1 Einleitung

Seit dem Ausbruch der Coronapandemie im Frühjahr des Jahres 2020 haben sich für sämtliche westlichen Bildungssysteme neue Herausforderungen gestellt, welchen kontextabhängig ganz unterschiedlich begegnet wurde. Die vielfältigen und sich teilweise schnell wieder ablösenden Maßnahmen deckten ein Kontinuum ab, das von einer Fortführung des Präsenzunterrichts mit teilweise strengeren Regeln bis zu Schulschließungen reichte. In vielen Fällen gingen damit verstärkter Online-Unterricht, digitales Selbstlernen und geteilte Klassen einher. In Deutschland standen durch die ad hoc hervorgetretenen pandemiebedingten Herausforderungen drei Akteursgruppen in einem Spannungsfeld: Schulen (SchulleiterInnen, Lehrkräfte, Lehrergewerkschaften), Familien (SchülerInnen, Eltern, Elternverbände) sowie Politik (lokale, regionale, Landes- und Bundesebene) (Altrichter und Maag Merki 2016). In dieser Studie untersuchen wir, wie Schulen, Familien und Politik sich in Presseberichten positionieren bzw. positioniert werden. Auf der Grundlage dieser medialen Konstruktion erschließen wir, wie sich die Akteursgruppen selbst und wie sie die jeweils beiden anderen sehen.

Zur Beantwortung der Fragestellung wird in zwei unterschiedlichen Phasen (Eickelmann und Gerick 2020), nämlich den Untersuchungszeiträumen März bis Juni 2020 und August bis November 2020, eine Sekundäranalyse der Presseberichterstattung vorgenommen. Inhaltsanalysen der Presseberichterstattung zum Themenkomplex Bildung und Schule sind rar. In Bezug auf Deutschland wurde in lediglich zwei einschlägigen Studien untersucht, wie sich das gesellschaftliche Ansehen von Lehrkräften darstellt. Blömekes (2005) Längsschnittanalyse der lehrerbildbezogenen Berichterstattung von Focus und Spiegel im Zeitraum 1990–2004 kommt zu dem Schluss, dass die Kenntnisse, Fähigkeiten und Arbeitshaltung von Lehrkräften vornehmlich negativ pauschalisiert dargestellt wurden. Einer aktuelleren Analyse der Berichterstattung von Focus, Spiegel und Zeit im Zeitraum von 2004–2014 von Köller et al. (2019) ist zu entnehmen, dass es Diskrepanzen zwischen der Berichterstattung über Rahmenbedingungen, Unterricht und die Lehrkräfte selbst gibt. Letztere werden, wie auch in anderen Ländern wie zum Beispiel in Australien (Baroutsis 2016; Shine 2020) oder in den USA (Cohen 2010), eher negativ als positiv dargestellt, dies aber mit abnehmender Tendenz. So identifizieren Köller et al. (2019) verschiedene Dimensionen von Lehrkräftemotivation in der Berichterstattung als neutral bis positiv.

Wenn auch methodisch an die oben genannten Arbeiten angeknüpft wird, so verfolgt diese Studie mit dem Fokus auf Selbst- und Fremdwahrnehmung der drei untersuchten Akteursgruppen ein anders gelagertes Erkenntnisinteresse. Mithilfe von Schimanks (2010) Ansatz der Akteur-Struktur-Dynamiken wird das Wollen, Können und Sollen der drei Akteursgruppen untersucht. So lassen sich das Handeln und die Handlungsintentionen der Akteursgruppen und AkteurInnen nachvollziehen. Außerdem können auf Basis der in einem qualitativen Paradigma verorteten thematischen Analyse Rückschlüsse auf Dynamiken in der Entwicklung von Akteurskonstellationen gezogen werden.

Zunächst wird die theoretische Rahmung vorgestellt. Im Anschluss gehen wir auf methodische Entscheidungen ein. Auswahl und Inhalte der Stichprobe und die Durchführung der thematischen Analyse werden erklärt. Ferner werden Grenzen und Aussagekraft des Zugangs zu den Akteursgruppen über Presseberichterstattung thematisiert. In der nächsten Sektion werden die Ergebnisse der Analyse in sechs Themen dargestellt. In Bezug auf jede der drei Akteursgruppen widmet sich jeweils ein Thema der Selbstwahrnehmung und ein weiteres der Fremdwahrnehmung. In der sich anschließenden Diskussion werden die Ergebnisse der Analyse eingeordnet und bewertet. Dabei werden Dynamiken in der Entwicklung von Akteurskonstellationen diskutiert. Im Fazit ordnen wir die Analyse ein und ziehen Schlussfolgerungen.

2 Schimanks Ansatz der Akteur-Struktur-Dynamiken

Theoretische Grundlage dieser Studie sind die Akteur-Struktur-Dynamiken Uwe Schimanks (2010). Schimank interessiert sich für die wechselseitige Konstitution von handelndem Zusammenwirken und sozialen Strukturen. Mit dem handelnden Zusammenwirken stellt er die Beziehung zwischen AkteurInnen in den Mittelpunkt, bezieht aber gleichzeitig die Strukturen ein, die dieses Handeln beeinflussen. Sein Ansatz ist somit geeignet, um einzelnes und gemeinsames Handeln, Handlungsintentionen sowie Handlungsspielräume der beteiligten AkteurInnen und Akteursgruppen zu untersuchen. Außerdem ermöglicht es der Ansatz, die Motivationen, Interessen und Ziele, welche sowohl das Handeln als auch „Bestrebungen intentionaler [Handlungs]Gestaltung“ (Schimank 2007, S. 234) antreiben, zu untersuchen. Auf Basis der individuellen sozialen Handlungen und Handlungsintentionen von AkteurInnen kann das Zusammenwirken mit den Handlungen anderer untersucht werden.

Alle AkteurInnen bzw. AkteursgruppenFootnote 1 gehen mit ihren Handlungen und Handlungsintentionen einem bestimmten Zweck nach. Dabei haben sie eigene Motive, Interessen und Ziele. Diese können allerdings nicht ohne weiteres erreicht werden, da oft die Handlungen anderer AkteurInnen den eigenen Handlungsintentionen entgegenstehen oder diese gar konterkarieren. Eine Akteurskonstellation entsteht, wenn mehrere AkteurInnen oder Akteursgruppen aufeinandertreffen und es Interferenzen zwischen deren Intentionen gibt (Schimank 2007, S. 235). Indem die AkteurInnen versuchen, die Interferenzen abzuarbeiten, können soziale Strukturen als dauerhafte Bewältigungsmuster entstehen (Schimank 2010, S. 186 f.).

