1 Einleitung und Fragestellung

Die Auseinandersetzung mit islamistischem Extremismus ist ein relativ neues Feld pädagogischer Arbeit. Die darin zusammengefassten professionellen Angebote zielen darauf ab, junge Menschen vor der Gefahr einer Radikalisierung zum islamistischen Extremismus zu bewahren. Solche pädagogischen Angebote können die Jugendlichen beispielsweise bilden und stärken, sodass sie in die Lage versetzt werden, islamistisch-extremistische Angebote in ihrer Lebenswelt zurückzuweisen. Haben Jugendliche dagegen bereits Affinitäten zu islamistisch-extremistischen Gruppen und Ideologien entwickelt, unterstützen solche pädagogischen Angebote sie dabei, sich vom Extremismus zu lösen.

Der Beitrag analysiert, wie Mitarbeitende in (sozial)pädagogischen Angeboten demokratiefördernder und extremismuspräventiver Bundes- oder Landesprogramme den Islam als Teil ihrer Arbeit verstehen und inwiefern religiöse Aspekte hinsichtlich der Auseinandersetzung mit islamistischem Extremismus eine Rolle spielen. Diese Frage stellt sich einerseits aufgrund der religiösen Dimension des islamistischen Extremismus, wodurch Religion ein Einflussfaktor in Radikalisierungsprozessen zum islamistischen Extremismus sein kann. Andererseits werden einige Angebote in der pädagogischen Auseinandersetzung mit islamistischem Extremismus von Organisationen mit einem islambezogenen Selbstverständnis getragen oder von pädagogischen Mitarbeitenden umgesetzt, die Muslime sind und ihre Religionszugehörigkeit als wichtigen Bestandteil ihrer Tätigkeit betrachten. Der Beitrag fokussiert auf pädagogische Angebote, die sich der Auseinandersetzung mit islamistischem Extremismus bei jungen Menschen widmen und in ihrer Arbeit junge Muslime als religiöse Menschen adressieren.

Die empirische Grundlage des Beitrags bilden zwei Studien, für die pädagogische Mitarbeitende von Praxisprojekten zur Auseinandersetzung mit islamistischem Extremismus in offenen, erzählgenerierenden Interviews befragt wurden. Bei den Angeboten handelt es sich um (Modell‑)Projekte zur Radikalisierungsprävention, die im Kontext der Beratungs- und Bildungsarbeit für und teilweise von Musliminnen und Muslimen sowie innerhalb der mobilen Jugendarbeit konzipiert wurden. Nach Einleitung und Fragestellung (1) wird zuerst der Forschungsstand zur Adressierung von Religion im Handlungsfeld der pädagogischen Auseinandersetzung mit islamistischem Extremismus dargestellt (2). Es folgt eine Beschreibung der empirischen Datenbasis und des Forschungsdesigns (3). Anschließend werden die Analyseergebnisse in Form einer Typologie pädagogischer Handlungsorientierungen in Bezug auf Religion in der pädagogischen Auseinandersetzung mit islamistischem Extremismus dargestellt (4). Zuletzt erfolgt eine Diskussion der Typisierung mit Blick auf Herausforderungen und Paradoxien für die pädagogische Praxis vor dem Hintergrund der Forschungslage (5).

2 Religion im Feld der pädagogischen Auseinandersetzung mit islamistischem Extremismus – Theoretischer Rahmen und Forschungslage

Im Folgenden geht es um die einführende Definition von wesentlichen Begriffen dieses Beitrags sowie um das Nachzeichnen einiger relevanter Forschungslinien, die für unsere Analyse von Bedeutung sind. Der Terminus „islamistischer Extremismus“ beschreibt hier zusammenfassend verschiedene Ideologien und soziale Phänomene, die eine demokratiefeindliche Haltung zeigen, etwa durch Ungleichwertigkeitsvorstellungen oder die Ablehnung demokratischer Prozesse, sich auf islamische Traditionen beziehen und für die Durchsetzung dieser Ziele Gewalt legitimieren oder ausübenFootnote 1.

Islamistischer Extremismus ist in diesem Verständnis als deviantes Verhalten verstehbar (vgl. Bötticher und Mareš 2012, S. 51). Der Begriff ist dabei teilweise überschnittig und zugleich abgrenzend gegenüber Begriffen wie „Islamismus“ und „Salafismus“ im Sinne konkreter politisch-religiöser Bewegungen, die nicht in ihrer Gesamtheit als extremistisch verstanden werden müssen (vgl. Jaschke 2011, S. 19; Peters 2012; Sedgwick 2007, S. 13). Auch das Verhältnis von islamistischem Extremismus zu Religion wird unterschiedlich bewertet, wie etwa die gegensätzlichen Positionen von Roy, der von einer Islamisierung der Radikalität ausgeht und Kepel, der von einer Radikalisierung des Islam ausgeht, zeigen (vgl. Kepel 2016; Roy 2017). In Bezug auf Prozesse der Hinwendung und Radikalisierung junger Menschen zum islamistischen Extremismus wird insbesondere auf die Attraktivität mancher extremistischer Antworten auf religiöse Sinnsuchen, auf die Bindungskraft religiöser Ideologie und auf islamische Instanzen als Zugangsweg zu extremistischen Akteuren verwiesen (vgl. Langner et al. 2020, S. 16 f.).

Zu einem pädagogischen Thema wurde der islamistische Extremismus im Verlauf der 2000er Jahre. Anschläge in Europa (etwa am 7. Juli 2005 in London) führten zu einer Debatte über „Homegrown Terrorism“ und damit zur Frage, wie sich junge Menschen aus der Mitte der Gesellschaft bis zur Ausübung solcher Gewalttaten radikalisieren und was jenseits polizeilicher Mittel dagegen zu unternehmen sei (vgl. Dalgaard-Nielsen 2010).Footnote 2 In Deutschland hat sich die Auseinandersetzung mit islamistischem Extremismus in den 2010er Jahren als Handlungsfeld professioneller (sozial)pädagogischer Angebote herausgebildet (vgl. Schau et al. 2017). Seit dieser Zeit gab es eine systematische Förderung entsprechender Projekte, seit 2014 wächst dieses Feld rasant, sodass inzwischen eine Vielzahl pädagogischer Angebote auf Bundes‑, Landes- und kommunaler Ebene existieren. Als professionelles Praxisfeld ist die pädagogische Auseinandersetzung mit islamistischem Extremismus damit insgesamt dennoch sehr jung.

Analytisch wird Radikalisierungsprävention häufig danach klassifiziert, zu welchem Zeitpunkt im angenommenen Radikalisierungsverlauf die Intervention ansetzt. Als wichtige Grundunterscheidung zeigte sich dabei die Differenzierung in präventive Arbeit, die junge Menschen gegen eine Hinwendung zu möglichen (oder konkreten) extremistischen Angeboten stärkt und in Distanzierungsarbeit, die jungen Menschen bei der Loslösung von Affinitäten und Bindungen zu islamistisch-extremistischen Gruppen und Ideologien Unterstützung bietet.

