Mit ihrer „Förderstrategie für leistungsstarke Schülerinnen und Schüler“ hat die Kultusministerkonferenz (KMK) (2015) dazu beigetragen, ein neues Bewusstsein für die Bedeutsamkeit von Hochleistung und besonderen Begabungen als Thema der Schule und ihrer pädagogischen Praxis zu schaffen. Die KMK nahm die Leistungsergebnisse in internationalen Vergleichsstudien zum Anlass, sich mit der Diagnostik und Förderung von Schülerinnen und Schülern mit besonderen Begabungen und hohen Leistungen intensiver auseinanderzusetzen: „Ein Blick auf den vergleichsweise geringen Anteil von Schülerinnen und Schülern auf den beiden oberen Kompetenzstufen der PISA-Studien bzw. der Ländervergleiche der Kultusministerkonferenz sowohl im Bereich der Naturwissenschaften/Mathematik als auch in Deutsch und Englisch verdeutlicht die Notwendigkeit, die Förderung von leistungsstarken und potenziell leistungsfähigen Schülerinnen und Schülern zu verbessern“ (KMK 2015, S. 3). Überdies wurde 2018 die Bund-Länder-Initiative „Leistung macht Schule (LemaS)“ mit bundesweit 300 Schulen und einer geplanten Laufzeit von 10 Jahren ins Leben gerufen. In dieser Initiative geht es darum, die schulischen Entwicklungsmöglichkeiten von leistungsstarken und potenziell besonders leistungsfähigen Schülerinnen und Schülern zu optimieren. So verwundert es nicht, dass in jüngerer Zeit in der Bildungsforschung vermehrt Fragen der Konzeption, Identifikation und erfolgreichen Förderung von besonderen Leistungspotenzialen in den Blick genommen wurden.

Das vorliegende Schwerpunktheft enthält eine Auswahl der jüngst eingereichten Arbeiten in der Zeitschrift für Erziehungswissenschaft zu Fragen dieser Art. Der erste Beitrag thematisiert die Determinanten und Verläufe musikalischer Begabungen im Jugendalter. Philippe Labonde und Daniel Müllensiefen prüfen in ihrem Beitrag anhand der Daten einer internationalen Langzeitstudie, wie angemessen unterschiedliche Begabungsansätze für die Modellierung der Entwicklungsverläufe musikalischer Kompetenzen sind. Die Autoren argumentieren auf der Basis der von ihnen vorgelegten Befunde, dass der von ihnen mitentwickelte entwicklungspsychologische Ansatz der Talententwicklung in spezifischen Leistungsdomänen zur Beschreibung und Erklärung der Entwicklung besonderer musikalischer Begabungen im Jugendalter geeignet ist. Dieser Ansatz geht davon aus, dass ein besonderes Potenzial über eine Fähigkeitsdifferenzierung zu einer Kompetenzprofilbildung führt. In der weiteren Entwicklung kommt es dann durch die Spezialisierung in einer spezifischen Domäne zu einer entsprechenden Expertise und zu außergewöhnlichen Leistungen in der Domäne (wie z. B. Musik).

Die nächsten beiden Beiträge dieses Schwerpunktheftes thematisieren mögliche Folgen von hohen Leistungen und besonderen Begabungen. Jessica Gnas, Elena Mack, Julia Matthes, Moritz Breit und Franzis Preckel gehen in ihrem Beitrag der Frage nach, ob es einen Unterschied im sozio-emotionalen Erleben von Schule zwischen Grundschulkindern mit besonders guten schulischen Leistungen und solchen mit besonderen intellektuellen Begabungen gibt. Die Strukturgleichungsmodellanalysen der Daten einer Stichprobe von über 1400 Kindern der dritten und vierten Klassenstufe belegen zwar ein sehr ausgeprägtes positives sozio-emotionales Erleben von Schule der hochleistenden, nicht aber der besonders intellektuell begabten Kinder.