Schimank nennt drei typische Formen von Akteurskonstellation: Die elementarste erste Stufe ist die Beobachtungskonstellation, bei der sich mindestens zwei AkteurInnen bzw. Akteursgruppen beobachten und durch die Beobachtung ihr Handeln bestimmen lassen. Die zweite Stufe ist die der Beeinflussungskonstellation. Hier geht es darum, positiven oder negativen Einfluss auf die Handlungen des Gegenübers zu nehmen. Der Intention wird durch Einflussnahme mithilfe von Machtmitteln Nachdruck verliehen (Schimank 2010, S. 274). In der dritten Stufe, der Verhandlungskonstellation, zielen AkteurInnen auf bindende Vereinbarungen untereinander (Schimank 2010, S. 305).

Auch die sozialen Strukturen bedingen das Handeln (Schimank 2005, S. 23). Sie werden durch handelndes Zusammenwirken erschaffen, erhalten, um- oder abgebaut und prägen unterschiedliche Komponenten des Handelns. Konkret unterscheidet Schimank, erstens, Deutungsstrukturen (das Wollen der AkteurInnen bzw. Akteursgruppen als evaluative, kognitive Orientierungen), zweites, Erwartungsstrukturen (das Sollen der AkteurInnen als institutionalisierte, normative Erwartungen) und, drittens, Konstellationsstrukturen (das Können der AkteurInnen als eingespielte und verfestigte Gleichgewichte von Akteurskonstellationen). Im Zusammenspiel aus Wollen, Sollen und Können werden nach Schimank (2005) Handlungen konstituiert.

Das Zusammenspiel aus Akteurskonstellationen und sozialen Strukturen erlaubt es, die Dynamik von Handlungen und Entscheidungen nachzuzeichnen, wenn es darum geht, wie eine Beziehung zwischen AkteurInnen gestaltet werden soll, ob neue Beziehungen eingegangen oder andere verändert werden. Sind die Strukturen verfestigt, haben die AkteurInnen kaum Veränderungsmöglichkeiten. In einer positiv gerichteten Konstellationsstruktur können alle beteiligten AkteurInnen ihre Intentionen realisieren. In einer negativ gerichteten Konstellationsstruktur behindern sich die beteiligten AkteurInnen dauerhaft (Schimank 2010, S. 206).

Schimanks Ansatz bietet sich an, wenn es darum geht, Handlungsspielräume und Handlungskoordination im Mehrebenensystem des Schulwesens nachzuvollziehen (Durdel et al. 2021; Kussau und Brüsemeister 2007; Maag Merki et al. 2014). Zu diesem Zweck werden im Rahmen dieser Studie die drei untersuchten Akteursgruppen Schimanks (2010) vier partiellen Akteursmodellen – dem Homo Sociologicus, dem Homo Oeconomicus, dem „Emotional Man“ und dem Identitätsbehaupter – zugeordnet. Vereinfacht ausgedrückt, ist der Homo Sociologicus stark auf Normenbefolgung ausgerichtet. Der Handlungsspielraum dieses Akteurstyps wird durch das Einnehmen einer Rolle, in welcher an die soziale Position geknüpfte Erwartungen gebündelt werden, eingeschränkt. Dabei divergiert der Aufforderungscharakter der Erwartungen im Verbindlichkeitsgrad von mit Sanktionen verbundenem Müssen über aufforderndes Sollen zu optionalem Können (Krohn 2010, S. 18).

Das Handeln des zweites Akteurstyps, des Homo Oeconomicus, zielt auf Nutzenmaximierung. Bei der Verfolgung mehrerer Ziele verrechnet und gewichtet der Homo Oeconomicus Grenznutzen und Opportunitätskosten rational, das heißt: „[g]ewählt wird dann jene Handlung, die nach der Gewichtung der Nützlichkeit der Folge mit der Erwartung ihres Eintretens die höchste Wertigkeit aufweist“ (Krohn 2010, S. 20). Akteurstyp drei, der „Emotional Man“ wird durch das Ausleben von Emotionen, insbesondere Sympathie oder Antipathie für andere AkteurInnen, charakterisiert. Bei der Entscheidung ob und wenn ja, in welchem Ausmaß Emotionen ausgelebt werden, bezieht der „Emotional Man“ normative und rationale Handlungsantriebe stark mit ein (Schimank 2010, S. 139). Das Handeln des vierten Akteurstyps, des Identitätsbehaupters, wird von Selbstansprüchen geprägt. Diesbezüglich werden evaluative (erreichbare, aber noch nicht realisierte) Selbstansprüche von normativen Selbstansprüchen (individuellen Sollensvorstellungen) unterschieden. Letztere beschränken die evaluativen Selbstansprüche, „denn das, was man sein möchte, wird begrenzt durch das, was man sein darf“ (Krohn 2010, S. 21).

3 Methodisches Vorgehen

In dieser Studie wenden wir die thematische Analyse nach Braun und Clarke (2013, 2006) an. Es handelt sich dabei um eine Methode, die Schnittmengen mit Formen der qualitativen Inhaltsanalyse aufweist (Vaismoradi und Snelgrove 2019), deren Vorgehen sich allerdings von dieser unterscheidet. Im Gegensatz zur qualitativen Inhaltsanalyse nach Mayring (2020) ist Braun und Clarkes thematischer Analyseansatz in einem rein qualitativen Paradigma verankert. Auf einem Kontinuum thematischer Analyseansätze, auf der links vollumfänglich qualitative Ansätze verortet werden und rechts Ansätze, die weitgehend in quantitativer Logik verhaftet bleiben, ließe sich die reflexive thematische Analyse nach Braun und Clarke ganz links einordnen.Footnote 2 Im Gegensatz zu – Braun und Clarkes (2021a, S. 39) Terminologie folgend – „small q“-Ansätzen auf der rechten Seite des Kontinuums (z. B. Guest et al. 2012), zeichnet sich Braun und Clarkes „BIG Q“-thematische Analyse durch theoretische Flexibilität und einen organischen Prozess des Codierens und der Themenbildung aus. Ein Thema – das Schlüsselkonzept in der thematischen Analyse – erfasst etwas in Bezug auf die Forschungsfrage Wichtiges in den Daten und repräsentiert dessen Bedeutung innerhalb des Datensatzes (Herzog et al. 2019). Themen gehen bei Braun und Clarkes (2006, S. 82) Ansatz über bloße Beschreibungen der Daten hinaus. Sie werden durch die Forschenden aktiv entwickelt, wobei interpretative Anstrengungen miteinfließen (Braun und Clarke 2013, S. 249). In der dieser Studie zugrunde liegenden Analyse haben wir eine konstruktivistische Perspektive eingenommen (Braun und Clarke 2006, S. 85, 2013, S. 174; Herzog und Scerbinina 2021). Die Analyse wurde auf der semantischen Ebene durchgeführt. Mit ihrem Fokus auf Selbst- und Fremdwahrnehmung wird sie von Schimanks (2010) Akteur-Struktur-Dynamiken beeinflusst. Da die theoretische Rahmung unserer Studie darauf zielt, auf Basis von (empirisch aus indirekter Perspektive erhobenem) Handeln und Handlungsintentionen (interpretativ) Rückschlüsse auf die Entwicklung von Akteurskonstellationen und Strukturdynamiken zu ziehen, erscheint der gewählte reflexive Analyseansatz von Braun und Clarke bestmöglich geeignet.