International wurden religiöse Perspektiven vor allem in Großbritannien früh in die pädagogische Auseinandersetzung mit islamistischem Extremismus einbezogen und vor allem durch eine Einbindung islamischer Organisationen realisiert (vgl. Rabasa et al. 2010). Dabei entstanden verschiedene religionsbezogene Vorgehensweisen in der Distanzierungsarbeit, die auf die gesellschaftliche Integration junger Muslime und auf die „Dekonstruktion“ religiös-extremistischer Propaganda sowie auf die Förderung theologischer „Mainstreamperspektiven“ ausgerichtet waren (vgl. Barclay 2011; Rabasa et al. 2010). Darüber hinaus wurden erste religiöse Ansätze in der Distanzierungsarbeit, vor allem in Saudi-Arabien, als theologische Beratungen durch islamische Gelehrte angeboten (vgl. El-Mafaalani et al. 2016, S. 253 f.; Rabasa et al. 2010).

Auch in Deutschland wird die Aktivität islamischer Organisationen in der pädagogischen Auseinandersetzung mit islamistischem Extremismus für die Präventionsarbeit geschätzt. Hierbei wird hervorgehoben, dass dadurch authentisch und mit religiöser Kompetenz theologische Antworten auf eine islamistisch-extremistische Ideologie gefunden werden können. Daneben wird diskutiert, dass über muslimische Communities leichter ein Zugang zu Zielgruppen für pädagogische Angebote hergestellt werden könnte (vgl. Barclay 2011; El-Mafaalani et al. 2016; Ostwaldt 2020, S. 295; Schau et al. 2017). Diese Perspektive wird durch Studien zu Angeboten im Feld bekräftigt, die nicht explizit islamisch konnotiert sind. Hier wird darauf verweisen, dass sie vor allem Angehörige erreichen, die aus nicht-muslimischen Kontexten stammen (vgl. Glaser und Figlestahler 2016; Schuhmacher 2018, S. 10). Radikalisierungsgefährdete junge Menschen selbst und Angehörige aus muslimischen Communities nutzen diese Angebote hingegen kaum. Konkrete pädagogische Ansätze, die von einigen Projekten verfolgt werden, beschreiben z. B. Leistner et al. (2014). Ziel dieser pädagogischen Angebote war es, Jugendlichen Unterscheidungsmerkmale von islamischen Inhalten und demokratiefeindlichen islamistischen Einstellungen nahezubringen und so ihre Religions-Kompetenz zu stärken. Islambezogenes Wissen wurde dabei als „Schutzfaktor“ vor Radikalisierung wahrgenommen (Leistner et al. 2014, S. 41 ff.).

Diesem Blick auf Religion als Ressource steht jedoch auch eine kritische Sicht gegenüber. El-Mafaalani et al. (2016) sehen z. B. in religiösen Ansätzen der Distanzierungsarbeit die ggf. unbeabsichtigte Möglichkeit einer „Schaffung neuer Abhängigkeitsstrukturen durch den Einsatz religiöser Hierarchien“ (El-Mafaalani et al. 2016, S. 254) sowie die Gefahr, dass nichtreligiöse familiale oder psychische Problemlagen, die in der pädagogischen Arbeit ebenfalls bedeutsam sind, übersehen werden könnten. Ein Untersuchungsbefund von Clement (2020) zeigt darüber hinaus, dass Fachkräfte, die sich in der offenen Jugendarbeit mit Salafismus auseinandersetzen, die Religion der Jugendlichen häufig entweder überhöhen oder ausklammern (vgl. Clement 2020, S. 445 ff.). Vor dem Hintergrund dieser vereindeutigenden Zuschreibungen plädiert er für eine mehrperspektivische Praxis, die ausgehend vom Prinzip des methodologischen Agnostizismus offen nach der Religiosität der Jugendlichen fragt, ohne selbst eine religiöse Position zu beziehen (Clement 2020, S. 449).

In der Auseinandersetzung mit islamistischem Extremismus ist wichtig, wie Mitarbeitende innerhalb pädagogischer Angebote gegenüber Jugendlichen auftreten, denen eine islamische Religionszugehörigkeit zugeschrieben wird (u. U. unabhängig von ihrer tatsächlichen religiösen Bindung). Vor dem Hintergrund „zunehmender gesellschaftlicher Polarisierungen, bei denen der Islam nicht selten ein Reizthema darstellt“ (Schau et al. 2020, S. 229), besteht eine besondere Herausforderung pädagogischer Arbeit darin, Etikettierungen zu vermeiden. Dies gilt umso mehr, da Stigmatisierungserfahrungen, wie empirische Studien belegen, an islamistisch-extremistische Ideologien anknüpfen und Radikalisierungsprozesse befördern können (vgl. Fahim 2013; Kühle und Lindekilde 2012; Lindekilde 2015). Jenseits einer auf non-formale Praxisangebote der Jugendarbeit ausgerichteten pädagogischen Auseinandersetzung mit islamistischem Extremismus, diskutieren einige Autorinnen und Autoren Potenziale für die Radikalisierungsprävention, die sich aus einer Stärkung des islamischen Religionsunterrichts ergeben würden. Die Vermittlung von grundlegenden Kompetenzen für den Umgang mit Religion an junge Menschen wird dabei als ein zentrales Ziel betrachtet (Bauknecht 2014; El-Mafaalani et al. 2016; Kiefer 2013; Knauth 2020).

Aus der skizzierten Forschungslage wird ersichtlich, dass eine religionsbezogene pädagogische Praxis der Auseinandersetzung mit islamistischem Extremismus ein aktuelles und relevantes Thema pädagogischer Diskurse zur Radikalisierungsprävention und Distanzierungsarbeit darstellt. In diesem Zusammenhang werden diverse Hoffnungen bezüglich der Potenziale dieser Arbeit, aber auch Befürchtungen im Hinblick auf mögliche kontraproduktive Effekte geäußert. Zugleich liegen jedoch bisher nur wenige empirische Studien vor, die sich auf den Zusammenhang von Orientierungen am Islam in der pädagogischen Arbeit bzw. auf die Rolle islamischer Organisationen und ihren Einfluss auf die Präventions- und Distanzierungsarbeit beziehen.

Vor diesem Hintergrund soll der Beitrag herausarbeiten, wie sich Mitarbeitende in ihrer extremismuspräventiven Arbeit auf den Islam beziehen und welche Bedeutung diese Religion in ihrer pädagogischen Praxis hat. Dazu werden neben Angeboten islamischer Vereine und Verbände auch Projekte unterschiedlicher zivilgesellschaftlicher Träger in den Blick genommen, in denen religiöse Orientierung junger Menschen eine besondere Bedeutung beigemessen wird. Die Frage nach dem Umgang mit Religion im pädagogischen Praxisfeld soll durch diese Analyse weiter differenziert und durch eine Diskussion über fachliche Potenziale und Grenzen konkreter Vorgehensweisen besser fundiert werden.

