1 Einleitung

Geht es um Reform, Entwicklung oder Optimierung von Unterricht, sind in aktuellen Diskursen zwei Aspekte immer im Blick: soziale Organisation und mediale Technologie unterrichtlicher Vermittlung. Veränderungserwartungen richten sich zum einen auf den lehrkraftzentrierten Klassenunterricht, der bereits seit Beginn des 20. Jahrhunderts in der Kritik steht. Ihm werden Unterrichtsformen wie die Gruppenarbeit als Alternativen angesonnen, welche die Selbstständigkeit und Kooperation der Schüler:innen fördern sollen und als lernförderlich gelten (vgl. Borsch 2019). Zum anderen knüpfen sich bildungspolitische Innovationserwartungen an die Nutzung digitaler Medien (vgl. Dräger und Müller-Eiselt 2015; KMK 2016), die zu einem Entwicklungsmotor der Optimierung von Schule und Unterricht werden sollen (vgl. Gräsel et al. 2020). Die Forschung zum medienvermittelten, computergestützten Lernen und Lehren in gruppenunterrichtlichen Settings zeigen zwar durchgehend eine Wirksamkeit in Bezug auf die schüler:innenseitige Aneignung von Wissen und Kompetenzen (Chen et al. 2018). Wenig ist allerdings darüber bekannt, wie die Nutzung digitaler Geräte und Plattformen die sozialen Interaktionsprozesse zwischen Lehrpersonen und Schüler:innen modifiziert und wie insbesondere Lehrkräfte diejenigen Herausforderungen in situ bearbeiten, die sich ihnen bei der Realisierung von Gruppenarbeiten unter Einbezug digitaler Medien stellen (vgl. Aufenanger 2017; Cerratto Pargman 2019; Waffner 2020; Wolf und Herrle 2022) (Kap. 2). Zur Bearbeitung dieses Desiderats werden in diesem Beitrag die methodische Anlage (Kap. 3) und die Befunde (Kap. 4) einer rekonstruktiv-interaktionsanalytischen Untersuchung dargestellt, die der Frage nachgeht, ob und inwiefern sich der Umgang mit digitalen Medien als bedeutsam für die Form und Funktion von Interaktionspraktiken erweist, die Lehrkräfte zur Gestaltung Tablet-gestützter Gruppenarbeitssettings realisieren. Ermöglicht werden auf dieser Grundlage differenzierte Hypothesen über Wandel und Persistenz der soziomedialen Organisation und Praxis digitalisierten Unterrichts (Kap. 5).

2 Forschungsstand zum Unterricht mit digitalen Technologien im Format Gruppenarbeit

Aus einer interaktionstheoretischen Perspektive auf Unterricht (vgl. Proske et al. 2021) lässt sich Gruppenarbeit als ein Format verstehen, das sich durch folgende Rahmenkonstellation beschreiben lässt: In sozialer Hinsicht wird eine schulklassenförmige Lerngruppe in kleinere Gruppen geteilt; in sachlicher Hinsicht adressieren Arbeitsaufträge fachliche Kommunikations- und Produktionserwartungen an die Schüler:innen, in zeitlicher Hinsicht ist die gruppenförmige Interaktion in eine temporale Gesamtformatierung des Klassenunterrichts eingebettet; in räumlicher Hinsicht kann eine dezentrierte Anordnung von Schüler:innen und Mobiliar einerseits und eine gesteigerte Mobilität der Lehrkraft im gesamten Klassenraum anderseits beobachtet werden. Diese Rahmenkonstellation schafft spezifische Bedingungen für unterrichtliche Interaktionspraktiken.

Im erziehungswissenschaftlichen Diskurs ist unstrittig, dass digitale Medien die Entwicklung kooperativer LernprozesseFootnote 1 im Gruppenunterricht unterstützen können (vgl. Kammerl und Dertinger 2020). Unter dem Begriff Computer-Supported Collaborative Learning (CSCL) hat sich seit den 1990er-Jahren ein interdisziplinärer Forschungsstrang etabliert (vgl. Ludvigsen et al. 2021), der ursprünglich als Ansatz zur Untersuchung computergestützten kollaborativen Arbeitens zwischen räumlich distanzierten Gruppenmitgliedern aufgefasst wurde (vgl. Silverman 1995). In der Weiterentwicklung wurden unterschiedliche kollaborative Lernsettings in den Blick genommen, die als gemeinsame Klammer die Verwendung technologischer Artefakte aufweisen. In Bezug auf Lernwirksamkeiten konnten Chen et al. (2018) in ihrer Meta-Analyse für den Zeitraum 2000–2016 nachweisen, dass CSCL signifikante Effekte auf den Wissenszuwachs, die Kompetenzen sowie auf die Wahrnehmung des Lernens von Schüler:innen hat, für die sowohl die Nutzung von digitalen Geräten und Plattformen wie auch das kooperative Zusammenarbeiten verantwortlich seien. Problematisch bleibe an diesen Befunden jedoch, so Janssen und Kirschner, dass die „considerable variance in the effect sizes“ (2020, S. 784) nicht erklärt werden könne.

