1 Einleitung

Die Bundesrepublik Deutschland hat die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) durch Gesetz im Dezember 2008 ratifiziert und ist seitdem völkerrechtlich daran gebunden. Art. 24 der Konvention verpflichtet die Vertragsstaaten zur Gewährleistung eines inklusiven Bildungssystems (vgl. Wrase 2017). Im föderalistischen Bildungssystem Deutschlands obliegt die Umsetzung der UN-BRK den Ministerien der Länder. Dementsprechend vielfältig sind die Reaktionen auf die Konvention. Nicht nur der Umgang mit Förderschulen, in denen bisher die Mehrheit der Kinder und Jugendlichen mit sonderpädagogischem FörderbedarfFootnote 1 unterrichtet wurde, variiert zwischen den Bundesländern, sondern auch die schulorganisatorische Umsetzung der Inklusion (vgl. Blanck 2015). Die derzeitige Debatte ist von der Frage geprägt, ob sich tendenziell alle allgemeinen Schulen dem Thema Inklusion öffnen und Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf unterrichten oder ob nur einige wenige Standorte, mit spezieller personeller, räumlicher und sächlicher Ausstattung, diese Aufgabe übernehmen. Letzteres Konzept wird unter dem Begriff der Schwerpunktschule diskutiert (vgl. Weishaupt 2016, S. 34).

Die Mehrheit der Bundesländer hat sich für eine flächendeckende Inklusion entschieden, die in einigen Ländern durch die Einrichtung spezialisierter Schulen ergänzt wird (z. B. Berlin und Hamburg). Rheinland-Pfalz ist gegenwärtig das einzige Bundesland, welches die Umsetzung der schulischen Inklusion vollständig über ein Netz an Schwerpunktschulen regelt. Schon seit dem Schuljahr 2001/02 entwickeln sich in Rheinland-Pfalz ausgewählte Standorte im regulären Schulsystem zu Schwerpunktschulen, in denen vorrangig die inklusive Beschulung von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf erfolgt. Aus Sicht der Bildungsverwaltung sind Schwerpunktschulen ressourcentechnisch einfacher bzw. kostengünstiger zu bewirtschaften, anstatt jede allgemeine Schule mit zusätzlichen Mitteln zu versorgen und diese für die Bedürfnisse von Kindern mit Beeinträchtigung auszustatten. Allerdings können Schwerpunktschulen als Separation im allgemeinen Schulsystem verstanden werden, die nicht per se mit der Forderung aus Art. 24 UN-BRK vereinbar ist (UN CRPD Committee 2016, para. 21). Abseits der menschenrechtlichen Implikationen eines Schwerpunktschulsystems vor dem Hintergrund der UN-BRK, sind die sozialen Folgen solcher Schulen bislang nicht erforscht.

Bisher wurde noch nicht untersucht, wie sich das soziale Umfeld der Schwerpunktschulen bei ihrer Etablierung von sonstigen Schulen unterscheidet, noch, wie sich die soziale Zusammensetzung der Schülerschaft an Schwerpunktschulen im Zeitverlauf entwickelt. Gegenwärtig besteht der Eindruck, dass die inklusive Beschulung von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf wesentlich häufiger von Schulen in prekärer Soziallage geleistet wird (Kraus et al. 2021; Möller und Bellenberg 2017, S. 47). Zwischen dem Vorliegen eines sonderpädagogischen Förderbedarfs und der sozialen Schichtzugehörigkeit besteht ein enger Zusammenhang: Kinder mit sonderpädagogischer Förderung kommen überproportional häufig aus sozial benachteiligten Haushalten und wohnen daher häufiger in benachteiligten Wohnquartieren (Bos et al. 2010). In Rheinland-Pfalz könnten deshalb Schwerpunktschulen vorrangig in sozial benachteiligten Wohngegenden entstehen, weil die Bildungsverwaltung an diesen Standorten den überwiegenden Anteil von Kindern und Jugendlichen mit sonderpädagogischem Förderbedarf vermutet. Die Umsetzung der schulischen Inklusion würde damit vor allem an Schulen delegiert werden, die bereits mit einer herausfordernden Schülerschaft konfrontiert sind. Der Sonderweg in Rheinland-Pfalz ist zudem interessant, weil das Label „Schwerpunktschule“ die Schulwahl von Erziehungsberechtigten beeinflussen könnte. Studien zu Bildungsentscheidungen zeigen, dass einkommensstarke und bildungsbewusste Haushalte bestimmte Schulen ansteuern und andere Standorte meiden, wenn diese nicht ihren Vorstellungen entsprechen. Das soziale Umfeld der Schule ist hierbei neben der Länge des Schulweges ein wichtiges Entscheidungskriterium (vgl. Fincke und Lange 2012). Da sich Schwerpunktschulen vorrangig an Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischen Lern- und Entwicklungsschwierigkeiten richten und diese überproportional häufig aus einkommensschwachen Familien stammen, könnte das soziale Umfeld der Schwerpunktschulen für Familien mit Bildungsaspiration unattraktiv wirken. Dies gilt umso mehr, da die Umsetzung der schulischen Inklusion kontrovers diskutiert wird und Erziehungsberechtigte Defizite in der Lernentwicklung leistungsstarker Schülerinnen und Schüler befürchten (vgl. Hollenbach-Biele und Klemm 2020).

