des Unterrichts hervorgebracht, in denen zwischen Assistenzpersonen und Kindern eine räumliche Distanz besteht und körperliche Aktivitäten wie zum Beispiel Tanzen, Singen oder Laufen Bestandteile einer vorgegebenen Aufgabe sind. In solchen Situationen bewegen sich Assistenzpersonen zuweilen in einer Weise, die der der Kinder ähnlich ist bzw. der ähnlich ist, welche die Kinder gemäß des Arbeitsauftrags vollziehen sollen.

Dies wird im Folgenden anhand einer Episode rekonstruiert, die sich in einer AG mit künstlerisch-musikalischem Schwerpunkt in einem Probenraum abspielt. Die Beteiligten in der Situation – Schulkinder, der AG-Leiter Manfred, die Assistenzperson Britta Probst und die Ethnografin – setzen sich zunächst auf Stühle, die zu einem Kreis zusammengestellt worden sind. Betrachten wir zunächst den Beginn der dann folgenden Szene:

Ganz am Anfang sagt Manfred, sie hätten heute „Besuch“. „Die Frau Probst“, sagen die Kinder, und meinen damit Britta. Manfred sagt, ja, Frau Probst, „unsere stille Teilhaberin ist da“.

Während der AG-Leiter die Kinder darauf aufmerksam machen möchte, dass an diesem Tag die Ethnografin anwesend ist, wird seine Äußerung von den Kindern anders interpretiert. Für sie ist es naheliegender, dass sich Manfreds Hinweis auf „Besuch“ auf die Assistenzperson Britta Probst bezieht. Als „Besuch“ bezeichnet man üblicherweise jemanden, der nur über einen begrenzten Zeitraum an einem bestimmten Ort anwesend ist bzw. eine Person, die von außen dazu kommt, an einen Ort, der nicht ihr eigener ist. Sie ist nicht selbstverständlicher Teil einer Gruppe, sondern wird diese wieder verlassen. Das sich mit dem Begriff „Besuch“ konnotierende Passive und Zurückgenommene wird in der Reaktion des AG-Leiters, der die Assistenzperson als „stille Teilhaberin“ bezeichnet und damit einen Begriff verwendet, der ursprünglich aus der Wirtschaft kommt, auf die Äußerung der Kinder bestätigt.

Auf diesen Einstieg folgen Äußerungen, in denen deutlich wird, dass Manfred mit seinem Hinweis auf „Besuch“ nicht die Assistenzperson Britta, sondern die Ethnografin gemeint hat, die zum ersten Mal in der AG anwesend ist. Dann machen sie Aufwärm- und Stimmübungen mit musikalischer Begleitung:

Die Probe beginnt damit, dass Manfred die Kinder auffordert, sich hinzustellen. Mit jeweils ausgebreiteten Armen Abstand voneinander zu halten. Die Kinder stellen sich hin. Manfred sagt, dass sie nicht im Kreis stehen müssen, sondern dass sie sich durcheinander hinstellen können, aber mit dem Auge, mit dem Blick zu ihm gerichtet bitte. Milan steht auf. Britta ermuntert ihn durch Gesten und Worte, sich auch einen Platz zu suchen. Milan stellt sich schon dazwischen. Er bleibt zwischen den anderen Kindern stehen, und zwar weiter weg von Britta und mir. Milan steht dann in einer kleinen Teilgruppe von vier, fünf Jungs in der Mitte. Er wird in der nächsten Dreiviertelstunde die meiste Zeit, wenn sie stehen, dort stehen bleiben. Gucken. Ab und zu in die Richtung von Britta und mir blicken. Ich sehe Milan nicht an, dass er selber mitsingt. Oder die Choreografien mit macht. Aber er macht auf mich den Eindruck, als würde er das Singen schön finden. Britta bleibt währenddessen sitzen. Von ihrem Sitz aus führt sie die Aufforderungen, die Manfred an die Gruppe richtet, aus. Zum Beispiel singt sie mal mit. Sie macht zum Teil auch die Bewegungen mit. Im Sitzen. Und ist dabei mit ihrem Blick, mit ihrer Aufmerksamkeit, auf Milan gerichtet.