Braun und Clarkes (2006) sechs Schritten der thematischen Analyse folgend, haben wir aus einem initialen Datenkorpus von 3140 Dokumenten 178 Dokumente ausgewählt und 1939 Datenelemente analysiert. Dem Erkenntnisinteresse von Entwicklungen im Zeitverlauf folgend, wurde für jeden Untersuchungszeitraum ein Datensatz gebildet. Zur Konstruktion der Datensätze wurde eine Volltextsuche in der Datenbank LexisNexis Uni durchgeführt, in welcher Veröffentlichungen von hunderten deutschen Zeitungen und Magazinen gelistet werden (Herzog et al. 2022, im Druck). LexisNexis Uni beinhaltet die Beiträge der meisten großen überregionalen Zeitungen und Magazine als auch eine Vielzahl regionaler und lokaler Zeitungen. Obwohl einige Zeitungen wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung und die Süddeutsche Zeitung nicht in der Datenbank gelistet sind, wurde aufgrund der großen und heterogenen Datenmenge, auf die Hinzunahme weiterer, nicht in LexisNexis Uni verzeichneter Quellen verzichtet. Um relevante Dokumente zu identifizieren, wurden die folgenden Suchbegriffe in LexisNexis Uni verwendet: Schule und Digital* und (Eltern* oder Lehrer* oder Lehrkraft oder Schulleit* oder Rektor* oder Direktor*) und (Corona oder COVID). Hierdurch wurde der Bezug der Veröffentlichungen zu Schule, Digitalisierung als auch der Coronapandemie sichergestellt.

Für den ersten Datensatz wurden sämtliche Veröffentlichungen aus den ersten drei Monaten nach der 369. Kultusministerkonferenz vom 12.03.2020, bei der insbesondere die Corona-Situation diskutiert wurde, bis zum 12.06.2020 herangezogen. Die initiale Suche führte zu 1635 Dokumenten. Nach der Bereinigung von Duplikaten wurde der Datenkorpus auf 1480 Dokumente reduziert. Aus diesen wurden mithilfe der algorithmischen LexisNexis-Relevanzkriterien die 100 relevantesten Dokumente herangezogen. Nach einer weiteren auf Judgement Sampling (Maul 2018) basierenden Eingrenzung, in welcher geprüft wurde, inwieweit die Dokumente für die Analyse geeignet sind, haben wir schließlich 86 Dokumente für den ersten Datensatz ausgewählt.

Der zweite Datensatz bildet den Zeitraum der ersten drei Monate nach den Sommerferien 2020 ab, beginnend am 03.08.2020, an dem Mecklenburg-Vorpommern als erstes Bundesland den Schulbetrieb nach den Sommerferien wieder aufnahm. Denselben in Bezug auf die Erstellung von Datensatz 1 angewandten Such- und Eingrenzungskriterien folgend, wurden für den Zeitraum bis zum 03.11.2020 zunächst 1505 Dokumente, nach Duplikationsbereinigung 1348 Dokumente identifiziert. Auch hier wurden die nach dem Algorithmus der Datenbank relevantesten 100 Dokumente herangezogen und im nächsten Schritt durch eine qualitative Auswahl weiter eingegrenzt. Der zweite Datensatz wird von 92 Dokumenten gebildet. Insgesamt wurden damit 178 Dokumente für die thematische Analyse ausgewählt (n = 178).Footnote 3

Bei den analysierten Dokumenten handelt es sich um Zeitungsartikel (Print und Digital), die größtenteils aus den Ressorts Regionales/Lokales sowie Panorama/Bildung/Schule stammen (132 von 178 Artikeln). Weitere Artikel kommen aus den Ressorts Politik und Wissen(schaft) (siehe Tab. 1).Footnote 4 Herangezogen wurden zumeist Berichte und Reportagen (125 von 178 Artikeln) sowie zu einem geringeren Anteil Features und Interviews/Umfragen (43 Artikel) (Von La Roche 2010). Neben diesen informierenden Darstellungsformen finden sich in den Datensätzen auch 10 Kommentare (siehe Tab. 2). Analytisch relevant waren allerdings nicht Meinungsäußerungen der verfassenden JournalistInnen, sondern die Selbstauskünfte und Schilderungen der Fremdwahrnehmung in Bezug auf die drei untersuchten Akteursgruppen; anders ausgedrückt: die Analyse von Zeitungsartikeln dient dem Zweck, Selbst- und Fremdwahrnehmung zwar selektiv, aber über direkte und indirekte Zitationen zu erschließen. Hierfür haben wir nach „thick data“ gesucht und diese in längeren Beiträgen – die durchschnittliche Wörteranzahl der Artikel beträgt 1384 – der oben genannten Darstellungsformen gefunden. Artikel die der elementarsten informierenden Darstellungsform, der häufig kurz gehaltenen Nachricht, zuzurechnen sind, tauchen nicht in den Datensätzen auf.