Angesichts dieser Erklärungslücke scheinen Studien weiterführend, die auf die operative Ebene der Nutzung digitaler Geräte in unterrichtlichen Gruppensettings sowie auf Vorstellungen und Praktiken des Unterrichtens mit digitaler Technologie fokussieren (vgl. Cerratto Pargman und Jahnke 2019). Einigkeit besteht inzwischen darüber, dass insbesondere dem Verhalten von Lehrpersonen eine herausgehobene Bedeutung für Verlauf und Ertrag digital gestützter Lehr-Lernsettings zukommt, wie Mercer und Fisher (1992) bereits in einer frühen videographischen Untersuchung betonen: Zum Nachvollzug von Varianten der kommunikativen Gestaltung digital gestützten Gruppenunterrichts wird es als erforderlich betrachtet, „to examine the total activity, including the way the teacher has set up the task and how she then supports its progress“ (S. 344). Dies deckt sich mit Befunden, die insgesamt zur Rolle von Lehrpersonen beim kooperativen Lernen vorliegen und die hervorheben, dass kommunikative Strategien der Gruppensteuerung (vgl. Gillies et al. 2008) und das adaptive Reagieren auf den Gruppenprozess (vgl. Pauli und Reusser 2000) wichtige lehrkraftvermittelte Erfolgsbedingungen darstellen. In diesem Zusammenhang weisen Fischer et al. (2013) auf die Bedeutung von spezifizierten „collaboration scripts“ hin, die lehrkraftseitig implementiert das kooperative Arbeiten der Schülerinnen und Schüler orientieren können. Dass allerdings der Einbezug digitaler Technologien Unterrichtskonzepte von Lehrkräften nicht radikal verändert, darauf verweisen die praxistheoretischen Untersuchungen von Cerratto Pargman (2019, S. 42; vgl. auch Wolf und Thiersch 2021). Digitale Technologien werden vor allem als funktionale Hilfsmittel zur Realisierung von „individual-centered teaching“ betrachtet und genutzt (Cerrato Pargman 2019, S. 42). Zudem lassen sich Lehrer*innentypen in Tabletklassen danach unterscheiden, ob sie Tablets eher als „teachers’ tool“ ansehen, mit denen Lehrpersonen digitale Ressourcen für den Unterricht sammeln und entwickeln, oder als „students’ tool“, das Schülerinnen und Schülern ermöglicht, ihre Lernprozesse eigenständiger gestalten zu können (vgl. Mårell-Olsson et al. 2019, S. 99 ff.).

Antworten auf die Fragen, „wie Lehrpersonen digitale Medien einsetzen und, ob durch deren Integration Implikationen für Unterrichtsformate und pädagogische Handlungspraktiken erkennbar sind“ (Waffner 2020, S. 77), vermitteln indes Studien von Greiffenhagen, in denen aus ethnomethodologisch-konversationsanalytischer Perspektive Praktiken von Lehrpersonen in computergestützten kollaborativen Settings (Partnerarbeit) untersucht werden. Gezeigt wird, wie ausgehend von aufgabenbezogenen Instruktionen das Agieren von Lehrkräften im Gruppenarbeitsprozess kontinuierlich auf die Bestätigung, Spezifizierung und Korrektur des Umgangs der Schüler:innen miteinander und mit der Computersoftware ausgerichtet ist (vgl. Greiffenhagen 2008). Wiederkehrende Interaktionspraktiken identifizierend weist Greiffenhagen (2012) nach, dass diese sowohl darauf bezogen sind, die Schülerinnen und Schüler in der Gruppenarbeit zum eigenständigen Arbeiten anzuregen, als auch darauf, ihre Arbeitsprozesse permanent zu überwachen und zu justieren. Angesicht der Beobachtung, dass Technologien „lead to incremental rather than revolutionary changes in classroom practices“ (vgl. a. a. O., S. 39), mahnt die Studie differenziertere Untersuchungen an. Mikroanalytisch angelegte Interaktionsstudien sind jedoch in der deutschsprachigen Forschung weiterhin die Ausnahme (vgl. Aufenanger 2017; Waffner 2020).

Die oben skizzierte Befundlage verdeutlicht, dass es erstens nicht die Technologie als solche ist, die Lernwirkungen erzeugt, sondern dass die lehrkraftseitige Gestaltung von Lernsettings als eine zentrale Gelingensbedingung digital gestützten kollaborativen Arbeitens in Gruppen anzusehen ist. Zweitens legen interaktionsbasierte Studien nahe, die lehrkraftseitigen Gestaltungspraktiken genauer daraufhin zu untersuchen, wie sich der Umgang mit digitalen Technologien als bedeutsam im Interaktionsprozess erweist und inwiefern sich aufgrund der unterrichtlichen Integration digitaler Technologien Veränderungen pädagogischer Praktiken und Prozesse abzeichnen. Hier schließt unsere Untersuchung an, in der wir die soziomediale Organisation von Tablet-gestütztem Gruppenunterricht lehrkraftseitig in den Blick nehmen. Aufgrund der Analyse eines Korpus videographischer Unterrichtsaufzeichnungen, die am Fall eines innovationsoffenen Gymnasiums in NRW erhoben wurden, wird die prozessförmige Ablauforganisation Tablet-gestützter Gruppenarbeitssettings und ihre soziale Produktion anhand wiederholt auftretender Lehrkraftpraktiken beschrieben. Auf dieser Grundlage werden nicht nur Einblicke in die soziomediale Grammatik Tablet-gestützter Settings kooperativen Lernens erzielt, sondern auch Aussagen darüber ermöglicht, in welcher Weise sich Digitalisierung als inkrementelle Transformation auf der Mikroebene des Unterrichtsgeschehens niederschlägt.