Zunächst ist ein erstes aktivierendes Moment bemerkenswert, das sich in dem Versuch von Britta, mit Gesten und Worten die Resonanz der von Manfred geäußerten Aufgabenstellung zu verstärken, findet. Die sich daran anschließende Begleitform des unsichtbaren Bandes materialisiert sich, in dem Britta auf ihrem Stuhl sitzend und Milan anschauend selbst mitsingt und Teile der Choreografien ausführt. Das begleitete Kind und die Assistenzperson sind hier durch partielle Blickkontakte und indem die Assistenzperson ihren Körper in der Weise bewegt, wie es von den Kindern verlangt ist (Gesang, Choreografien), fast unmerklich miteinander in Verbindung gestellt. Die Bewegungen von Britta sind dabei in mehrfacher Hinsicht nach vorne gerichtet: Einerseits unmittelbar körperlich, in dem sich der Körper und die Blicke der Assistenzperson, aus einer räumlich distanzierten Position, zum begleiteten Kind im Geschehen hin orientieren. Andererseits hat diese Orientierung auch ein zeitliches, in die Vergangenheit und in die Zukunft gerichtetes Moment. Die Assistenzperson ahmt die Bewegungen der anderen Situationsteilnehmenden nach, und macht diese gleichzeitig dem begleiteten Kind vor.

Die Art und Weise, wie die Aktivitäten im Vollzug des unsichtbaren Bandes realisiert werden, kann als eine „mimetische Bezugnahme auf Andere“ (Gebauer 1997, S. 126) theoretisiert werden. Laut Wulf (1994, S. 23) meint der pädagogisch-anthropologische Begriff der Mimesis „nicht nur ‚nachahmen‘, sondern auch ‚sich ähnlich machen‘, ‚zur Darstellung bringen‘, ‚ausdrücken‘, ‚vor-ahmen‘“. Für Fragen der Erziehung, Bildung und Sozialisation sind mimetische Handlungen konstitutiv (Wulf 1994). Wohlgemerkt sind sie „keine bloßen Reproduktionen, die exakt einem Vorbild folgen; in mimetisch vollzogenen sozialen Praxen kommt es zur Erzeugung von etwas Eigenem“ (Wulf 2014, S. 252). Bei der Beobachtung mimetischer Prozesse richtet sich die Aufmerksamkeit zumeist auf Kinder und Jugendliche, die in mimetischen Prozessen als Bezugnehmende aufeinander oder auf Angehörige der älteren Generation perspektiviert werden. Anhand des unsichtbaren Bandes als Form von Schulbegleitung zeigt sich eine spezifische Weise, wie Assistenzpersonen in mimetische Prozesse involviert sind. Das „Eigene[ ]“ (Wulf 2014, S. 252), was durch ihre Aktivitäten in Bezug auf die vollzogenen oder angestrebten bzw. pädagogisch intendierten Aktivitäten begleiteter Kinder hervorgebracht wird, beinhaltet dabei ein aktivierendes Moment. Es ließe sich zum einen als Mitziehen beschreiben, wobei dieser Begriff wiederum impliziert, dass die Aktivitäten der Assistenzpersonen an einer Erzeugung mimetischer Bezugnahmen der von ihnen begleiteten Kinder auf sie orientiert seien. Darüber hinaus beinhaltet die mimetische Aktivierung weitere Komponenten. Dies veranschaulicht die folgende Episode. Sie trägt sich ebenfalls während einer AG mit einem künstlerisch-musikalischen Schwerpunkt zu. Auf einer Bühne proben die Kinder eine darstellerische Darbietung mit musikalischer Begleitung, während die Assistenzperson im Zuschauerbereich sitzt und zuschaut.

Schulassistentin Heidi rückt auf der Bank während der Vorführung immer weiter nach vorne. Ihr Oberkörper bewegt sich leicht hin und her, als wolle sie die Bewegungen auf der Bühne mitmachen. Ihren Oberkörper beugt sie dabei immer weiter nach vorne. Sie scheint mitzufiebern.

Das aus der Episode mit Britta und Milan bereits bekannte Nach-Vorne-Gerichtet-Sein des Körpers der Assistenzperson vollzieht sich auch in Heidis Bewegungen, in dem sie ihren Oberkörper zunehmend nach vorne beugt. Wie sich hier zeigt, kommt noch etwas anderes hinzu. Es drückt sich in dem stärker emotional getönten Begriff des Mitfieberns aus. Dieser verweist auf die von der Ethnografin mit der Wahl dieses Begriffes der Assistenzperson zugeschriebene Hoffnung bzw. den Wunsch, dass das von ihr begleitete Kind die im Rahmen der künstlerischen Darbietungen auf der Bühne ihm gestellten Aufgabe erfüllen möge.