Tab. 1 Ressorts
Tab. 2 Darstellungsformen

Die Analyse von Presseberichterstattung zum Zweck des Gewinnens von Einblicken in die Selbst- und Fremdwahrnehmung der drei Akteursgruppen ist nicht unproblematisch. In der Nachrichtenforschung gibt es weitgehende Übereinstimmung in Bezug auf eine Reihe von Nachrichtenfaktoren, die gegeben sein müssen, damit eine Nachricht für berichtenswert gehalten wird und schlussendlich in der Presse erscheint (Kepplinger 1998). Medienunternehmen nehmen Einfluss auf die eigene Berichterstattung, um sowohl ökonomische Interessen zu verfolgen – indem sie zum Beispiel kritische Berichte über Werbekunden unterdrücken oder eigene wirtschaftliche Interessen überproportional vorteilhaft rahmen – als auch politische Motive (Bierbaum 2021). Dies geschieht direkt, indem EigentümerInnen redaktionelle Vorgaben machen, oder indirekt, indem subtiler Druck zur Selbstzensur aufgebaut wird (Anderson 2007). Nicht zuletzt haben auch redaktionelle Routinen, und die Präferenzen von JournalistInnen – z. B. bei der Auswahl und Gewichtung von Quellen – Einfluss auf die mediale Berichterstattung (Rawolle 2010).

Sowohl bei der Auswahl der Daten als auch während des Analyseprozesses haben wir versucht, Risiken der Verzerrung der Berichterstattung durch die oben genannten Faktoren abzumildern. So wurde für die Analyse bewusst eine möglichst große Anzahl von verschiedenartigen bundesweiten und regionalen Quellen herangezogen, hinter denen eine Vielzahl von Eigentümerstrukturen steht. In die Analyse sind Nachrichtenartikel aus Medien, die verschiedenen politischen Spektren zuzurechnen sind, eingeflossen (von tageszeitung bis WELT). Beim Codierprozess haben wir allen Datenelementen die gleiche Aufmerksamkeit geschenkt und uns nicht bloß auf einige anschauliche Beispiele konzentriert. Jedes Thema wurde gegenüber den anderen Themen klar abgegrenzt und auf Basis der originalen Daten überprüft (Braun und Clarke 2006, S. 96). Bei der Unterfütterung der Themen mit Zitaten (siehe Sektion 4. Ergebnisse) haben wir sorgfältig dafür Rechnung getragen, dass die ausgewählten Stellen der Redewiedergabe die Summe der in einem Code versammelten Meinungen bestmöglich abbilden. Nicht zuletzt haben wir versucht, die Datenauswahl, Analyse und Rolle der Autoren im Forschungsprozess möglichst transparent darzustellen. Dabei sind wir über den gesamten Forschungsprozess hinweg den von Braun und Clarke (2006, S. 96, 2013, S. 277 ff.) sowie Nowell et al. (2017) definierten Qualitäts- und Vertrauenswürdigkeitskriterien thematischer Analysen nachgekommen.

Nachdem wir uns bei der Konstruktion der Datensätze mit dem Material vertraut gemacht hatten, wurden im nächsten Schritt beide Datensätze mit MAXQDA analysiert. Dabei sind wir einen hybriden Ansatz gefolgt, welcher sowohl die induktive (bottom-up) als auch die deduktive (top-down) Analyseorientierung kombiniert (Xu und Zammit 2020). Zunächst wurde der erste Datensatz induktiv analysiert. Hierbei wurden Datenextrakte codiert und den AkteurInnen zugeordnet. Die herausgearbeiteten Codes wurden gruppiert und mit fortschreitender Analyse des ersten Datensatzes stetig angepasst, um die Erstellung von vorläufigen Themen zu ermöglichen (Damayanthi 2019). Nach einer Überprüfung der Codes wurden die Themen benannt und in Hauptthemen (übergeordnete Kategorien) und Unterthemen (einem Hauptthema untergeordnete Kategorien) strukturiert. Im Anschluss wurde auf Basis dieses Themen-Konstruktes der zweite Datensatz deduktiv, d. h. anhand des vorliegenden Codierungssystems analysiert, wobei dieses weiter angepasst und verfeinert wurde. Nach einer finalen Prüfung der Zuordnungen wurde das Themen-Konstrukt (siehe Abb. 1) grafisch aufgearbeitet, um zusätzlich die Beziehungen der Themen unter- und zueinander zu visualisieren (Attride-Stirling 2001).

Abb. 1
figure 1

Selbst- und Fremdwahrnehmung der Akteursgruppen

Die Größe der Datensätze wurde während des Analyseprozesses festgelegt. Nach der Analyse von etwa zwei Dritteln der Dokumente von Datensatz 1 sind keine weiteren neuen Codes aufgetreten. Auch die Themennamen und Beschreibungen der Themen konnten bis zur deduktiven Analyse nur noch geringfügig verfeinert werden. Dementsprechend sind wir von Saturierung ausgegangen (Braun und Clarke 2021b).

4 Ergebnisse

Die Ergebnisse der thematischen Analyse werden wie folgt in sechs Themen dargestellt, welche jeweils die Selbst- und Fremdwahrnehmung der drei Akteursgruppen auf Basis der Sekundäranalyse von Presseberichterstattung wiedergeben. In Bezug auf jedes Thema werden Veränderungen zwischen den beiden Erhebungszeiträumen herausgestellt.

4.1 Thema 1: Mit Planung auf Sicht und Flexibilität die Krise überstehen (Politik – Selbstwahrnehmung)

Das erste Thema widmet sich der Selbstwahrnehmung der politischen AkteurInnen, welche in der ständigen Beobachtung und individuellen Anpassung der Maßnahmen das beste Krisenmanagement sehen, um die Pandemie zu überbrücken. Sie sehen sich, ähnlich wie die anderen AkteurInnen, als Lernende in der unsicheren Krisensituation (Pauli und Lehmann 2020), welche keine langfristige Planung zulasse (Arp 2020). Kurzfristige situationsbedingte Änderungen seien notwendig (Pauli und Lehmann 2020) und führten zwangsläufig zu einer divergenten politischen Linie (Warrlich 2020). Zum einen sei niemand auf die Situation vorbereitet (Südwest Presse 2020) oder könne die zukünftigen Entwicklungen voraussehen (Warrlich 2020), zum anderen führten die regional-unterschiedlichen Entwicklungen im Zusammenspiel mit dem föderalen Bildungssystem zu lokalen Differenzen (Berliner Zeitung 2020). Die politischen AkteurInnen versuchten mit kurzfristigen Maßnahmen zu helfen (Breyton 2020a) und „wertvolle Zeit“ zu gewinnen (Backes 2020). Trotz des beteuerten Willens, diesen „Kraftakt gemeinsam [zu] bewältigen“ (Arp 2020), verweisen sie auf ihre jeweils eingeschränkten Zuständigkeitsbereiche (Südwest Presse 2020). Die fehlende Planbarkeit hält aus Sicht der politischen AkteurInnen auch im zweiten Erhebungszeitraum weiter an, weshalb die Maßnahmen nach wie vor kurzfristig den aktuellen Entwicklungen entsprechend angepasst werden müssten (Halpick 2020). Dennoch werden Erfolge wie das Bereitstellen von Mitteln aus dem Digitalpakt Schule angeführt (Breyton 2020a) und dadurch das hohe Engagement der Politik in den Vordergrund gerückt (Otto 2020). Die Probleme zu Beginn der Pandemie hätten große Defizite aufgezeigt, welche nun „mit Hochdruck“ (Landschek 2020) und unbürokratisch seitens der Politik gelöst würden (Sadigh 2020). Aus Sicht der politischen AkteurInnen scheiterten praktische Umsetzungen der Vorgaben jedoch häufig an der notwendigen Flexibilität der Schulen (Aboul-Kheir 2020a).