3 Zur Bedeutung der islamischen Religion für Angebote der Präventions- und Distanzierungsarbeit – Empirische Datenbasis und Forschungsdesign

Die empirische Grundlage dieses Beitrages bilden insgesamt elf Interviews aus zwei Forschungsprojekten, die neun pädagogische Angebote für junge Menschen bzw. für deren Angehörige untersuchen und sich der Prävention bzw. Distanzierung von islamistischem Extremismus widmen. Gefördert wurden beide Forschungsprojekte durch das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Dieser Beitrag ist im Rahmen des Projekts „Arbeits- und Forschungsstelle Demokratieförderung und Extremismusprävention“ entstanden, das ebenfalls vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) von 2020–2024 gefördert wird.Footnote 3

Die erste Studie, aus der für diesen Beitrag sieben Interviews einfließen, fand innerhalb der wissenschaftlichen Begleitung von Modellprojekten zur Radikalisierungsprävention im Bundesprogramm „Demokratie leben!“ (2015–2019) am Deutschen Jugendinstitut in Halle (Saale) statt. Dort wurde im Berichtsjahr 2018 untersucht, wie diese Modellprojekte, die nicht nur im Themenfeld „Islamistische Orientierungen und Handlungen“ angesiedelt sind, mit jungen Menschen arbeiten, wie die Fachkräfte ihr pädagogisches Handeln reflektieren und welche Bedeutung die Religion als mögliche Herausforderungen in ihrer Arbeit spielt (vgl. Figlestahler und Glaser 2019, S. 38 ff.).Footnote 4 In den Blick genommen werden mit dieser Fragestellung jene Projekte, die sich zum einen zum Ziel setzen, im Bereich der indizierten oder selektiven Prävention tätig zu sein und zum anderen mit der Zielgruppe junger Menschen arbeiten, bei denen problematische Zugehörigkeiten zu islamistischen Gruppierungen oder eine starke Orientierung an ihnen entwicklungsgefährdend wirkt. Von insgesamt 42 im Themenbereich geförderten Angeboten entsprachen acht diesen beiden Prämissen, fünf von ihnen konnten in die Untersuchung im Jahr 2018 einbezogen werden (vgl. Figlestahler und Glaser 2019, S. 48). Bei den Angeboten handelt es sich um Modellprojekte, die im Kontext der Beratungs- und Bildungsarbeit sowie der mobilen Jugendarbeit für und teilweise von Musliminnen und Muslimen für Jugendliche konzipiert wurden und in der Trägerschaft muslimischer, aber auch nicht-muslimischer Vereine und Verbände stehen.

Zweitens wurden zwei weitere Interviews berücksichtigt, die aus der Studie „Distanzierung vom gewaltorientierten Islamismus. Ansätze und Erfahrungen etablierter Praxisprojekte in Deutschland“ stammen, die im Zeitraum von 2015 bis 2019 innerhalb der Arbeits- und Forschungsstelle Rechtsextremismus und Radikalisierungsprävention am Deutschen Jugendinstitut in Halle (Saale) entstanden sind.Footnote 5 Diese Untersuchung widmete sich Angeboten der spezialisierten sowie der Regelpraxis innerhalb der Sozialen Arbeit mit jungen Menschen, die sich einerseits zum Ziel setzen, Hinwendungsprozesse zu gewaltorientierten, islamistischen Szenen und Anschlüsse an Milizen des „Islamischen Staates“ zu verhindern. Andererseits richten sich diese Praxisprojekte an jene jungen Menschen, die bereits in diese Gruppierungen involviert sind und in einer Distanzierung von ihnen unterstützt werden sollen (vgl. Figlestahler und Glaser 2019, S. 2). Die Studie fragt nach den Erfahrungen von Fachkräften in der Arbeit mit Jugendlichen sowie nach ihren pädagogischen Ansätzen und Bedarfen (vgl. Figlestahler und Glaser 2019). Durchgeführt wurden für die Untersuchung insgesamt 15 InterviewsFootnote 6 bei Trägern der Jugendbildungs- und Beratungsarbeit sowie der Sozialen Arbeit, die bereits über eine mehrjährige Erfahrung in diesem Bereich verfügen. Die Zielgruppe dieser Ansätze besteht im Kern aus Jugendlichen im Alter von 15 bis 19 Jahren.

Eine Gemeinsamkeit dieser analysierten Projekte ist, dass sie sich in erster Linie an junge, religiöse Musliminnen und Muslime richten und, dass dem Islam in der pädagogischen Praxis eine besondere Bedeutung zukommt, die unterschiedlich stark die kollektive Orientierung der Mitarbeitenden-Teams prägt. Dies spiegelt sich auch in der Organisationsstruktur der Projekte wider. Diese Heterogenität zeigt sich darin, dass die Angebote „Basel“ und „Brasilia“ unmittelbar bei einer islamischen Organisation als Projektträger angesiedelt sind. Die Angebote „Bangkok“ und „Buenos Aires“ sind in Kooperation mit einer Moscheegemeinde und eines nicht-islamischen zivilgesellschaftlichen Trägers konzipiert, wobei die Projektleitungen bei einem nicht-religiösen Träger liegen. Die Projekte „Budapest“, „Batumi“ und „I4“ arbeiten regelmäßig mit lokalen islamischen Organisationen (insbesondere mit Moscheegemeinden) zusammen. Die Angebote („Beirut“ und „I2“) haben keine für die Projektumsetzung zentralen Kooperationen mit islamischen Partnerorganisationen.

Aus beiden Studien wurde Fallmaterial zur Analyse für diesen Beitrag ausgewählt, dessen Gegenstand die pädagogische Arbeit mit jungen Menschen ist und das sich auf Religion bezieht. An den Interviews nahmen häufig zwei oder drei Mitarbeitende gemeinsam teil, die sich in ihren Erfahrungen ergänzten. Eine Besonderheit der Präventions- und Deradikalisierungsarbeit in Bezug auf islamistischen Extremismus stellt die Interdisziplinarität der interviewten Aktiven dar, die teilweise pädagogische, islam- oder kulturwissenschaftliche Studienabschlüsse besitzen, aber auch Qualifikationen aus dem Bereich der Soziologie, Politikwissenschaft oder anderen Disziplinen besitzen. In den analysierten Projekten sind sie oft haupt-, aber teilweise auch ehrenamtlich beschäftigt. Erhoben wurden offene, erzählgenerierende Interviews, die sich an einem Leitfaden orientierten (vgl. Meuser und Nagel 2013) und den Mitarbeitenden Raum gaben für eine weitgehend freie Ausgestaltung der erfahrungsbasierten Thematisierung ihrer pädagogischen Tätigkeit und der Darstellung der Bedeutung von Religion für ihre Arbeit mit jungen Menschen.