In der mimetischen Begleitform des unsichtbaren Bandes wird somit die Antizipation einer Konnektivität prozessiert; als könnte die Assistenzperson, in dem sie die Aufgaben, die von allen Kindern gemacht werden sollen, selbst erledigt und ausführt, das von ihr begleitete Kind in Bewegung und dazu bringen, dies auch zu tun. Dies geschieht in körperlich-räumlicher Distanz zwischen Assistenzperson und begleitetem Kind über eine nahezu unmerkliche Verbindung sowie emotionale Involviertheit und weitestgehend, ohne das soziale Miteinander der kindlichen Peers unmittelbar zu tangieren.

6 Diskussion

Mit den diversen Formen des Begleitens sind, wie sich zeigt, differente Folgen für das alltägliche soziale Miteinander im außerunterrichtlichen Schulgeschehen verbunden. Begleiten kann in Form des Bootes eine soziale Differenzierung zwischen Kindern hervorbringen, die für diejenigen Kinder, die begleitet werden, aus der Perspektive von Peers stigmatisierend ist. In der Form des unsichtbaren Bandes kann Begleiten ein aktivierendes und ermutigendes Moment haben, das im Hintergrund eines Geschehens bleibt, in dem die Peers agieren. Begleiten als Alltagspraxis in den beiden beschriebenen Formen und ihren Folgen berührt dabei in bemerkenswerter Weise Aspekte von (Un)Sichtbarkeit und Lautstärke bzw. Schweigsamkeit von Interaktionen und Beteiligten in Situationen im alltäglichen sozialen Miteinander im außerunterrichtlichen Schulgeschehen. Sowohl bei dem Boot als auch im Vollzug des unsichtbaren Bandes wird eine Verbundenheit zwischen Assistenzpersonen und begleiteten Kindern prozessiert, die sich hinsichtlich dessen unterscheidet. Einander an den Händen zu halten ist eine tonlose, aber potenziell weithin sichtbare Geste; zu fragen, ob jemand ein Betreuer von einem hier am Tisch ist, traut sich Elisa nur, indem sie leise spricht. Das unsichtbare Band ist selbstverständlich nicht vollständig unsichtbar – sonst könnte es nicht beschrieben werden –, es ist jedoch praktisch kaum sichtbar. Zudem wird es schweigend vollzogen, ist also auch nicht hörbar, wie sich auch in der Bezeichnung von des AG-Leiters Manfred von Frau Probst als stiller Teilhaberin spiegelt. Wie wir ausgehend von den Untersuchungen Goffmans (1967) feststellen können, sind mit potenzieller Visibilität und Audibilität Fragen von (Un)Auffälligkeit in Interaktionssituationen verbunden, deren Relevanz mit Blick auf den Einsatz von Assistenzpersonen in inklusiven Settings zu unterstreichen ist.

Die Formen des Begleitens, die wir gefunden haben, ergänzen die bisherigen Studien zur Schulbegleitung und stellen empirische Anschlüsse auch für unterrichtsbezogene Forschungen bereit. So erweitert das Boot die Inselmetapher von Giangreco (2003), indem es sowohl Dynamiken in Situationen im außerunterrichtlichen Schulgeschehen widerspiegelt als auch heute zunehmend etablierten offenen Unterrichtskonzepten in der Grundschule Rechnung trägt.

Unsere Ergebnisse weisen zudem in die Richtung der Befunde von Graßhoff et al. (2019), denen zufolge sich Ganztagsangebote durch das Kennzeichen der Freiwilligkeit zwar in einem zentralen Aspekt vom Unterricht unterscheiden, jedoch zuweilen in ihrem praktischen Vollzug deutliche Parallelen zu diesem aufweisen können (vgl. Graßhoff et al. 2019, S. 214). Da wir das unsichtbare Band in „eher unterrichtsnah[en]“ (Graßhoff et al. 2019, S. 214) Ganztagsangeboten gefunden haben, nehmen wir an, dass diese Form des Begleitens potenziell auch im Unterricht zu finden sein könnte.