4.2 Thema 2: Bildung vernachlässigt, Wandel gebremst und leere Worte (Politik – Fremdwahrnehmung)

Die Fremdwahrnehmung, das zweite Thema, wirft ein deutlich kritischeres Bild auf die politischen AkteurInnen, welche demnach den notwendigen bildungspolitischen Wandel zu einem besser den Erfordernissen der Digitalisierung genügenden Schulsystem behinderten und Worten keine Taten folgen ließen. Fehlende, schlechte und zu kurzfristige Kommunikation der Politik nimmt eine zentrale Rolle in der Fremdwahrnehmung ein (Thimm 2020). Die Erwartung von Schulen und Familien, klare und einheitliche Vorgaben zu erhalten, wird aus Sicht dieser zwei Akteursgruppen seitens der Politik weder im ersten noch im zweiten Untersuchungszeitraum ausreichend erfüllt. Die schulischen AkteurInnen sehen insbesondere großen Aufholbedarf in Punkto Infrastruktur und digitalen Möglichkeiten, um den an sie gestellten Anforderungen gerecht zu werden. Zudem fühlen sich die Schulen aufgrund wahrgenommener falscher Schuldzuweisungen des Dienstherrn nicht ausreichend berücksichtigt (Krüger et al. 2020; Sommerfeldt und Zschäpitz 2020), während sich die Familien von der Politik gänzlich vernachlässigt sehen (Moche 2020). Auch im zeitlichen Verlauf zeigt sich keine grundlegende Änderung in dieser Wahrnehmung. In den von der Politik ergriffenen Maßnahmen wird vor allem eine zwar notwendige, aber zu kurz greifende Symptombehebung, zum Beispiel im Bereich Hygienemaßnahmen, gesehen, anstatt die Bildung durch ein Forcieren des digitalen Wandels zukunftsfähiger aufzustellen (Schäfer 2020). Auch der beteuerte Handlungswille der Politik trägt hier zu keiner Verbesserung bei, da dieser vielmehr als realitätsferne Selbstdarstellung aufgefasst wird (Luig 2020a). Es ist die fehlende politische Linie im Zusammenspiel mit ausbleibender Handlung der Politik – so die Fremdwahrnehmung – (Schultheiss 2020), die im zweiten Untersuchungszeitraum dazu führt, dass sich Schulen und Familien zunehmend mit der Bildung allein gelassen fühlen und die Politik für ausbleibende nachhaltige Verbesserungen verantwortlich machen (Luig 2020b).

4.3 Thema 3: Digitalisierung der Bildung ist eine große Chance – trotz starker Überlastung (Schule – Selbstwahrnehmung)

Das dritte Thema zeigt zum einen die weitreichenden und vorwiegend positiven Auswirkungen, welche dem situationsbedingten Digitalisierungsschub zugeschrieben werden, zum anderen jedoch auch die hohe Belastung der Lehrkräfte und die große Bedeutung der analogen Schule. Bereits im ersten Untersuchungszeitraum assoziieren die schulischen AkteurInnen „Wahnsinnschancen“ (WELT ONLINE 2020) mit der, wenn auch erzwungenen, Digitalisierung und sie stellen sich die Frage, „welche Normalität sie eigentlich zurückwollen“ (Otto und Spiewak 2020). Trotz einer positiven Bewertung des Digitalisierungsschubs sehen sie sich von den Herausforderungen der Situation übermannt, welche dazu führten, dass sie an einer nicht tragbaren Belastungsgrenze (Geisler 2020) im „Ausnahmezustand“ (Bilanz.de 2020) arbeiteten. Aufgrund fehlender Vorgaben geschehe die meiste Veränderung in Eigenregie der Schulen (Geisler 2020), was zwar Vorteile mit sich brächte (Schick 2020), jedoch auch zu starken Differenzen zwischen den Schulen und teils sogar schulintern führte. Diese Ambivalenzen und die hohe Abhängigkeit von einzelnen Lehrkräften führten zu einem „Bildungsroulette“ (Breyton 2020b). Obwohl auch im zweiten Erhebungszeitraum „die Baustelle im Bereich der digitalen Didaktik“ (Janssen 2020a) nach wie vor groß sei, stünde dieser eine stark wachsende Digitalisierungsbereitschaft seitens der Lehrkräfte gegenüber. Der erzwungene „Fortbildungsschub“ (Kasties und Gasper 2020) seit dem ersten Erhebungszeitraum und der hohe persönliche Einsatz hätten „der Sache Schwung […] verliehen“ (Keilholz 2020) und erste positive Ergebnisse stellten sich ein (Rheinische Post 2020). Im zweiten Erhebungszeitraum stehen schulische AkteurInnen den mit etwaigen erneuten Schulschließungen einhergehenden Herausforderungen (allen voran dem digitalen Unterrichten) deutlich zuversichtlicher gegenüber (Sädler 2020). Trotz der positiven Entwicklungen im Kontext der Digitalisierung bleibt die analoge Schule und der Präsenzunterricht aus Sicht der schulischen AkteurInnen auch in Zukunft ein wichtiges Standbein der Bildung, da er mehr als reine Wissensvermittlung bedeute. Digitale und analoge Möglichkeiten sollten vielmehr komplementär anstatt als Substitute gesehen werden (Schultheiss 2020).