3 Vorgehen zur Untersuchung von Interaktionspraktiken im Tablet-gestützten Gruppenunterricht

3.1 Methodologische Grundannahmen

Grundlegend für die Untersuchung ist ein kommunikationstheoretisch-informiertes, ethnomethodologisches Verständnis von (Gruppen‑)Unterricht als Interaktionsordnung, die in ihrer Prozessförmigkeit durch die Verkettung von Interaktionspraktiken der Beteiligten in situ hergestellt wird (vgl. Hester und Francis 2000; Proske et al. 2021; Stahl 2012). Interaktionspraktiken sind durch ihre multimodale Form (vgl. Mondada 2016) sowie durch die Funktion bestimmt, die sie im Interaktionsprozess „zur Lösung grundlegender Aufgaben der Interaktionskonstitution“ (Deppermann et al. 2016, S. 1) erfüllen. Um die Spezifika des Tablets im Unterrichtskontext zu berücksichtigen, knüpfen wir an soziomaterielle Diskurse der Unterrichtsforschung an, in denen die Relevanz von Objekten für die unterrichtliche Interaktionsordnung und die Gestaltung von Interaktionspraktiken herausgestellt wird (vgl. Kalthoff und Röhl 2011; Rabenstein 2018). Ihnen sind bestimmte Skripte als Handlungsprogramme in Bezug auf ihre Nutzbarkeit eingeschrieben, d. h. Tablets sind mit bestimmten ‚Affordances‘ (Gibson 1986) verbunden. Einerseits induzieren sie bestimmte Handlungen, andererseits wird ihnen im Handlungszusammenhang eine bestimmte Bedeutung und Funktion zugewiesen (vgl. Kalthoff 2014, S. 875). Für die „Mittlerfunktion“ (Proske und Niessen 2017, S. 6) des Tablets als digitales Unterrichtsmedium ist mit Blick auf sein „Technikpotenzial“ (Krämer 2008, S. 115) kennzeichnend, dass es die Prozesse der Zirkulation von Wissen im Klassenzimmer und zwischen Klassenzimmer und Welt neu zu organisieren ermöglicht, was in Bezug auf sein „Sozialpotenzial“ (Krämer 2008, S. 115) mit Konsequenzen für Interaktionsprozesse und -praktiken verbunden sein kann. Es stellt sich daher die empirische Frage, inwiefern sich welcher Umgang mit Tablets als folgenreich für den Gruppenunterricht erweist und Interaktionspraktiken mediatisiert (vgl. Androutsopoulos 2016). Mit dem Begriff ‚Mediatisierung‘ wird dabei der kulturelle sowie soziale Wandel bezeichnet, der sich durch die kommunikative Nutzung von Medien in allen Bereichen der Gesellschaft – so auch auf der Mikroebene kommunikativer Praktiken (vgl. Krotz 2007) – niederschlägt.

3.2 Datenkorpus, Datenerhebung und Datenauswertung

Die dargestellten Befunde sind Resultat einer Teilstudie des Projekts „Tablets im Unterricht (TabU)“, das in Kooperation der Universitäten Wuppertal und Köln seit Herbst 2019 durchgeführt wird. Die Daten wurden an einem Gymnasium in NRW erhoben, in dem Klassen der Sekundarstufe I regelmäßig über mehrere Schuljahre mit Tablets (iPads) ausgestattet werden (sog. Tabletklassen). Das Material setzt sich aus videographierten Unterrichtsmitschnitten einer neunten Tabletklasse in drei Fächergruppen (Geschichte & Sozialwissenschaften, Sprachen, Mathematik & Naturwissenschaften) zusammen. Der Umfang der Erhebung beträgt sieben Unterrichtseinheiten (insgesamt knapp 12 h Unterrichtsmitschnitte). Zum Erhebungszeitpunkt verfügen die Schülerinnen und Schüler seit knapp 1,5 Jahren alle über ein iPad.

Aufgrund ihrer schulprogrammatischen Selbstbeschreibung und unserer Feldbeobachtungen lässt sich festhalten, dass die Schule die Integration von Tablets in den Unterricht offensiv betreibt, was auch ablesbar ist an der erfolgreichen Bewerbung in einer nationalen Digitalisierungsinitiative. Dass es der Schule dabei nicht um einen allumfassenden Wandel des Schulehaltens durch den Einsatz digitaler Medien geht, darauf verweist bereits das Medienkonzept der Schule, in dem von einer „Ergänzung“ und „teilweise(m) Ersatz“ der vorhandenen medialen Werkzeuge, nicht aber bereits von einer grundlegenden Modifikation des Unterrichts durch Tablets gesprochen wird (vgl. Schule X 2019). Bereits auf der Ebene institutioneller Selbstbeschreibung gibt es hier Indizien für typische Verläufe digitaler Transformationen (vgl. Schrape 2021, S. 30 ff.) als „inkrementelle Veränderungsprozesse“ (vgl. Schrape 2021, S. 41; vgl. auch Dolata 2011). Die Schule wurde ausgewählt, um an ihr exemplarisch zu untersuchen, wie im Kontext dieses schulprogrammatischen Verständnisses von Digitalisierung der Einbezug von Tablets auf Interaktionsebene im Gruppenunterricht vollzogen wird und welche Art von Wandel damit verbunden ist.Footnote 2

Das Unterrichtsgeschehen wurde mit zwei Videokameras und mehreren Audioaufzeichnungsgeräten erhoben, deren Ausrichtung der komplementären Grundanordnung von Schüler:innen und Lehrkräften im Feld entspricht (vgl. Herrle und Breitenbach 2016). Ermöglicht werden sollte auf diese Weise eine „in-depth, video-based analysis of people interacting and learning with technology“ (Birmingham et al. 2002, S. 156).

Anschließend an die methodologischen Grundannahmen unseres Projekts wurden ethnomethodologisch-interaktionsanalytische Ansätze der Datenauswertung genutzt, die in der mikroethnographischen und konversationsanalytischen Unterrichtsforschung entwickelt wurden (vgl. Breidenstein und Tyagunova 2021; Erickson 1992) und sich auch für die mikroanalytische Untersuchung natürlicher Interaktionen im Bereich Computer-Supported Collaborative Learning als ertragreich erwiesen haben (vgl. Barron et al. 2013; Uttamchandani und Lester 2021). Verfolgt wurde bei der Auswertung eine Top-Down-Strategie (vgl. Herrle 2020): In einem ersten Schritt wurde die Ablauforganisation der videographierten Unterrichtsmitschnitte segmentierungsanalytisch untersucht (vgl. Erickson 2006), um Interaktionsinventare zu erstellen, denen das Auftreten und die Kontextualisierung von Gruppenarbeitssettings als Segmente im Interaktionsablauf entnommen werden kann. In einem zweiten Schritt wurden sämtliche Gruppenarbeitssettings vergleichend auf ihre interne Ablauforganisation hin untersucht, um rekurrent auftretende Prozessmuster zu identifizieren. In einem dritten Schritt wurde sequenzanalytisch rekonstruiert (vgl. Heath et al. 2010), mit welchen Praktiken sich Lehrkräfte auf den Umgang mit welchen Anforderungen der Interaktionsgestaltung in den verschiedenen Phasen der Gruppenarbeit beziehen. Über die wiederholte Kontrastierung von Praktiken und deren Kontexte konnte festgestellt werden, welche Praktiken und Anforderungen fallübergreifend vorzufinden sind und welche form- und funktionsbezogenen Besonderheiten deren Auftreten in spezifischen Kontexten ausmachen (vgl. Kelle und Kluge 2010).