Ausgewertet wurde das Material mit der Dokumentarischen Methode (vgl. Bohnsack 2021; Mannheim 1923, 1926; Nohl 2017), die für eine Rekonstruktion der Herstellung gesellschaftlicher und sozialer Wirklichkeit (vgl. Bohnsack 2021, S. 36) in Hinblick auf Religiosität gut geeignet ist. Ausgehend von formulierend und reflektierend interpretierten Interviews, die in Kleingruppen innerhalb der beiden Studien stattfanden, wurden für diesen Beitrag solche Passagen im Material identifiziert, in denen – über dort dargestellte Kommunikations- und Handlungspraxen – Fragen zum Islam im Zentrum stehen (vgl. Figlestahler und Glaser 2019, S. 47 f.). Dieses „tertium comparationes“ strukturierte unsere Suche nach homologen und heterologen Orientierungsrahmen im Sinne einer Basistypik (vgl. Bohnsack 2020, S. 33, 2017, S. 107). Explizit für diesen Beitrag beschäftigen wir uns daher noch einmal mit dem empirischen Material, indem wir eine zweite, den Forschungsinteressen der ursprünglichen Studien nachgelagerte komparative Analyse starteten. Dabei konnten in diesem kontinuierlichen Vergleich unterschiedlicher „empirischer Vergleichsfälle“ verschiedene Dimensionen der Bedeutung des Islam für die interviewten Mitarbeitenden herausgearbeitet werden, die in eine sinngenetische Typologie zur Bedeutung des Islams für die pädagogischen Aktivitäten der Mitarbeitenden in den untersuchten Projekten mündete (Bohnsack 2020, S. 42). Dabei stand die Frage im Mittelpunkt, wie Themen, in denen z. B. das Selbst- und Fremdverständnis, auf- oder abwertende Zuschreibungen oder aber ein kritischer Blick auf eine islamische Identität durch die Interviewten dargestellt wurden.

4 Orientierungen am Islam in pädagogischen Projekten der Radikalisierungsprävention zu islamistischem Extremismus

Die besondere inhaltliche Bedeutung, die der Islam für pädagogische Angebote der Radikalisierungsprävention hat, war neben anderen Themen der präventionsbezogenen Jugendarbeit nur ein Anknüpfungspunkt an die Lebenswelt junger Menschen neben vielen anderen. Erst innerhalb des Rekonstruktionsprozesses verschiedener Interviewmaterialien trat zutage, dass eine explizite Auseinandersetzung mit Religion nicht nur durch islamische Träger dieser Arbeit angelegt oder durch eine Kennzeichnung der Zielgruppe als muslimische Jugendliche vorstrukturiert war, sondern dass eine dezidierte Beschäftigung mit Religion die Praxis vieler Angebote auf diesem Gebiet prägt.

In diesem Sinne kristallisierte sich im Verlauf der Auswertung eine Orientierung am Islam als Basistypik (vgl. Bohnsack 2020, S. 33) heraus, welche die Arbeit von Projekten in diesem Arbeitsfeld prägt. Ausgehend von homologen Orientierungen, die sich in verschiedenen Interviews zeigten, wurden im Verlauf der komparativen Analyse davon abweichende Orientierungen gefunden. So entstand im Rahmen des Rekonstruktionsprozesses eine sinngenetische Typologie, welche aus insgesamt drei Typen mit einer unterschiedlichen Bedeutung des Islam für die pädagogische Arbeit dieser Projekte besteht (vgl. Bohnsack 2020, S. 33 ff., 2021, S. 146 f.). Zum einen handelt es sich hier um eine Orientierung am Islam als Teil der Identität in der Migrationsgesellschaft (4.1), eine Orientierung auf den Islam als Alltagspraxis in der Gemeinschaftsbindung (4.2) sowie eine Orientierung auf Antworten aus den autoritativen Quellen des Islams (4.3), die im Folgenden anhand von Rahmendaten, herausgearbeiteten Kernaussagen sowie Auszügen aus dem empirischen Material und dessen rekonstruktiver Deutung vorgestellt werden.

4.1 Orientierung am Islam als Teil der Identität in der Migrationsgesellschaft

Zum ersten Typ gehören Mitarbeitende aus drei verschiedenen pädagogischen Angeboten. Bei jenen aus den Projekten „Beirut“ und „Buenos Aires“ handelt es sich um Nicht-Muslime, über die Religionszugehörigkeit der für „Batumi“ befragten Projektleiterin liegen keine Angaben vor.

Betrachtet man nun anhand von Beispielen die Rolle, die der Islam in der pädagogischen Arbeit in diesem ersten Typ spielt, so zeigt sich, dass hier die Religionszugehörigkeit der Jugendlichen als deren habituelle Orientierung von den Fachkräften betont wird. Daneben spielen soziogenetische Aspekte wie Migrationshintergrund, Nationalität, Geschlecht, familiale Einbindungen oder das Lebensalter eine wichtige Rolle. Die Zielgruppe der Arbeit soll in ihrer Identitätsarbeit (vgl. Keupp et al. 2013, S. 181, S. 294) unterstützt werden, ihre Fragen und Probleme dazu ernst genommen und gemeinsam mit den Mitarbeitenden bearbeitet werden. In diesen pädagogischen Angeboten steht eine Orientierung am Islam thematisch nicht im Zentrum. Vielmehr werden Fragen der Positionierung der jungen Menschen in der Gesellschaft in den Mittelpunkt gerückt. Eingebettet in die Auseinandersetzung mit sozialen, kulturellen und politischen Problemlagen erfolgt eine Jugend- bzw. Beratungsarbeit, welche die Religionszugehörigkeit als eine Selbstverständlichkeit neben anderen Identitätsaspekten betrachtet.

So beschreibt der Pädagoge im Projekt „Beirut“ seine Arbeit als niedrigschwellig, wobei es darauf ankommt „trotzdem einen thematischen Schwerpunkt zu haben“ (I: Beirut 2018, Z. 519 f.). Die Jugendlichen, denen sich die Mitarbeitenden zunächst innerhalb der Schule, später in der Freizeitgruppe am Nachmittag widmen, werden als „bereit für so eine inhaltliche Auseinandersetzung“ (I: Beirut 2018, Z. 489 f.) beschrieben, was in einer Schilderung über die Anfänge dieses Projektes bereits deutlich wird:

ja wir waren halt drei Wochen hintereinander in der Klasse und haben wir Workshops gemacht und dann haben wir bemerkt das das Interesse da ist mit dem Thema so Identität Religion auseinander zu setzten und auch, dass manche Aussagen von Jugendlichen problematisch sein könnten und deswegen wollten wir die Beziehung zu den Jugendlichen immer noch beibehalten haben wir uns zusammengesetzt mit der Schulleitung mit dem Klassenlehrer und haben wir so Gedanken gemacht wie könnte man die Beziehung halt dann verstärken (I: Beirut 2017, Z. 42–48).