4.4 Thema 4: Schulen sind trotz Kritik und Unmut auf einem steinigen, aber richtigen Weg (Schule – Fremdwahrnehmung)

Ähnlich wie die Schulen selbst, sehen auch die beiden anderen Akteursgruppen die Notwendigkeit von Veränderungen im Schulwesen, dennoch divergiert die Fremdwahrnehmung der Schulen von Politik und Familien teils stark. Politische AkteurInnen begreifen Krisenbewältigung in der Bildung vor allem als Wahrung bekannter Strukturen, wie etwa Prüfungsleistungen, Versetzungen oder Abschlüsse (Backes 2020; Füller 2020). Die Politik sieht infolgedessen die Notwendigkeit, den Schulen größere Freiräume zu überlassen, und handelt dementsprechend (Arp 2020; Südwest Presse 2020). Bei der konkreten Ausgestaltung ebendieser Freiräume sieht sie die Schulen grundsätzlich auf dem richtigen Weg (Hamann und Spiewak 2020). Die Familien hingegen beklagen im ersten Erhebungszeitraum fehlendes Engagement seitens der Lehrkräfte (Eube 2020; Hamann und Spiewak 2020), welche scheinbar „die freie Zeit genießen“ (Himmelrath 2020) und für die Familien nicht erreichbar seien. Gleichzeitig zeichnet sich ein gewisses Verständnis für die ungewohnte Situation und die damit einhergehenden Herausforderungen für die Lehrkräfte ab (Füller und Spiewak 2020a; Krüger et al. 2020). Im zweiten Erhebungszeitraum bleibt die Fremdwahrnehmung der Schulen seitens der Politik größtenteils bestehen. Nach wie vor sehen die politischen AkteurInnen das Festhalten am „herkömmlichen Regelbetrieb“ (Halpick 2020) als Prämisse für eine erfolgreiche Krisenbewältigung, obgleich auch zunehmend „Lernszenarien, […] die auf den Präsenzunterricht im Schulgebäude verzichten“ (Stang 2020), in Betracht gezogen werden. Von Seiten der Familien hingegen wird den Schulen zunehmend mehr Verständnis entgegengebracht, wenn auch einige Kritik bleibt. Die Retroperspektive zeige, dass erste Lösungen seitens der Schulen vorgebracht wurden (Kreis Anzeiger 2020) und die anhaltende Not zusammengeschweißt habe (Krauß und Link 2020). Der verbesserte Umgang mit der neuen Situation, trotz anhaltenden Schulungsbedarfs der Lehrkräfte in Punkto Digitalisierung (Pörtner 2020), hat zur Folge, dass auch den Familien eventuelle erneute Schulschließungen nicht mehr „die ganz großen Sorge[n]“ (Aboul-Kheir 2020b) bereiten. Zwischen Schulen und Familien besteht Einigkeit, dass digitale Formate alleine nicht ausreichen und der Präsenzunterricht ein unverzichtbares Element der Schulbildung sei (Halpick 2020; Röser 2020).

4.5 Thema 5: Zwischen Verzweiflung und neuer Realität – Familien können Schule nicht kompensieren (Familien – Selbstwahrnehmung)

Das fünfte Thema, welches die Selbstwahrnehmung der Familien beschreibt, zeugt von großer Belastung und Verzweiflung mit der Situation, welche jedoch im zeitlichen Verlauf abnehmen. Insbesondere im ersten Erhebungszeitraum sehen sich die familiären AkteurInnen als Leidtragende der Krisensituation. Sie seien mit ihrer häuslichen Situation überfordert, von der Politik vernachlässigt und von den Schulen alleingelassen. Den Herausforderungen der digitalen Beschulung im Elternhaus sehen sich die Eltern weder „fachlich noch didaktisch“ (Rasch 2020) gewachsen und wollen diese zusätzliche Belastung nicht annehmen (Moche 2020; Südwest Presse 2020). Distanzunterricht und die gleichzeitige berufliche Tätigkeit vieler Eltern aus dem Homeoffice bringen die Familien an eine Belastungsgrenze, die durch Ressourcenprobleme wie fehlende Endgeräte und soziale Disparitäten verstärkt würde (Moche 2020). Nicht nur die Eltern forderten, dass ihre Schützlinge wieder zurück in den Präsenzunterricht wechselten, sondern auch die Kinder sehnten sich nach kurzer Freude über die „Corona-Ferien“ (Füller und Spiewak 2020b) den Schulalltag bereits im ersten Erhebungszeitraum zurück (Brinck 2020). Diese Selbstwahrnehmung in der Krisen-Situation verändert sich im zweiten Erhebungszeitraum leicht. Dem nun teilweise wieder ermöglichten Präsenzunterricht wird aufgrund der anhaltenden Pandemie zunächst mit „gemischten Gefühlen“ (Duclaud 2020) entgegengetreten. Nichtsdestotrotz hätte sich in der Zeit ohne oder mit eingeschränktem Präsenzunterricht die Bedeutung von Schule für die Familien deutlich herausgestellt (Stang 2020). Familien begännen sich mit der nunmehr eingespielten „neuen Realität“ zunehmend zurechtzufinden (Eisenreich 2020) und selbst potenziellen erneuten Schulschließungen würde deutlich beruhigter entgegengesehen (Krauß und Link 2020). Trotz einer gewissen Abfindung mit der Situation sehen sich die Familien auch im zweiten Erhebungszeitraum nicht ausreichend berücksichtigt und bezeichnen anhaltende Probleme in der Bildungspolitik als „fatal für die Bildung [der] Kinder“ (Jacobs 2020).

4.6 Thema 6: Soziale Disparitäten im Distanzunterricht vergrößern die Bildungsschere (Familien – Fremdwahrnehmung)

Die Fremdwahrnehmung der Familien in der Corona-Situation ist geprägt durch starke soziale Disparitäten innerhalb der familiären Lebensverhältnisse. Auch wenn politische AkteurInnen betonten, dass Eltern keinesfalls die Rolle von Lehrkräften übernehmen sollten (Möller 2020; Stattenberger 2020), so nähmen die Schulen die Familien doch über Gebühr in die Mitverantwortung bei der Beschulung im Distanzunterricht (Schick 2020; Van Alst 2020). Gerade in Fällen mit schlechter Kommunikation und Kooperation zwischen Familien und Schulen sehen die Lehrkräfte die Gefahr, dass sich die Bildungsschere weiter spreizen könnte, denn „[man könne es sich] nicht leisten, all diese Kinder wochenlang zu verlieren“ (Bilanz.de 2020). Trotzdem brächte der digitale Unterricht auch eine Vielzahl positiver Konsequenzen für die Familien mit sich, wie etwa die Förderung von Disziplin und Selbstorganisation sowie mehr Flexibilität in der Anpassung an individuelle Bedürfnisse (Eckert und Wirtz 2020; Leitlein et al. 2020). Im zweiten Erhebungszeitraum verschärft sich das Bild der Bildungslücke durch die Schulschließungen, welche sich nicht nur auf den schulischen, sondern auch auf den sozialen Bereich ausweite (Eisenhut 2020; Kixmüller und Reiss 2020). Die sozialen Disparitäten sorgten für eine „Aushebelung der Chancengleichheit“ (Pauli und Lehmann 2020). Trotzdem würde aus Sicht der Schulen die Beziehung zu den Familien, insbesondere das gegenseitige Verständnis, durch die Krisensituation gestärkt. „[D]as Bild von Schule“ habe sich sicher für viele Familien „gewandelt“ (Luig 2020c).