Die in Abschn. 4.2 angeführten Fallbeispiele entstammen dem Politik- und Englischunterricht. Dort geht es inhaltlich darum, Wissen zum Institutionensystem der EU zu generieren und in einem digitalen Schaubild abzubilden (Politik) sowie subjektive Vorstellungen eines ‚perfect life‘ in einer digitalen Bilder-Collage zusammenzufassen (Englisch).

4 Befunde zur soziomedialen Organisation Tablet-gestützter Gruppenarbeit

Die Befunde unserer Untersuchung zeigen, dass sich das Interaktionsgeschehen im Gruppenunterricht durch die Nutzung von Tablets weder grundlegend modifiziert, noch dass es sich als vollständig persistent erweist. Vielmehr sind Verschränkungsverhältnisse von Persistenz und Wandel zu beobachten, die das Geschehen kennzeichnen. So zeigt sich, dass sich die soziale Ordnung im Tablet-gestützten Gruppenunterricht nahezu unverändert reproduziert (Abschn. 4.1). Betrachtet man jedoch die darin eingelassenen Interaktionspraktiken in sequenzanalytischer Auflösung, werden unterschiedliche Varianten rekonstruierbar, in denen das Technikpotenzial von Tablets spezifische Folgen für die soziomediale Organisation Tablet-gestützter Gruppenarbeit hat und Interaktionspraktiken mediatisiert (Abschn. 4.2).

4.1 Persistente Ordnung des Unterrichtsablaufs

Als charakteristisch für den Ablauf Tablet-gestützter Gruppenarbeiten im Datenkorpus erweist sich eine soziale Ordnung, die in der regelmäßigen Abfolge dreier Segmente besteht: (1) Etablieren von Produktionsbereitschaft, (2) Herstellen von Wissensprodukten und (3) Begutachten von Wissensprodukten. In funktionaler Hinsicht materialisiert sich dabei eine Ordnung, die als IRE-Schema durch eine Vielzahl interaktionsanalytischer Studien als konstitutiv für Unterrichtsinteraktionen – auch ohne Einbezug digitaler Medien – ausgewiesen wurde (vgl. Cazden 1986): die Verknüpfung von Operationen, die darauf bezogen sind, die Produktion von Wissen aufgabenbezogen zu initiieren (Initiation), zur Darstellung zu bringen (Reply) und die Relation dieser beiden Interaktionseinheiten zu bewerten (Evaluation) (vgl. Mehan 1979). Während in lehrgesprächsförmigen Settings einzelne Aktivitäten diese Funktionen übernehmen, fungieren in gruppenarbeitsförmigen Settings allerdings aufeinander folgende Interaktionssegmente und die in ihnen produzierten Kooperationszusammenhänge als Initiation, Reply und Evaluation. Als charakteristisch für die Ablauforganisation der untersuchten Gruppenarbeiten erweist sich somit eine zeitlich-ausgedehnte Realisierung des für pädagogische Kommunikationen konstitutiven IRE-Schemas. Lehrkraftseitig zeigen sich in den aufeinander folgenden Interaktionssegmenten insgesamt acht unterschiedliche Interaktionspraktiken:

Als fallübergreifend bedeutsam für die Etablierung von Produktionsfähigkeit konnte die Praktik des (1) Instruierens rekonstruiert werden. Um Arbeitsfähigkeit herzustellen, werden den Schüler:innen materielle, soziale, epistemische, zeitliche oder räumliche Aktivitätsparameter zur Wahl gestellt oder vorgegeben, die den Möglichkeitsraum ihres Agierens spezifizieren. Flankiert wird das Instruieren in manchen Fällen von der Praktik des (2) Sondierens, die ebenso der Etablierung von Produktionsfähigkeit dient und das Problem bearbeitet, herauszufinden, inwiefern es erwartbar ist, dass Schüler:innen ein geplantes Handlungsprogramm realisieren können. Generiert werden beim Sondieren Informationen, mit denen Diagnosen über „lern- und unterrichtsrelevante Sachverhalte“ (Schrader 2014, S. 866) und über „die je individuellen Ausgangslagen“ und „Lernpotentiale“ (Bräu 2007, S. 178) gestellt werden können, um die Planung und (situative) Realisierung von Aktivitäten daran auszurichten.

Praktiken von Lehrkräften während der gruppenförmigen Herstellung von Wissensprodukten sind darauf ausgerichtet, das schüler:innenseitige Verhalten mit handlungsprogrammatischen Vorgaben abzugleichen. Während sich die Lehrkraft mit Praktiken des (3) Observierens zuschauend auf die Schüler:innen im Klassenzimmer bezieht und ihre Aufmerksamkeit aus der Ferne zwischen den Gruppen alterniert, bezieht sie sich mit Praktiken des (4) Inspizierens erkundigend auf das Agieren innerhalb der jeweiligen Gruppen. Dabei ist ihre Aufmerksamkeit auf bestimmte Aktivitäten fokussiert, die aus räumlicher Nähe visuell und/oder verbal begutachtet werden. Dies bildet dann die Grundlage für informelle Diagnosen (vgl. Schrader 2014, S. 867) von Lernprozessen. Mit Praktiken des Unterstützens und Intervenierens werden wiederum bedarfsweise Mikroadaptionen von Aktivitätsvektoren und Handlungsprogrammen vollzogen (vgl. Greiffenhagen 2012). Konstitutiv für Praktiken des (5) Unterstützens ist, dass Lehrkräfte – ausgehend von einem schüler:innenseitig angezeigten Unterstützungsgesuch – bei der Bearbeitung von Problemen während der Herstellung von Wissensprodukten behilflich werden. Im Unterschied dazu werden Praktiken des (6) Intervenierens von den Lehrkräften initiiert, wenn diese beim Beobachten des Geschehens eine Abweichung schüler:innenseitigen Verhaltens von handlungsprogrammatischen Erwartungen feststellen und diese korrigieren.