Rekonstruiert wurde eine Differenziertheit der Aussagen im Interview, es wird hier auf „manche“ Schülerinnen und Schüler verwiesen, auch das „[P]roblematisch[e]“ wird reflexiv verhandelt und vorsichtig relativierend eingeführt. Ausgangspunkt für die Kooperation zwischen Schule und Jugendarbeitsträger war eine Problemkonstellation, die eine gemeinsam mit dem Projektmitarbeitenden interviewte Lehrerin mit den Worten zum Ausdruck brachte: „also wir schicken da jetzt nicht alle Salafisten zum Bekehren hin weil wir haben keine salafistischen Schüler sondern wir haben Schüler die sich undifferenziert äußern“ (I: Beirut Schule 2018, Z. 384–386). Anknüpfend an die hier genannten problematischen Aussagen wird eine Offenheit in den Diskussionen mit den Jugendlichen beschrieben, die verdeutlicht, dass ihre Fragen ernst genommen und gemeinsam bearbeitet werden, was aus der Beschreibung einiger junger Menschen aus der Gruppe hervorgeht:

also die haben manche haben bestimmte Haltungen und Meinungen und die wissen auch das sie sie bei uns äußern können aber die wissen auch das sie dazu auch hinterfragt werden und dann gibts in der Gruppe auch so Korrektive und Umgangsweisen auch Humor […] und zusätzlich kriegen sie von uns dann halt auch Rückfragen und Kritik oder Anmerkungen und das wissen sie auch und das schätzen sie auch (I: Beirut 2018, Z. 461–464, 468f.).

Eine habituelle Orientierung an der Unterstützung der Jugendlichen für eine konstruktive Auseinandersetzung mit ihrer Umwelt wird hier ebenso deutlich wie eine auf die Gesamtpersönlichkeit der jungen Menschen gerichtete Arbeit.

Ähnlich gelagert wird der Zusammenhang zwischen Islam und Identität auch im Projekt „Batumi“ beschrieben. Hier wird von der Projektleiterin ein interdisziplinäres Team von Beratern vorgestellt, die selbst geflüchtet sind, und vorher als Schuldirektor, Psychologe oder islamkundiger Lehrer tätig waren. Kennzeichnend für dieses Projekt ist, dass die Mitarbeitenden aus den gleichen Ländern bzw. dem gleichen Sprachraum stammen und ähnliche Biographien haben wie ihre Zielgruppe, die sie beraten und begleiten, wozu auch eine Religionszugehörigkeit, z. B. zum Islam, gehört. Dieser gemeinsame konjunktive Erfahrungsraum wird als Selbstverständlichkeit betrachtet, was im Interview folgendermaßen zum Ausdruck gebracht wird: „Religion. wie vorher gesagt ist für die [Mitarbeiter, Anm. d. A.] ein großer Teil des Lebens deswegen ist es auch überhaupt keine Frage […] das gehört einfach mal zu ihrem Leben“ (I: Batumi 2018, Z. 761–763). Auch hier steht eine Unterstützung der jungen Menschen in ihrer Identitätsarbeit im Zentrum, ebenso Aspekte der Selbstwertstärkung „dass sie ihre eigenen Stärken erkennen“ (I: Batumi 2018, Z. 592 f.). In diesem Sinne wird auch beim Problem der Radikalisierung und des islamistischen Extremismus der Bogen zu Sozialisationsaspekten geschlagen und wie folgt thematisiert:

also für uns ist das überhaupt keine religiöse Frage (I1: Okay) das ist eine politische und soziale Frage es geht darum wie fühlt sich man als Muslime in dieser Gesellschaft […] also es geht meistens darum das diese Menschen auf der Suche einer Identität sind die haben entweder ihre Identität hinterher gelassen in ihrem Land oder einfach mal hier verloren und auf der Suche einer Identität man kann sich schnell verlaufen sozusagen (I: Batumi 2018, Z. 567–569, 574–577).

Individuum und Gesellschaft werden hier in einen Zusammenhang gestellt und Rahmenbedingungen für problematische Entwicklungen benannt, die aus Desintegration herrühren und von innerpsychischen Problemen begleitet werden. Eine professionell unterstützte, durch das jugendliche Individuum reflektierte Identitätsarbeit schützt daher vor dem „[V]erlaufen“ im Prozess der Suche nach dem eigenen Ich.

Die Verknüpfung einer eigenen Religionszugehörigkeit als Mitarbeiterin bzw. Mitarbeiter mit einer erfolgreichen pädagogischen Praxis wird auch innerhalb des Projektes „Buenos Aires“ thematisiert. Sie wird als Bedingung ins Zentrum gestellt mit der Bemerkung, „als nicht praktizierender Moslem kannst du da nicht arbeiten“ (I: Buenos Aires 2017, Z. 1060), was zugleich impliziert, von der Zielgruppe allein wegen einer fehlenden Religionszugehörigkeit abgelehnt zu werden. Im weiteren Verlauf des Interviews zeigt sich jedoch, dass diese Zuschreibung auf einem persönlichen Befinden des nicht muslimischen Mitarbeiters beruht und somit Aspekte einer Übertragung eigener Hemmungen auf angenommene und zugeschriebene Reaktionen der Jugendlichen als Erklärung ebenfalls in Betracht kommen. Er meint dazu: „ich fühle mich immer noch nicht da [im Projekt, Anm. d. A.] richtig heimisch, das ist immer noch eine Art Fremdkörper, obwohl ich da schon zwei Jahre rein und raus laufe“ (I: Buenos Aires 2017, Z. 1575f.).

Der für den ersten Typ vordringliche Bezug auf eine Unterstützung der Identitätsbildung lässt sich für das Projekt „Buenos Aires“ ebenfalls feststellen, in dem der Begriff Prävention gedeutet und in einen Zusammenhang mit einem Entwicklungsgedanken gesetzt wird. Wesentlich ist hier, dass eine vorsichtige Formulierung, wie sie vom „Beirut“-Mitarbeiter geäußert wird, nicht im Zentrum steht. Zudem bewegt sich die Äußerung eher auf der Ebene eines Statements, wie sich im Folgenden zeigt:

und Prävention heißt ja so wir versuchen Empowerment auf der einen Seite und Information auf der anderen Seite und vor allem in der Öffnung der Wahrnehmung also wir öffnen sie und wir haben nicht das Ziel zu missionieren und ihnen eine bestimmte Meinung über zu stülpen sondern die sollen sich als freie selbständige Menschen entwickeln […] bislang ist das so das die sich hier zwar als Deutsche fühlen, aber eben nicht als Deutsche akzeptiert fühlen und das ist auch immer so ambivalent auf der einen Seite sagen sie ja wir wollen nicht immer nur als Moslems gesehen werden aber auf der anderen Seite sehen sie sich bei allem auch als Moslems (I: Buenos Aires 2017, Z. 574–588).

In dieser Aussage kann einerseits ein Auftrag an die jungen Menschen rekonstruiert werden, sich zu entwickeln, andererseits wird aus der Religionszugehörigkeit heraus ein habituelles Konfliktfeld markiert und zugleich konstruiert, dass die Identitätsfrage von Fremd- und Selbstbeschreibung berührt, allerdings weniger reflexiv als dies innerhalb des Projektes „Beirut“ verhandelt wird. Hier klingt ein gewisser Vorwurf gegen die Jugendlichen an, der darin besteht, einerseits die Forderung zu stellen, nicht auf ihre Religion reduziert zu werden und sich andererseits in erster Linie als Muslime zu betrachten.