5 Diskussion

Auf Basis der sechs Themen lassen sich Rückschlüsse auf die akteurstheoretischen Dynamiken zwischen Politik, Schulen und Familien während der Coronapandemie innerhalb der zwei Untersuchungszeiträume ziehen. Bis zum Beginn der Coronapandemie lag eine klar definierte Konstellationsstruktur vor und das Handeln der Akteursgruppen war nach einem festen Muster eingespielt. Politische Vorgaben wurden von den schulischen AkteurInnen umgesetzt, indem diese mitunter den Familien Rahmenbedingungen vorgaben. Schulische und, in eingeschränktem Maße, familiäre AkteurInnen versuchten ferner in gewissem Maße Einfluss auf die politischen Vorgaben zu nehmen und standen im Austausch miteinander (Porsch et al. 2021). Infolgedessen war die Anordnung der Akteursgruppen im Mehrebenensystem des Schulwesens insoweit hierarchisch geprägt, als die Politik auf der höchsten, die Schulen auf der mittleren und die Familien auf der untersten Ebene agierten (Altrichter und Maag Merki 2016, S. 11; Brüsemeister 2020).

Reformen im Schulsystem gestalten sich in der Regel langwierig und können oft nur schwerfällig bewerkstelligt werden (Hartong und Nikolai 2016). Die neuartige, ad hoc hervorgetretene Situation durch die Coronapandemie erforderte kurzfristige Lösungen, welche in beiden Untersuchungszeiträumen aus Sicht der Akteursgruppen Schulen und Familien nicht zufriedenstellend gefunden wurden. Ausbleibende oder als unzureichend wahrgenommene politische Vorgaben bedingten, dass die Konstellationsstruktur in Teilen Freiraum für eine Deutungsstruktur im Bildungssystem machte. Die gemeinsame übergeordnete Wertevorstellung, welche eine derartige Akteurskonstellation bestimmte, war zunächst das Überstehen der Coronapandemie. Bei der Auffassung, wie diese gemeinsame Wertevorstellung am besten zu verfolgen sei, zeigten sich Unterschiede zwischen den Akteursgruppen.

Im ersten Untersuchungszeitraum befanden sich die drei Akteursgruppen in einer Beobachtungskonstellation, in welcher sich nach Schimank (2010) handelndes Zusammenwirken durch die wechselseitige Beobachtung und Anpassung des eigenen Verhaltens charakterisiert. Aus dieser Konstellation heraus suchten die AkteurInnen nach geeigneten Lösungen für die unerwartete Situation. Durch die permanente Veränderung des Umfeldes konnte sich im ersten Untersuchungszeitraum keine gefestigte Akteurskonstellation etablieren. Insbesondere zeigte sich, dass sich die Vielzahl involvierter politischer AkteurInnen in ihrem Handeln in den Monaten März bis Juni 2020 durch die Beobachtung anderer politischer AkteurInnen (auf höheren Ebenen, in anderen Bundesländern, in anderen westlichen Bildungssystemen) leiten ließen. Schulische und familiäre AkteurInnen warteten im ersten Erhebungszeitraum auf klare Regelungen seitens der Politik, welche – aus Sicht dieser zwei Akteursgruppen – nur in unzureichendem Maße ausgesprochen wurden oder gänzlich ausblieben.

Aufgrund einer fehlenden einheitlichen und klaren politischen Führung und der nach wie vor etablierten hierarchisch geprägten Struktur zeichnete sich auch im zweiten Erhebungszeitraum keine bindende Verhandlungskonstellation ab. Im Gegensatz zum ersten Untersuchungszeitraum wurde das hierdurch entstandene bildungspolitische Vakuum von den schulischen AkteurInnen und, in geringerem Maße, auch den Familien nun zunehmend dazu genutzt, ihre eigenen Interessen durchzusetzen und auf der Mikroebene Reformen anzustoßen (Hohmann 2016), die nicht nur auf das Überstehen der Coronapandemie, sondern auf bleibende Veränderungen, insbesondere der Verbesserung von Digitalisierung im Bildungswesen, zielen (Voss und Wittwer 2020; Wiesinger et al. 2020). Das sich durch kurzfristige politische Maßnahmen wie Schulschließungen, das Aussetzen des Präsenzunterrichts und die Einführung von Distanzunterricht verändernde Umfeld bedingte auch im zweiten Untersuchungszeitraum das Zusammenwirken der AkteurInnen, die ihre Handlungen gemäß den neuen Bedingungen des Umfeldes anzupassen versuchten.

Nachdem wir auf Basis der empirischen Analyse Rückschlüsse auf die Dynamiken in der Entwicklung von Akteurskonstellationen gezogen haben, ordnen wir im Folgenden die drei untersuchten Gruppen Schimanks vier partiellen Akteursmodellen zu.

Wie die Analyse der Presseberichterstattung zeigt, sieht sich die Politik selbst vornehmlich als Homo Sociologicus, in einer Rolle der Normenbefolgung und Strukturwahrung. Zum Beispiel wurde der Einbehaltung von hergebrachten Standards in Bezug auf Prüfungsleistungen, Versetzungen oder Abschlüsse – allen voran dem Abitur – sehr hohes Gewicht beigemessen und diese wurden nicht aufgeweicht, wie in Italien, oder fast gänzlich ignoriert, wie in Großbritannien (Kelly et al. 2021, S. 597). In den untersuchten Daten haben wir so gut wie keine Forderungen nach einer Aufweichung der Abiturstandards gefunden („Ein Abi zweiter Klasse will niemand“, Janssen 2020b), wohl aber nach einer Verbesserung der Digitalisierung. In Bezug auf den letztgenannten Punkt wurde das abwartende und vorsichtige Verhalten der politischen AkteurInnen als Identitätsbehauptung und damit kritisch wahrgenommen. Aus Sicht der schulischen und familiären AkteurInnen beschränkten sich die Handlungsintentionen der Politik beinahe ausschließlich auf kurzfristig orientierte Überbrückungslösungen, anstatt die Krise als Chance für den Wandel hin zu einem in Bezug auf die Erfordernisse der Digitalisierung besser aufgestellten Schulwesen zu nutzen. Durch die kognitiven und normativen Selbstansprüche der politischen AkteurInnen war es der Politik – so die Fremdwahrnehmung – in den Erhebungszeiträumen nicht möglich, eine Verhandlungskonstellation herbeizuführen, die bleibende Veränderungen institutionalisieren konnte. Aufgrund der sich ständig verändernden Bedingungen war es den politischen AkteurInnen auch nicht möglich, dem evaluativen Selbstanspruch gerecht zu werden, das Bildungssystem ohne schwerwiegende Veränderungen durch die Coronapandemie zu führen. Zwischen Wollen und Können der politischen AkteurInnen taten sich Differenzen auf.