Das abschließende Interaktionssegment basiert lehrkraftseitig auf der Praktik des (7) Evaluierens. Auch in Gruppenarbeitssettings wird mit dieser Praktik auf die Notwendigkeit Bezug genommen, Wissensprodukte entlang der Unterscheidung richtig/falsch zu bestimmen und somit Aneignung festzustellen und das schüler:innenseitig generierte Wissen als offizielles Unterrichtswissen zu autorisieren (vgl. Proske 2003, S. 159). Verbunden ist dies mit der Praktik des (8) Distribuierens. Sie reagiert auf das Problem, partielles (Gruppen‑)Wissen allen Schüler:innen zugänglich zu machen, gerade weil in Gruppenarbeiten nicht alle an der Erarbeitung aller Wissensprodukte beteiligt gewesen sind. Dabei werden Schüler:innen in unterschiedlicher Weise in entsprechende Aktivitäten des klassenöffentlichen Berichtens und Präsentierens eingebunden.

4.2 Modifizierte Praktiken der Unterrichtsgestaltung

Die Nutzung von Tablets hat im untersuchten Feld nicht vollständig veränderte Interaktionsordnungen etabliert oder gänzlich neue Lehrkraftpraktiken hervorgebracht. Vielmehr zeigt sich das Technikpotenzial von Tablets in sozialen Modifikationen, die als Mediatisierung der oben angeführten Interaktionspraktiken erkennbar werden. Funktional bezogen sind diese mediatisierten Praktiken einerseits auf den Umgang mit veränderten Möglichkeiten schüler:innenseitiger Partizipation am Unterrichtsgeschehen und andererseits auf den Umgang mit veränderten Möglichkeiten des Zugangs zu bzw. der Darstellung von Wissen. Aus Platzgründen beschränken wir uns in diesem Beitrag auf die Darstellung von Befunden zu letztgenanntem Aspekt. Anhand von Fallbeispielen wird illustriert, wie in einzelnen Situationen mit fallübergreifend auftretenden Anforderungen umgegangen wird, die sich dem Lehrer:innenhandeln aufgrund der technikinduzierten Veränderung (a) des schüler:innenseitigen Zugangs zu Wissensressourcen und (b) der materiellen Verfasstheit von Wissensprodukten stellen.

4.2.1 Praktiken im Umgang mit veränderten Zugängen zu Wissensressourcen

Dass sich mit dem Einbezug von internetfähigen Tablets in den Gruppenunterricht der Zugang zu Wissensressourcen verändert, ist empirisch bereits bei der Etablierung von Gruppenunterricht erkennbar. So entfaltet das Technikpotenzial von Tablets eine soziale Bedeutsamkeit für Praktiken des Instruierens, indem Selektionsprobleme oder -risiken von Schüler:innen bei der Auswahl von Quellen und Applikationen zur Bearbeitung der jeweiligen Aufgaben von der Lehrkraft antizipiert und zum Anlass für das Vorgeben, Vereinbaren oder Freigeben von digitalen Werkzeugen gemacht werden. Die in unserem Korpus rekonstruierten Varianten unterscheiden sich etwa in den Freiheitsgraden, die den Schüler:innen für die selbstständige, Tablet-gestützte Selektion von Wissensquellen eingeräumt werden: Während die zu nutzende Quelle in manchen Fällen vorgeschrieben wird, z. B. wenn zur gruppenförmigen Bearbeitung einer Aufgabe lediglich die Angaben im digitalen Schulbuch genutzt werden sollen, werden mögliche Quellen in anderen Fällen gänzlich freigegeben. In weiteren Fällen zeigt sich ein Mittelweg, indem auf alternative Quellen verwiesen wird, die für die Recherche genutzt werden können.

Auch während des gruppenförmigen Arbeitens erweist sich der durch die Tabletnutzung modifizierte Zugang zu Wissensressourcen als sozial bedeutsam für lehrkraftseitige Praktiken der Unterrichtsgestaltung. So beziehen sich Lehrkräfte einerseits intervenierend auf die schüler:innenseitige Nutzung von Quellen, indem sie die vollzogene Auswahl ggf. als ungeeignet kommentieren. Andererseits beziehen sich Lehrkräfte unterstützend auf die Bearbeitung von Problemen, die für Schüler:innen nicht nur im Zusammenhang der Klärung von Arbeitsaufträgen oder bei inhaltlichen Nachfragen entstehen, wie Schildhauer (2019) für ‚traditionelle‘ Gruppenunterrichtsformate gezeigt hat. Unterstützungsbedarf in Kontexten Tablet-gestützter Gruppenarbeit resultiert auch aus der schüler:innenseitigen Verfügbarkeit(serwartung) einer Pluralität medialer Wissensressourcen – etwa dann, wenn verschiedene Internetquellen unterschiedliche Informationen liefern, oder wenn bestimmte Websites oder Begriffe in Suchmaschinen schulorganisationsseitig gesperrt wurden.

Das Problem konkurrierender Wissensressourcen lässt sich exemplarisch an einer Szene aus dem Politikunterricht veranschaulichen, in der die Schüler:innen die Anzahl der Sitze im Europäischen Rat recherchieren (vgl. Abb. 1 und 2)Footnote 3.