4.2 Orientierung auf den Islam als Alltagspraxis in der Gemeinschaftsbindung

Im zweiten Typ steht Religion als gemeinschaftliche Erfahrung und als individuelle Handlungspraxis im Alltag von Mitarbeitenden und Jugendlichen im Mittelpunkt. Dieser Typ kennzeichnet zwei Interviews, die in zwei pädagogischen Angeboten erhoben wurden. Die Interviewten waren junge Erwachsene, die ihre Identität als Musliminnen und Muslime betonen und ein liberal-überkonfessionellesFootnote 7, religiöses Selbstverständnis zeigen. Sie sind über ehrenamtliches Engagement im religiösen oder caritativen Bereich in ihre pädagogische Tätigkeit gemündet, haben jedoch zuvor meist keine formale pädagogische Ausbildung absolviert.

Charakteristisch für die pädagogischen Mitarbeitenden in diesem Typ ist, dass sie Radikalisierungsgefährdung der Jugendlichen in einer religiösen Dimension ihrer Alltagspraxis sehen. Die Mitarbeiterin von „Bangkok“ begründet dies z. B. damit, dass im Islam alles einen religiösen Bezug habe:

also so, der Stress mit den Eltern, hat ja auch ne religiöse Konsequenz, also ist da auch ein religiöser Konflikt Drogen. hat auchn religiösen Aspekt also ist auch nen religiöser Konflikt. […] weil sie dann wissen das sie damit auch ne Sünde begehen zum Beispiel oder eben sich Gott entfernen. wie können sie wieder näher kommen durch eben ne bessere Beziehung mit den Eltern weg von den Drogen also das eine hat mit dem anderen immer unmittelbar zu tun (I: Bangkok 2017, Z. 1267–1276).

Die Mitarbeiterin beschreibt hier typische Problemlagen ihrer Adressatinnen und Adressaten, die ihrer Lebenswelt entstammen und die man durchaus auch ohne einen religiösen Bezug verstehen und bearbeiten könnte. Die Interviewpartnerin beschreibt diese Herausforderungen nicht als Ursache, sondern in ihrer „Konsequenz“ als „religiöse Konflikte“. Individuelles Verhalten soll dabei einem positiven moralischen Kompass folgen, der sich in einem religiösen Grundgefühl verorten lässt.

Die pädagogische Arbeit greift diese Verknüpfung von Religiosität und Alltagspraxis auf. Dies geschieht über (sozialpädagogische) Unterstützungsangebote zu lebensweltlichen Fragen, die jedoch immer mit einer Gemeinschaftsperspektive und einer Reflexion der Jugendlichen über ihr eigenes Verhalten verbunden wird. Die pädagogischen Formate sind entsprechend von der Diskussion moralischer Fragen aus einer religiös-islamischen Perspektive geprägt. In diesem Zusammenhang werden sowohl theologische als auch alltagsweltliche Argumente vorgebracht und im Zusammenhang mit der eigenen Lebenswelt reflektiert. Als wesentliches Element der präventiven Arbeit konnte eine auf individuelle Stärkung ausgelegte Vorbildpädagogik rekonstruiert werden, wobei die Mitarbeitenden und die Teilnehmenden selbst als Vorbilder für neu hinzukommende Jugendliche fungieren. Diese Rolle beschreibt ein Mitarbeiter von „Budapest“ wie folgt: „nicht das er es ausspricht sondern einfach nur von seiner Art und Weise und […] von seinem guten positiven Lebensweg ihm auch für sich selber auch eben zeigt du hast auch die Möglichkeit“ (I: Budapest 2018, Z. 3287–3290). Hier kommt eine Orientierung an Empowerment zum Tragen, die jeden Teilnehmenden zur Nutzung der eigenen Potenziale in der Gemeinschaft zu motivieren sucht. Diese Herangehensweise kann sich in der Auseinandersetzung mit Fragmenten islamistisch-extremistischer Ideologie jedoch auch in eine konfrontative Argumentation wenden:

plötzlich ist dann aber auch einer dabei der sagt […] scheiß Demokratie und so weiter ist doch nicht unsere Sache. aber der löst sich dann in der Gruppe auf weil seine eigenen Freunde sprechen gegen ihn […] und der schmilzt dann sozusagen in der Gruppe auf man sieht. Mensch ich bin hier allein und da sind sechs Leute die vor meinen Freunden gegen mich sprechen also muss ich was an mir verändern (I: Bangkok 2017, Z. 1124–1136).

Hier dokumentiert sich sowohl die starke Kollektivorientierung des Angebots, als auch eine Individuierung der Problemlage: Der Einzelne muss aktiv etwas verändern, doch die Gemeinschaft unterstützt ihn, dies wahrzunehmen und umzusetzen. Überraschend zeigt sich hier ebenso wie bei einem anderen Angebot dieses Typs, dass die Mitarbeitenden gruppendynamischen Konflikte innerhalb der Gemeinschaft nicht thematisieren. Problematische Wirkungen und pädagogische Beziehungen, die gegebenenfalls bewusst mit dem Druck der Peergroup auf einzelne Jugendliche arbeiten, werden zudem nicht reflexiv relativiert oder durch die Mitarbeitenden kritisch betrachtet, worin sich Unterschiede zum Typ 1 zeigen.

Die religiösen Angebote richten sich dabei ausdrücklich an junge Menschen, die „das Gefühl haben das sie was Religiöses tun“ (I: Bangkok 2017, Z. 334) wollen, entweder ganz grundsätzlich oder weil sie im Laufe ihrer Jugend eine kurze spirituelle Phase durchleben. Die Mitarbeitenden dieses Typs vertreten die Grundthese, dass junge Menschen in einer spirituellen Suche besonders gefährdet sind, sich islamistisch-extremistischen Gruppierungen anzuschließen. Im Gegenhorizont dazu bieten die beiden Angebote eine den Jugendlichen durch die Mitarbeitenden als angemessen und förderlich für ihre Entwicklung bewertete Gemeinschaft von religiös und sozial Gleichgesinnten, d. h. „eine Gemeinschaft, wo sie sich wohlfühlen“ (I: Bangkok 2017, Z. 999–1002), die sich zugleich durch eine „religiöse Orientierung“ (Bangkok 2017, Z. 999–1002) auszeichnet und in der sie den Islam so erleben „wie wir […] versuchen ihn zu leben“ (Bangkok 2017, Z. 999–1002).