Auch die Schulen nahmen im ersten Erhebungszeitraum die Rolle des Homo Sociologicus ein, aus der sie auf klare Vorgaben seitens der Politik warteten, um diese Normen als Handlungsmaxime zu nutzen. Herausforderungen ergaben sich insbesondere durch teilweise stärkere Arbeitsbelastung (Eickelmann und Drossel 2020) und Fortbildungsbedarf in Bezug auf die Entwicklung digitaler Kompetenzen (Hase und Kuhl 2021; Mußmann et al. 2021). Durch das Ausbleiben der erwarteten politischen Vorgaben begaben sich die Schulen aus der Rolle der Normenbefolgung in die eines Homo Oeconomicus, in der sie versuchten, nutzenorientiert und selbstständig Veränderungen herbeizuführen. Die Beeinflussungskonstellation führte dazu, dass der Handlungsdruck von der Politik auf die Schulen übertragen wurde, welche sich jedoch nicht ausreichend vorbereitet und unterstützt sahen (Brahm et al. 2021). Die sich ergebene Deutungsstruktur im zweiten Erhebungszeitraum führte dann dazu, dass sich die schulischen AkteurInnen in einer Situation wiederfanden, in welcher sie sich zunehmend genötigt sahen, Eigeninitiativen ergreifen zu müssen. Dieses selbstständigere Handeln der Schulen etablierte sich über den zeitlichen Verlauf und ermöglichte im zweiten Untersuchungszeitraum eine Beeinflussungskonstellation, in der die Schulen eingespielter und verfestigter agierten. Durch weitreichende Disparitäten der Schulen untereinander (Schiefner-Rohs und Glade 2019) wurden jedoch große Differenzen in der Ausgestaltung von Maßnahmen deutlich.

Die Familien nahmen über den gesamten Zeitraum vorwiegend die Rolle des „Emotional Man“ ein und sahen sich als Leidtragende der Situation. Sie fühlten sich von den beiden anderen Akteursgruppen, insbesondere in den Zeiten ohne oder mit eingeschränktem Präsenzunterricht, alleingelassen. Besonders bedeutend in diesem Zusammenhang sind die sozialen Disparitäten der Familien (Helm et al. 2021), welche sowohl von den Schulen als auch der Politik wahrgenommen und artikuliert wurden. Dennoch wurde von den Familien – so deren Selbstwahrnehmung – keine weitreichende Verbesserung im zeitlichen Verlauf verzeichnet (Bormann et al. 2021). Durch die starke Abhängigkeit von schulischen und politischen AkteurInnen waren die Familien nicht frei in ihrem Handeln nach den Emotionen und wurden durch normative und rationale Einflüsse beschränkt. Nichtsdestotrotz versuchten sie im zeitlichen Verlauf auch zunehmend Einfluss auszuüben und wandelten sich in die Rolle eines Homo Oeconomicus.

6 Fazit

In dieser Studie konnten wir aufzeigen, dass die empirisch untersuchte Presseberichterstattung in den zwei Untersuchungszeiträumen auf Veränderungen in der Selbst- und Fremdwahrnehmung der drei Akteursgruppen hindeutet. Auf Basis der Erkenntnisse haben wir (interpretativ) Rückschlüsse auf das Handeln und die Handlungsintentionen der Akteursgruppen und AkteurInnen gezogen, und Verschiebungen von Akteurskonstellationen beleuchtet. Um Handlungen und Handlungsintentionen besser verstehen, nachvollziehen und teilweise erklären zu können, haben wir uns auf Schimanks vier partielle Akteursmodelle gestützt und die drei untersuchten Gruppen entsprechend zugeordnet. Es muss an dieser Stelle noch einmal betont werden, dass wir im Rahmen der vorliegenden Analyse, auf deren Basis dann Folgerungen gezogen wurden, sekundäre Presseberichterstattung und keine Primärdaten ausgewertet haben. Risiken der Verzerrung der Berichterstattung durch ökonomische, politische, organisatorische und individuelle Faktoren haben wir durch die Auswahl der Stichprobe sowie die strikte Einhaltung von definierten Qualitäts- und Vertrauenswürdigkeitskriterien thematischer Analysen versucht zu minimieren.

Wir hoffen, dass wir mit der vorliegenden Analyse einen Beitrag dazu leisten können, Prämissen für zukünftige Szenarien, in denen Verschiebungen von Akteurskonstellationen zu erwarten sind, aufzustellen. Nun ist die Coronapandemie noch nicht überstanden und es ist davon auszugehen, dass diese auch mittel- und langfristig zu Veränderungen des Bildungs- und Schulwesens führen wird (Wiesinger et al. 2020) und Einfluss auf die weitere Entwicklung von Strukturdynamiken hat. Auch ohne Verhandlungskonstellation können Veränderungen, welche sich innerhalb einer Phase ergeben und kollektiv von den AkteurInnen akzeptiert werden, diese überdauern (Nikel und Haker 2016, S. 173; Schimank 2010). Es kann insofern erwartet werden, dass Veränderungen hin zu mehr und verbessert nutzbar gemachter Digitalisierung zumindest teilweise nachhaltiger Natur sind. Zukünftige Studien könnten unserer Meinung nach insbesondere dann spannende Ergebnisse zu Tage fördern, wenn sie entgegen unserer weitgefassten Konzeptionalisierung auf eine kleinteiligere Untersuchung der Akteursgruppe Politik zielen (Förschler 2018). Wie wir versucht haben zu veranschaulichen, bietet die thematische Analyse nach Braun und Clarke (2013, 2006) hierfür ein zugängliches und flexibles methodisches Repertoire, welches viel Potenzial zur Anwendung im Bildungskontext hat.