Abb. 1
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Konkurrierende Angaben (1)

Abb. 2
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Konkurrierende Angaben (2)

Begleitet durch eine Zeigegeste auf die Bildschirmoberfläche ihres Tablets weist Hanna die Lehrkraft auf eine Diskrepanz hin, die durch die Nutzung unterschiedlicher Wissensressourcen im Internet entstanden ist (vgl. Abb. 1): hier 28, woanders 30. Die Lehrkraft kommuniziert zunächst Orientierungs- bzw. Klärungsbedarf – unterbrochen durch Lea-Sophie, die das Problem konkretisiert (28 Sitze bei 30 Mitgliedern) und dabei auf die klassenräumliche Lokalisierung der jeweiligen Wissensquellen von Gruppenmitgliedern verweist (vgl. Abb. 2, Still 2 und 3). Nachdem sich die Lehrkraft darüber Klarheit verschafft hat, welches politische Organ die Gruppe mit welcher Quelle bearbeitet, qualifiziert sie eine der durch das Tablet sichtbar gemachten Wissensquellen als nicht hilfreich zur Beantwortung der Fragestellung („vergiss das was du da siehst“) und reduziert auf diese Weise zunächst die durch die nicht-hierarchische Pluralisierung von Wissensquellen erzeugte Komplexität. Im Anschluss an die in Abb. 1 und 2 nur ausschnitthaft dokumentierte Sequenz klärt die Lehrkraft mit der Gruppe die Differenz zwischen Zusammensetzung, Sitz und Stimmrecht im Europäischen Rat, ohne jedoch auf das Problem einer digital ermöglichten bzw. sichtbar gewordenen Diffusität der Informationslage einzugehen.

Beim unterrichtlichen Tabletgebrauch werden lehrkraftseitige Interventions- und Unterstützungspraktiken aber nicht nur im Sinne einer Komplexitätsreduktion oder Relimitierung technisch entgrenzter Zugänge zu Wissensressourcen mediatisiert. Umgekehrt kann es auch passieren, dass technisch bereits vollzogene Limitierungen der Tablets – hier durch schuladministrativ vorab eingebaute Sperren – Lehrkraftpraktiken in der Weise mediatisieren, dass technische Beschränkungen aufgehoben oder umgangen werden, sofern sich diese als Problem für die schüler:innenseitige Herstellung von Wissensprodukten erweisen. Dies zeigt sich beispielsweise in einer Kleingruppenarbeit im Englischunterricht, wo die Schüler:innen eine grafische Darstellung ihres ‚perfect life‘ erzeugen sollen. In der Situation ist eine Schülerin von der administrativ verfügten technischen Einschränkung von Suchbegriffen betroffen. Die vergebliche Suche nach dem englischen Begriff ‚couple‘ wird dabei zunächst zum Gegenstand von ironisch-gebrochenen Unterstützungspraktiken der Lehrperson (vgl. Abb. 3). Auf die scherzhaft gestellte Frage der Lehrkraft, ob ein Verhaltensdefizit der Schülerin Ursache der Zugangssperre sei, reagiert diese mit dem mit Nachdruck vorgetragenen Verweis, dass alle Schüler:innen von der Sperre betroffen seien. Statt genauer die Ursache des Problems zu erforschen, finden sich dann jedoch alle Beteiligten schnell mit der technikinduzierten Beschränkung ab und suchen ad hoc eine Alternative, um die Arbeitsfähigkeit wiederherzustellen. Diese besteht hier im Umschiffen der Sperre durch die Wahl alternativer Suchbegriffe – wobei sich am Vorgehen anderer Mitschüler:innen orientiert wird.

Abb. 3
figure 3

Eingeschränkte Recherchemöglichkeiten

4.2.2 Praktiken im Umgang mit der veränderten materiellen Verfasstheit von Wissensprodukten

Dass Schüler:innen Tablets für die gruppenförmige Bearbeitung von Aufgaben nutzen, hat Konsequenzen für Praktiken, mit denen sich Lehrkräfte über den aktuellen Status der Herstellung von Wissensprodukten in den verschiedenen Gruppen informieren. So fungiert das Tablet als Erweiterung des Untersuchungsbereichs, auf den sich Praktiken des Inspizierens beziehen, um zu prüfen, inwiefern das sukzessiv erarbeitete Wissensprodukt den lehrkraftseitigen Erwartungen entspricht (zu allgemeinen Praktiken der Kontrolle von Arbeits‑/Lernprozessen im individualisierenden Unterricht vgl. Bräu 2007).

Illustrieren lässt sich dies exemplarisch an einer Szene aus dem Politikunterricht, in der die Lehrkraft ihre Aufmerksamkeit bei Praktiken des Inspizierens auf das sichtbare Display des Tablets richtet (vgl. Abb. 4). Hierzu positioniert sie sich halb-links hinter einem Schüler. Dieser interpretiert die Tablet-orientierte Körperhaltung und Aufmerksamkeitsausrichtung der Lehrkraft (vgl. Abb. 4, Still 1–3) als ein Sich-Erkundigen über den Arbeitsstand der Gruppe und als potenziellen Abgleich mit Handlungserwartungen, indem er ungefragt Auskunft über ihre aktuelle Beschäftigung gibt (‚Rollen in der Gruppe verteilen‘, vgl. Abb. 4, Still 4), und diese Beschäftigung als Teil des geforderten Handlungsprogramms rahmt (‚Dokument in Gruppenarbeit erstellen und daheim fertig machen‘). Zudem verweist er implizit darauf, dass das Tabletdisplay aktuell keine Auskunft über das Gruppenengagement zulässt – und die Lehrkraft sich somit am falschen Suchbereich orientiert. Deutlich wird an diesem Beispiel, dass die „domain of scrutiny“ (Goodwin 1994, S. 606) im Tablet-begleiteten Unterricht multimodal erweitert wird – indem nicht nur anhand verbaler und nonverbaler Aktivitäten der Schüler:innen, sondern auch anhand der visuellen Oberfläche der Tablets nach Anzeichen für das Engagement der Schüler:innen bzw. für die Konstruktion von Wissensprodukten gesucht wird. Eine solche Suche nach Spuren des Arbeits- bzw. Lernprozesses kann auch klassenöffentlich erfolgen, indem Schüler:innen in manchen Fällen unseres Korpus dazu aufgefordert werden, ihren aktuellen Arbeitsstand über den Beamer für alle zugänglich zu machen. Ein derartiges klassenöffentliches Inspizieren anhand individueller Notizen wird dann zur formativen Evaluation, bei der z. T. individuelle Arbeitsnotizen durch Fragen bzw. -Rückmeldungen der Lehrperson als jederzeit rechtfertigungspflichtig und öffentlich darstellbar behandelt werden.