Mit möglichen Folgen von besonderer intellektueller Begabung ganz anderer Art beschäftigt sich der dritte Beitrag von Jessika Golle, Maja Flaig, Ann-Kathrin Jaggy und Richard Göllner. Hier geht es um die Frage, ob Langeweile tatsächlich eine Gefahr für die Effizienz des Unterrichts in der Schule für besonders begabte Kinder darstellt. Es wurden Daten von über 2800 Kindern der dritten Jahrgangsstufe aus 188 Grundschulklassen im Hinblick auf lineare und nichtlineare Zusammenhänge zwischen allgemeinen kognitiven Fähigkeiten und der Langeweile von Schülerinnen und Schülern ausgewertet. Dabei zeigte sich, dass der Zusammenhang zwischen allgemeinen kognitiven Fähigkeiten und Langeweile nach Kontrolle der Schülerleistungen sowie des Geschlechts, des Alters und des familiären Hintergrunds nahezu vernachlässigbar war.

Mit dem Thema der Förderung beschäftigen sich die Beiträge von Miriam Vock, Anna Gronostaj, Julia Kretschmann und Andrea Westphal sowie Franziska Rebholz, Jessika Golle, Maike Tibus, Evelin Ruth-Herbein, Korbinian Moeller und Ulrich Trautwein. Eine Möglichkeit der Förderung von Schülerinnen und Schülern mit besonderem Leistungspotenzial im Regelunterricht ist die Beschulung in der Sekundarstufe in extra dafür eingerichteten Spezialklassen. Im Beitrag von Vock et al. wurden Schülerinnen und Schüler der Leistungs- und Begabungsklassen (LuBK) im Land Brandenburg der Klassenstufen 8 und 10 und ihre Peers aus Regelklassen gebeten, die Qualität ihres Unterrichts in Deutsch und Mathematik einzuschätzen. Anhand der Daten von mehr als 3300 Schülerinnen und Schülern aus 33 Schulen wird in dem Beitrag anhand von Mehrebenenanalysen aufgezeigt, dass die Schülerinnen und Schüler der LuBK die Qualität ihres Unterrichts überwiegend positiver beurteilen als die der Regelklassen.

Eine weitere Unterstützungsvariante stellt die extracurriculare Förderung im Rahmen von Zusatzangeboten zum regulären Schulunterricht dar. Der Beitrag von Rebholz et al. analysiert die Wirksamkeit eines extracurricularen Enrichment-Angebots für besonders begabte Grundschulkinder der Klassenstufen 3 und 4 zur Vorbereitung der Teilnahme an der sog. Mathematik-Olympiade in einem quasi-experimentellen Prä-Posttest Design mit 210 Schülerinnen und Schülern. Signifikante positive Effekte des Trainings wurden für die Leistungen in der Mathematik-Olympiade (sowohl für Dritt- als auch für Viertklässler) sowie für die mathematischen Kompetenzen – gemessen mit einem lehrplanorientierten Test – festgestellt (nur für Viertklässler). Für das mathematische Selbstkonzept und das aufgabenspezifische Interesse an der Mathematik wurden unterschiedliche Effekte über die Klassenstufen hinweg beobachtet (mit ausgeprägteren positiven Effekten bei Viertklässlern), was auf mögliche soziale Vergleichseffekte hindeutet.

Der letzte Beitrag dieses Schwerpunktes ist eher theoretisch – genauer: modelltheoretisch angelegt. Jannika M. John und Ansgar Thiel widmen sich dem Inhaltsbereich der besonderen Begabungen im Sport und der Frage, welche Modellvorstellungen zum sportlichen Talent sich besonders gut eignen, um entsprechende Talente zu identifizieren, auszuwählen und zu fördern. Sie argumentieren, dass sozial-konstruktivistische Konzeptionen sportlichen Talents aufgrund der multidimensionalen, asynchronen und diskontinuierlichen Entwicklung sportlichen Talents am besten geeignet wären, um zutreffende Prognosen sportlicher Hochleistungen vorzunehmen.

Zusammengenommen regt die Lektüre der sechs Beiträge dieses Schwerpunktes zum weiteren Nachdenken über Unterschiede, Gemeinsamkeiten und Entwicklungszusammenhänge von Hochleistung und besonderen Begabungen an.