4.3 Orientierung auf Antworten aus den autoritativen Quellen des Islams

Im dritten Typ finden sich Mitarbeitende aus vier pädagogischen Angeboten wieder. Ähnlich wie in Typ zwei waren die Interviewten junge Musliminnen und Muslime, die überwiegend über ihre ehrenamtliche Tätigkeit Zugang zu einer Arbeit in den Projekten erhielten (für „I4“ liegen hierzu keine Informationen vor). Bei den Mitarbeitenden in Typ drei lässt sich die Überzeugung rekonstruieren, nach der Affinitäten zu islamistisch-extremistischen Ideologien bei den Jugendlichen auf einer Fehlinterpretation des Islams beruhen. Diese ist das Ergebnis eines – aus der Perspektive islamischer Theologie und Rechtswissenschaft – nicht fachlichen Umgangs mit den islamischen Überlieferungen. Entsprechend geht es darum, den jungen Menschen Perspektiven zur Erschließung fachlich fundierter Interpretationen zu vermitteln. In der daran anknüpfenden pädagogischen Praxis wurden zwei unterschiedliche Handlungsorientierungen rekonstruiert:

  1. a)

    Orientierung an begleiteter Exegese-Arbeit: Einige Angebote („Brasilia“ und „I2“) fokussieren in diesem Zusammenhang auf die Interpretation islamischer Quellentexte. Dazu werden Themen und Begriffe aus der islamischen Theologie und Rechtslehre, die die Jugendlichen verwenden und denen eine Bedeutung in islamistisch-extremistischen Ideologien zukommt, gemeinsam diskutiert.

    Der im Projekt „Brasilia“ interviewte pädagogische Mitarbeiter ist ein junger Muslim, der über sein ehrenamtliches Engagement bei einem muslimischen Jugendverband zu dieser Tätigkeit gekommen ist. Er beschreibt, dass er junge Menschen mit Affinitäten zu einer islamistisch-extremistischen Gruppierung an einem „bestimmten Wording“ (I: Brasilia 2019, Z. 869) erkennt, welches er als „arabische Floskeln“ (Brasilia 2019, Z. 872) bezeichnet, die „sehr stark kulturell, äh, religiös konnotiert“ (Brasilia 2019, Z. 874) seien. Daraus leitet der Interviewte in seiner pädagogischen Arbeit folgende Handlungsorientierung ab: „und wir versuchen wir versuchen die […] quasi mit den Begriffen zu erreichen die sie verstehen oder die sie die sie da verstanden haben oder äh. ja wir suchen auch Begrifflichkeiten vielleicht auch umzuinterpretieren mit ihnen“ (I: Brasilia 2019, Z. 874–877). Zur Verdeutlichung dieses Ansatzes erzählt er eine Gesprächssituation mit einem jungen Erwachsenen, der starke Affinitäten zu einer islamistisch-extremistischen Gruppierung zeigt und beschreibt sein Vorgehen folgendermaßen:

    und wenn man das so in Frage stellt dann werden die immer ganz schnell wacklig eigentlich und wenn du ihnen dann auch die quasi die Stellen zeigst woher. viele benutzen auch einfach ein Wort irgendwie das ist jetzt so en vogue oder. äh. äh. der benutzt jetzt das Wort obwohl er wirklich nicht weiß was dahintersteckt oder was der. was der eigentliche Sinn dahinter ist und. äh genau das brechen wir auf das dekonstruieren wir indem wir mit ihnen darüber sprechen und ihnen ganz klar diese Stellen zeigen (I: Brasilia 2019, Z. 888–894).

    Obwohl der Mitarbeiter das Setting als „ein relativ lockeres Gespräch“ (Brasilia 2019, Z. 899) beschreibt, ähnelt das Vorgehen jedoch weitgehend der Logik einer konfrontativen Beweisführung, die darauf abzielt die Aussagen des Gegenübers mit stichhaltigeren Argumenten zu widerlegen, wobei diese Ausführungen mehrfach mit einem Verweis auf den Propheten als Vorbild enden und z. B. mit der Wendung „also wenn er da nichts gegen hat, wie kannst du was dagegen haben“ (I: Brasilia, 2019, Z. 908f.) verstärkt werden. Dieser konfrontative Ansatz zeigt sich ähnlich im Interview mit dem Mitarbeiter von „I2“ und stellt eine homologe Orientierung dar. Der Ansatz endet jedoch nicht in der Beweisführung: Über gemeinsame Lektüre der Quellentexte sowie durch die Kontextualisierung mit anderen Quellen zeigen die Mitarbeitenden Komplexitäten und Widersprüchlichkeiten auf, die die Eindeutigkeitsvorstellungen extremistischer Ideologien irritieren. Zugleich vermitteln sie basale Exegese-Kompetenzen, die dem Fachlichkeitsfundament islamisch-theologischer Traditionen folgen.

    Im Ergebnis sollen die Jugendlichen in die Lage versetzt werden, selbstständig mit einer reflexiven Grundhaltung, Themen anhand der Quellentexte und der sie einordnenden theologischen Kontextualisierungen zu diskutieren – ohne dabei die Verkürzungen zu übernehmen, die ihnen im Internet angeboten werden (I: I2, Z. 738ff.). Der Mitarbeiter bringt dies auf folgende Formel: „du musst alles was du hörst und liest auch hinterfragen“ (I: I2, Z. 741f.), die er wiederum mit einer Überlieferung des Propheten begründet: „der hat auch mal gesagt hinterfragt hinterfragt auch mich also den Propheten selber, [denn], kopieren heißt einfach nur, dass man eine Sache übernimmt von der man noch nicht mal weiß ob sie richtig ist oder falsch ist“ (I: I2, Z. 743–746).

  2. b)

    Eine zweite Handlungsorientierung (in den Projekten „Basel“ und „I4“) liegt darin, den Teilnehmenden fachlich kompetent erarbeitete Antworten zu vermitteln und ihnen Grundregeln zum Erkennen unsachgemäßer Interpretationen an die Hand zu geben.

    Die Mitarbeitenden in diesen beiden Projekten haben im Vergleich zu den Typen zwei und drei eine deutlich geringer ausgeprägte religiöse Ausrichtung, worin im Sinne der Aspekthaftigkeit von Typisierungen deutlich wird: Sie stehen nicht trennscharf nebeneinander, sondern sind ineinander verschränkt und überlagern sich gleichsam (vgl. Bohnsack 2020, S. 66). Die Fachkräfte fokussieren sich stark auf Alltagsprobleme der muslimischen Jugendlichen, ähnliche habitualisierte Orientierungen sind für Mitarbeitende im ersten Typ rekonstruierbar. Der Kontrast in der Gemeinsamkeit (vgl. Bohnsack 2021, S. 147) zu Typ eins liegt im theologisch orientierten Habitus des Mitarbeiters, der beschreibt, dass sich die Arbeit im Projekt auf „eine religiöse Dimension“ des islamistischen Extremismus bezieht, die in der Moschee „irgendwie auch theologisch verarbeitet“ werden müsse, damit die Jugendlichen nicht die theologisch einfacheren Antworten aufgreifen (I: Basel 2019, Z. 649–657). Im Gegensatz zur Orientierung an Text-Exegese (a) warnen die Mitarbeitenden vor eigenständiger Quellenarbeit:

    Also dann würden wir zum Beispiel sagen, du (3) also du bist als Jugendlicher nicht in der Lage diese Hadithe zu interpretieren […] und wenn dann kannst du sie wirklich sehr falsch interpretieren […] die ganzen Werke sind eigentlich gar nicht übersetzt oder die sind sehr sehr fern für Jugendliche […] wenn jetzt Jugendliche kommen. ja […] der Koran ist so schön und jetzt interpretieren wir einen Vers […] weil man es im Deutschunterricht gemacht hat mit einem anderen Text aber […] mit dem Koran funktioniert das nicht (I: Basel 2019, 863–879).