Abb. 4
figure 4

Erweiterung von Untersuchungsbereichen

Am Ende der Arbeitsphase wird die digitale Materialität von Wissensprodukten Referenzpunkt von Praktiken, mit denen lehrkraftseitig bilanziert wird, was in den Gruppenarbeiten produziert wurde. So werden Praktiken des Distribuierens und Evaluierens mediatisiert, indem Gruppenmitglieder die dateiförmigen Wissensprodukte der Lehrkraft sowie dem Rest der Klassengruppe ad hoc verfügbar machen. Im Unterschied zu Gruppenarbeiten ohne Tablets ist damit eine Beschleunigung von Arbeitsabläufen im Unterricht verbunden, wie exemplarisch anhand eines Ausschnitts aus dem Politikunterricht nachvollzogen werden kann (vgl. Abb. 5 und 6). Unterrichtsorganisatorisch stehen Lehrpersonen bei der klassenöffentlichen Besprechung von Arbeitsergebnissen vor den Herausforderungen, erstens zu entscheiden, wie viel Aufmerksamkeit einzelnen Gruppenergebnissen zuteilwird (und welche Ergebnisse nicht klassenöffentlich behandelt werden), wie die Gruppenarbeiten zweitens den anderen Gruppenmitgliedern zur Verfügung gestellt werden und ob und inwiefern es drittens eine evaluierende Rückmeldung an die Gruppen gibt. Im hier angeführten Fall fordert der Lehrer die Schüler:innen auf, ihm die Produkte der Gruppenarbeit zu schicken (vgl. Abb. 5). Während diese Pause machen, bleibt der Lehrer sitzen. Einzig seine rechte Hand führt Wischbewegungen auf dem Tablet aus (vgl. Abb. 6, Still 1).

Abb. 5
figure 5

Beschleunigung von Arbeitsabläufen (1)

Abb. 6
figure 6

Beschleunigung von Arbeitsabläufen (2)

Unmittelbar nach der Pause – die Schüler:innen haben alle wieder Platz genommen –informiert der Lehrer (vgl. Abb. 6, Still 2) die Klasse darüber, dass er in der kurzen Pause sämtliche Gruppenergebnisse evaluativ gesichtet und hinsichtlich zweier Kriterien (‚Übersichtlichkeit & Korrektheit‘) zwei ‚Favoriten‘ identifiziert habe. Die technisch-mediale Konnektivität der Tablets ist damit die Voraussetzung dafür, dass der Lehrer die Distribution der von ihm favorisierten Wissensprodukte komplett übernehmen kann: Das Tablet in den Händen der Lehrkraft ist in dieser Konstellation zum interaktionsorganisatorischen Garanten für die Verfügung über die klassenöffentliche Wissensdistribution geworden. Das anschließende Teilen und Projizieren seines Bildschirms (vgl. Abb. 6, Still 2) ist die zeitlich beschleunigte Form, das Wissensprodukt einer Gruppe der ganzen Klasse zur Verfügung zu stellen und unterrichtsöffentlich weiter prozessierbar zu machen. Die unterrichtsorganisatorische Beschleunigung wird auch an der Raum-Körper-Konstellation beim Evaluieren und Distribuieren sichtbar: Das konsequente Verbleiben der Lehrkraft im Umkreis des Pults für das Einsammeln der Gruppenergebnisse, die schnelle Evaluation der digital zugestellten Gruppenergebnisse in Kombination mit dem sofortigen Distribuieren und klassenöffentlichen Zeigen ausgewählter Schaubilder, ohne sich dabei von seinem Pult erheben zu müssen, erzeugt eine Beschleunigung, die gängige Praktiken des Einsammelns und Aushängens der Ergebnisse modifiziert und dabei Zeiträume für die Herstellung materieller Bedingungen pädagogischer Aktivitätszusammenhänge minimiert sowie Möglichkeiten für die Etablierung alternativer Aktivitäten einschränkt (vgl. Doyle 2006, S. 104).

5 Persistenz und Wandel im Tablet-gestützten Gruppenunterricht: Ertrag, Limitationen und Ausblick

Ertrag und Limitationen der hier dargestellten Untersuchung können in dreierlei Hinsicht bilanziert werden:

5.1 Inkrementelle Transformation digitalisierten (Gruppen‑)Unterrichts

Trotz bildungspolitisch und mediendidaktisch genährter Fortschritts- und Optimierungserwartungen (vgl. Aufenanger 2022), die an Schulen durch den Einbezug digitaler Medien herangetragen werden, vollzieht sich digitaler Wandel im Gruppenunterricht nicht als disruptiver Bruch. Vielmehr bestätigen unsere Analysen zur Interaktionsorganisation den in soziologischen (vgl. Schrape 2021), erziehungswissenschaftlichen (vgl. Sahlström et al. 2019; Wolf und Thiersch 2021) und bildungshistorischen (vgl. Selwyn 2017) Studien herausgestellten Befund, dass digitale Wandlungsprozesse eher in „incremental terms“ (Selwyn 2017, S. 182) zu fassen sind – als graduelle und nicht auf allen Ebenen zugleich stattfindende Modifikationen des Unterrichts. In der von uns untersuchten Schule zeigt sich dies nicht nur auf der Ebene des Unterrichtsvollzugs, sondern auch auf schulprogrammatischer Ebene: Trotz betonter Innovationsoffenheit lassen sich keine expliziten Hinweise auf eine kurzfristige und radikale Veränderung des bestehenden „teaching model“ bzw. der „pedagogical vision“ finden – ein Befund, den auch Cerrato Pargman in Bezug auf innovationsoffene Lehrpersonen berichtet (2019, S. 42). Vor diesem Hintergrund kann begründet vermutet werden, dass sich die Form inkrementellen Wandels als typisch für den Einbezug digitaler Medien an innovationsoffenen Schulen erweist. Diese Vermutung müsste allerdings anhand interaktionsanalytischer Untersuchungen in weiteren Schulen, mit ähnlichen und abweichenden schulprogrammatischen Innovationsansprüchen, und in anderen Unterrichtsformaten und -fächern geprüft werden. Zu untersuchen ist zudem, welche darüberhinausgehenden Mediatisierungsverhältnisse im Spannungsfeld zwischen Persistenz und Wandel im Unterricht emergieren und was über ihre quantitative Verbreitung im Schulkontext ausgesagt werden kann.