Graßhoff et al. (2019) gehen darüber hinaus davon aus, dass sich die Angebote im Ganztag in ihrer „Eigenlogik“ (Graßhoff et al. 2019, S. 216) einer „vorausschauenden Steuerung und Standardisierung entziehen“ (Graßhoff et al. 2019, S. 216). Auch diesen Aspekt können wir für die Praxis des Begleitens unterstreichen, ist sie doch, wie unsere Ergebnisse zeigen, auf eine flexible Gestaltung verwiesen und erfordert in den Dynamiken des Schulgeschehens ein situatives Agieren.

Die stigma- und auch die mimesistheoretischen Kontextualisierungen der empirischen Befunde konnten wir im Rahmen dieses Beitrags lediglich skizzieren; sie weiter auszuarbeiten, wird Teil zukünftiger Untersuchungen sein. Auf der Basis der bisherigen Analysen ist davon auszugehen, dass die beschriebenen Formen und Folgen in unterschiedlichen Alltagssituationen sich grundsätzlich organisationsunspezifisch finden lassen, wenngleich ihre Realisierung von verschiedenen Bedingungen, wie u. a. dem jeweiligen Konzept und Organisationsmodell von Schulbegleitung an einer Schule – als klassische 1:1-Betreuung oder als Pool-Lösung – beeinflusst wird. Dass wir jene spezifischen Bedingungen, unter denen sich bestimmte Formen und Folgen eher zeigen als andere, sowie ihre Situationsspezifität, Kontingenz und Prozesse von Übergängen zwischen Begleitformen nicht näher beschrieben haben, stellt eine weitere Limitation unserer Befunde dar und wird ebenfalls eine Aufgabe zukünftiger Untersuchungen sein.

7 Fazit und Ausblick

Die Beteiligten in Interaktionssituationen im außerunterrichtlichen Alltag in inklusiven Settings mit Schulbegleitung sind mit Anforderungen konfrontiert, die u. a. organisational, institutionell, rechtlich und politisch gerahmt sind und die sie in der konkreten sozialen Bezugnahme aufeinander handhaben und bewältigen müssen. Die eingangs beschriebenen Spannungsfelder, in denen sich der Einsatz von Assistenzpersonen als soziale Maßnahme im schulischen Kontext etwa in organisationaler Hinsicht oder mit Blick auf die Zuschreibung einer Behinderung bewegt, betreffen den schulischen Alltag also unmittelbar. Nicht zuletzt, da Fragen von Erziehung, Bildung und Sorgetätigkeiten im Allgemeinen, solche, die sich auf Inklusion beziehen, im Speziellen normativ überaus aufgeladen sind, erweist sich ein Forschungszugang, der das Begleiten als Alltagspraxis in den Blick nimmt, als ergiebig. Unsere in diesem Beitrag vorgestellten ethnografischen Beschreibungen und Fallanalysen schlüsseln Interaktionsprozesse auf und tragen dazu bei, anhand der vorgestellten beiden Begleitformen besser verstehen zu können, wie Begleitung im Schulgeschehen außerhalb des Unterrichts als de-zentrierte Praxis getan und hinsichtlich des alltäglichen sozialen Miteinanders in inklusiven Settings praktisch wirksam wird.

Formen und Folgen von Schulbegleitung im Alltag außerhalb des Unterrichts erweisen sich in der empirischen Annäherung als komplex und vielschichtig. Exemplarisch hat sich mit dem Boot ein aus der bisherigen Forschung bekanntes Phänomen – die zentrale Bedeutung körperlich-räumlicher Nähe zwischen Assistenzpersonen und begleiteten Kindern (vgl. Giangreco et al. 1997) – in unseren Felderfahrungen plausibilisiert, das wir in den Mikroprozessen seiner Hervorbringung differenziert beschreiben und weiterentwickeln konnten. Mit dem unsichtbaren Band wird hingegen eine Form des Begleitens zur Diskussion gestellt, die bislang noch nicht thematisiert wurde. Wie an den beiden Formen des Begleitens gezeigt, können Folgen von Schulbegleitung im außerunterrichtlichen Schulgeschehen in Stigmatisierungs- und in mimetischen Prozessen liegen. Die Befunde können damit als ein Beitrag zur weiteren Differenzierung der Diskussion um Varianten von Schulbegleitung und die sozialen Konsequenzen dieser Maßnahme gelesen werden.