    In einem Gegenhorizont dazu betont der Mitarbeiter, dass für eine Interpretation dieser HaditheFootnote 8 eine intensive Ausbildung (z. B. zum Imam) nötig ist, die sich deutlich von den in der schulischen Ausbildung erworbenen Fähigkeiten der Jugendlichen unterscheidet. Auffällig ist jedoch, dass die Mitarbeitenden nicht an den konjunktiven Erfahrungen der Jugendlichen ansetzen. Darin dokumentiert sich die habituelle Orientierung der Mitarbeitenden in Typ vier, die einen Wissenstransfer in ihrer pädagogischen Handlungspraxis ins Zentrum stellt. Dazu setzen die Fachkräfte bspw. auf eine Handreichung, wie sie von Mitarbeitenden des Projektes „Basel“ erstellt wurde oder auf eine Weitervermittlung an Imame, die „bei Aufklärungsgesprächen mit den Jugendlichen, was Religion angeht“ (I: I4, Z. 1011f.) helfen. Vor dem Hintergrund dieser habituellen Orientierung überrascht, dass die Mitarbeitenden beider Praxisprojekte in diesem Typ betonen, dass ihre eigene muslimische Identität von großem Vorteil für die Arbeit ist. Insbesondere innerhalb des Projektes „I4“ wird herausgestellt, dass die Teilnehmenden einen „Nicht-Moslem“ in dieser Rolle nicht akzeptieren würden (I: I4, Z. 872f.).

5 Zusammenfassung und Diskussion

In ihrer pädagogischen Arbeit mit muslimischen Jugendlichen orientieren sich Fachkräfte in den untersuchten Angeboten der Extremismusprävention am Islam. Dieser stellt sich in der rekonstruierten Handlungsorientierung als vergemeinschaftendes Moment der Zugehörigkeit zu einer Gruppe, als individueller Bestandteil der Persönlichkeit oder als Gegenstand von religiöser Bildung dar. Die drei genannten Handlungsorientierungen implizieren unterschiedliche Ansatzpunkte der pädagogischen Arbeit, die auf das Verhältnis der jungen Menschen zu ihren Peers abzielen, auf ihre Verortung in der Gesellschaft fokussieren, oder ihren Umgang mit der religiösen Diskurstradition in den Mittelpunkt stellen.

Insgesamt sehen die Fachkräfte in der Berücksichtigung der islamischen Religion in ihrer pädagogischen Praxis mit muslimischen Jugendlichen einen Beitrag zum Gelingen der Arbeit, die darauf ausgerichtet ist, junge Menschen gegen islamistisch-extremistische Ideologieangebote zu stärken und diese zu reflektieren. Dazu setzen die Fachkräfte einen spezifischen Fokus auf junge Musliminnen und Muslime als Zielgruppe ihrer Angebote und knüpfen in der pädagogischen Arbeit an die Religiosität bzw. das Interesse am Islam an, das sie bei einem Teil dieser jungen Menschen vorfinden.

Die Ergebnisse zeigen insgesamt, wie Fachkräfte die von ihnen wahrgenommene Offenheit der Jugendlichen für religiöse Themen in Form spezifischer religionspädagogischer Angebote nutzen, um sie mit den (sozial)pädagogischen Angeboten vertraut zu machen und sie anschließend für eine längerfristige Teilnahme an weiteren Angeboten zu gewinnen. Eine Orientierung am Islam hat in diesem Zusammenhang für die Mitarbeitenden die Funktion eines Türöffners in die Lebenswelt der jungen Menschen. Ähnliche Zusammenhänge beim Aufbau einer vertrauensvollen Beziehung konnten Barclay (2011), El-Mafaalani et al. (2016), Ostwaldt (2020) und Schau et al. (2017) herausarbeiten. Die Fachkräfte tragen in der Thematisierung von Religion dem von ihnen bei den jungen Menschen wahrgenommenen Bedürfnis und Interesse an einer intensiven Auseinandersetzung mit transzendenten, nicht allein religiösen Fragen z. B. nach einer habituellen Orientierung im Leben oder der eigenen Zukunft, Rechnung. Inwiefern eine solche Orientierung in den erwarteten Bedarfen muslimischer Jugendlicher deren Bereitschaft zur Teilnahme an Angeboten der Extremismusprävention zuträglich ist und damit dem in der Literatur formulierten Bias in der Zielgruppenerreichung der entsprechenden Beratungsstellen beiträgt (vgl. Glaser und Figlestahler 2016; Ostwaldt 2020; Schuhmacher 2018), muss an anderer Stelle untersucht werden. Die möglicherweise vorrangige Anknüpfung islamischer Bildung innerhalb (sozial)pädagogischer Freizeitangebote an eine Prävention von islamistischem Extremismus kann dabei jedoch eine Vereinseitigung dieser Praxis darstellen, die per se stigmatisierende Effekte gegenüber den Teilnehmenden erzeugt, wenngleich nicht davon ausgegangen wird, dass dies in der pädagogischen Arbeit intendiert ist.

Innerhalb der analysierten Angebote zeigt sich, dass einige Mitarbeitende ihre pädagogische Arbeit stark mit einer habituellen Orientierung als Muslime verbinden. Eine eigene muslimische Identität wird dabei als hilfreiches oder sogar als zentrales Element pädagogischer Praxis betrachtet. Eine Fokussierung auf die eigene Religionszugehörigkeit als das wesentlichste Persönlichkeitsmerkmal, mit dem die Jugendlichen adressiert werden, kann jedoch gegebenenfalls übersehene Aspekte pädagogischer Professionalität sowie andere wichtige Identitätsaspekte in den Hintergrund treten lassen. Auf diese Weise könnte aus dem Blick geraten, dass Jugendliche Authentizität, Offenheit und Verlässlichkeit der Mitarbeitenden auch unabhängig von deren Religiosität bewerten. Eine habituelle Orientierung an einer Ähnlichkeit aufgrund von Religion zeigt sich daher als eine wichtige, aber nicht alleinige Basis für die pädagogische Arbeit in den hier untersuchten (sozial)pädagogischen Settings, was insbesondere in Hinblick auf nicht-muslimische Mitarbeitende reflektiert werden sollte.

Die Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung differenzieren die Frage nach förderlichen oder herausfordernden Aspekten der Einbeziehung des Islams in die pädagogische Extremismusprävention (vgl. Clement 2020; El-Mafaalani et al. 2016). Sie deuten auf damit einhergehende Reflexionsbedarfe seitens der pädagogischen Mitarbeitenden hin, insgesamt dokumentieren sich in den auf den Islam bezogenen Handlungsorientierungen Perspektiven, in denen die Fachkräfte den Islam als eine Ressource ihrer Arbeit verstehen.