5.2 Verschränkung von Persistenz und Wandel als Merkmal inkrementeller Transformation

Charakteristisch für die hier rekonstruierte inkrementelle Transformation erweist sich eine Verschränkung von Persistenz und Wandel auf verschiedenen Ebenen der Interaktionsorganisation: Während sich der Tablet-gestützte Gruppenunterricht auf der Ebene der Ordnung des Interaktionsablaufs in der bekannten, hier aber zeitlichen gedehnten IRE-Struktur reproduziert, sind auf der Ebene lehrkraftseitiger Interaktionspraktiken soziomediale Modifikationen festzustellen. Dass wir in unserer Studie Tablet-induzierte Mediatisierungen auf der Ebene von Interaktionspraktiken, nicht aber auf der Ebene der ablaufbezogenen Interaktionsordnung rekonstruieren konnten, heißt nicht, dass Digitalisierung nicht auch die soziale Ordnung des Unterrichts affizieren kann. Um dieser Frage nachzugehen, bietet die hier vorgestellte mikroanalytische Perspektivierung ein methodologisches Instrumentarium, dass eine differenzierende Beobachtung digitaler Transformationsgestalten und -prozesse ermöglicht. Um weitere Formen der Mediatisierung von Interaktionspraktiken und -prozessen zu rekonstruieren und Besonderheiten Tablet-gestützter Unterrichtsformate noch stärker in den Blick zu nehmen, wäre es indes aufschlussreich, Interaktionssettings, in denen andere oder gar keine digitalen Technologien eingesetzt werden, kontrastierend zu untersuchen.

5.3 Digitaler Wandel im Gruppenunterricht durch mediatisierte Praktiken der Unterrichtsgestaltung

Über vorliegende Befunde von Interaktionsstudien zur Mediatisierung von lehrkraftseitigen Gestaltungspraktiken im digitalisierten Gruppenunterricht hinaus (vgl. Greiffenhagen 2008, 2012) besteht ein Ertrag unserer Studie darin, zu zeigen, wie Nutzungsoptionen von Tablets als Technikpotenzial „in unterschiedliche soziale Praktiken integriert“ (Weich 2019, S. 13) und damit zu einem Sozialpotenzial transformiert werden. Aus dem unterrichtlichen Tabletgebrauch resultieren einerseits veränderte Zugänge zu Wissensressourcen; andererseits ändert sich die materielle Verfasstheit der von den Schüler:innen erzeugten Wissensprodukte. Beide Modifikationen führen zur Mediatisierung lehrkraftseitiger Interaktionspraktiken in Gruppenarbeitssettings, die auf den Umgang mit veränderten Anforderungen der Unterrichtsgestaltung bezogen sind: Insofern das Tablet (über seine Konnektivität) die unterrichtliche Zugriffsmöglichkeiten auf Wissensressourcen neu strukturiert, sind Lehrpersonen mit der Anforderung konfrontiert, legitime Nutz- und Suchbereiche zu selegieren und dies den Schüler:innen instruierend zu vermitteln. Zudem zeigen sich neue Anforderungen an Praktiken des Intervenierens und Unterstützens, insofern die Nutzung ungeeigneter Wissensquellen korrigiert wird, inhaltliche Diskrepanzen bei der simultanen Nutzung verschiedener Wissensquellen bearbeitet werden, selbständig durch die Schüler:innen recherchiertes Wissen als relevantes Unterrichtswissen ratifiziert wird, aber auch technische Begrenzungen des Zugangs so überwunden werden, dass die Schüler:innen weiterarbeiten können. Auch in Bezug auf die Tablet-induzierte Veränderung der Verfasstheit der von den Schüler:innen hergestellten Wissensprodukte sind Mediatisierungen lehrkraftseitiger Interaktionspraktiken zu beobachten: Das Tablet und das auf ihm erscheinende Wissens(zwischen)produkt wird zur Referenz, wenn Lehrer:innen inspizierend den Arbeitsprozess der Schüler:innen beobachten; die dateiförmige Materialität der schüler:innenseitigen Arbeitsprodukte wirkt sich zudem auf die lehrkraftseitigen Praktiken des Distribuierens und Evaluierens aus, insofern sie die beschleunigte Möglichkeit, zugleich aber auch die Erwartung schafft, Zwischen- wie auch Endprodukte der Klassenöffentlichkeit zugänglich zu machen und sie zu bewerten.

Die von uns rekonstruierten Praktiken lassen sich epistemisch als kontextbezogene Varianten verstehen, in denen Lehrkräfte mit Anforderungen der Unterrichtsgestaltung umgehen, die aus veränderten Zugängen zu Wissensressourcen und der digitalen Verfasstheit von Wissensprodukten resultieren. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, welche Anforderungen darüber hinaus mit der Nutzung digitaler Medien im Unterricht verbunden sind und mit welchen Praktiken sie bearbeitet werden. Eine solche Perspektivierung der Forschung reflektiert die Interaktionsseite digitaler Bildung (vgl. Weich 2019, S. 13 ff.). Sie trägt dazu bei, sukzessive über Merkmale digitalisierten (Gruppen)Unterrichts aufzuklären, indem Aussagen über Eigenarten, Chancen, Risiken und Konsequenzen der unterrichtlichen Nutzung digitaler Medien ermöglicht werden. Dabei besteht für künftige Untersuchungen ein besonderes Desiderat darin, der Frage nachzugehen, welche Praktiken Schüler:innen im Umgang mit Anforderungen Tablet-gestützten Gruppenunterricht realisieren. Ihre Bearbeitung macht allerdings eine deutliche Anpassung bisheriger videobasierter Erhebungssettings und Auswertungsverfahren notwendig, um die Interaktion zwischen Schüler:innen, Tablet und Lehrkräften in räumlicher Umgebung hinreichend zu erfassen (vgl. Medina und Stahl 2021).