In der Konsequenz, so unsere Vermutung, konzentrieren sich an Schwerpunktschulen vermehrt Kinder aus sozial benachteiligten Verhältnissen. Sollte sich die soziale Zusammensetzung der Schülerschaft an den Schwerpunktschulen im Vergleich zu anderen Schulen ungünstiger entwickeln, würde dies die soziale Segregation im Schulsystem verstärken und gewissermaßen den Leitgedanken der Inklusion, die Wertschätzung von Heterogenität, unterlaufen. Der Gemeinsame Unterricht würde damit die soziale InklusionFootnote 2 – das gemeinsame Lernen unterschiedlicher Sozialschichten – gefährden, mit Folgen für die Chancengerechtigkeit im Schulwesen. Ziel dieses Beitrags ist es deshalb zu untersuchen, welche Merkmale der sozialen Lage die Schülerschaft der Schwerpunktschulen in Rheinland-Pfalz kennzeichnen und wie sich die sozialen Bedingungen an diesen Schulen in den letzten Jahren entwickelt haben. Dabei konzentrieren wir uns auf den Grundschulbereich. Rheinland-Pfalz ist für die Untersuchung dieser Fragestellung besonders geeignet, da für alle Schulen jährlich die Anzahl der Schülerinnen und Schüler mit Lernmittelbefreiung erfasst werden: Bei Unterschreitung einer bestimmten Einkommensgrenze sind Familien auf Antrag berechtigt, notwendige Lernmittel kostenlos zur Verfügung gestellt zu bekommen. Die Lernmittelbefreiungsquote ist deshalb ein Indikator der materiellen Armut, der es ermöglicht, die Armutssituation der Schülerinnen und Schüler an den einzelnen Schulen zu berücksichtigten. Bei diesen Kindern handelt es sich „oft um Kinder von Arbeitslosen und Alleinerziehenden, meist auch mit niedrigem Bildungsstand“ (Weishaupt 2018, S. 248). Unserer Kenntnis nach liegen solche Daten für wissenschaftliche Zwecke sonst nur für Berlin vor.

Konkret untersuchen wir mit Daten der amtlichen Schulstatistik zwei Fragstellungen: Welche Merkmale der Schülerschaft (Lernmittelbefreiungsquote, Anteil der Kinder mit Migrationshintergrund, Anteil der Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf) kennzeichnen die Grundschulen, bevor sie zur Schwerpunktschule erklärt wurden? Wurden diese Schulen bereits in der Vergangenheit vermehrt von einer weniger privilegierten Schülerschaft besucht? Zweitens möchten wir analysieren, wie sich die soziale Zusammensetzung der Schwerpunktschulen zwischen den Jahren 2012 bis 2019 im Vergleich zu sonstigen Grundschulen entwickelt hat. Wir gehen hierbei davon aus, dass vor allem im städtischen Raum die Lernmittelbefreiungsquoten an Schwerpunktschulen stärker ansteigen, da in urbanen Räumen soziale Disparitäten zwischen Schulstandorten stärker ausgeprägt sind. Studien belegen, dass die soziale Segregation in deutschen Großstädten zunimmt, was wiederum Auswirkung auf die soziale Komposition der Grundschulen hat (Helbig und Jähnen 2018). Zudem gibt es in Städten genügend Wahlalternativen im Grundschulbereich, um eine Schwerpunktschule zu meiden. Der vorliegende Beitrag hat über Rheinland-Pfalz hinaus Relevanz, da die Beschulung von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf in spezifischen Standorten auch in anderen Bundesländern diskutiert bzw. umgesetzt wird.

2 Die rheinland-pfälzische Schwerpunktschule

Die schulorganisatorische Umsetzung der Inklusion variiert zwischen den deutschen Bundesländern. Die Regelungen und Konzepte der Länder zeigen, dass es eine Vielzahl an Modellen gibt. Die flächendeckende Inklusion sieht vor, dass prinzipiell alle Schulen Kinder und Jugendliche mit sonderpädagogischem Förderbedarf unterrichten. Ein solches Modell ist gegenwärtig in der Mehrheit der Bundesländer zu beobachten. Rheinland-Pfalz weicht von den restlichen Bundesländern insofern ab, da die Beschulung von Kindern und Jugendlichen mit sonderpädagogischem Förderbedarf (nahezu) ausschließlich in ausgewählten Standorten realisiert wird. Im Schuljahr 2019/2020 gab es 297 Schwerpunktschulen, in denen die inklusive Beschulung vorrangig stattfand (§ 14a SchulG). Im Unterschied zu den restlichen Bundesländern beteiligen sich daher nur wenige Schulen am Prozess der Inklusion: Im Schuljahr 2016/17 wurde nur an 29 % der allgemeinen Schulen in Rheinland-Pfalz mindestens ein Kind mit sonderpädagogischem Förderbedarf unterrichtet – der bundesdeutsche Durchschnitt lag damals bereits bei 66 % (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2018, S. 106).

Definiert wird die rheinland-pfälzische Schwerpunktschule (im Folgenden auch SPS) als eine „wohnortnahe (d. h. möglichst flächendeckend vorhandene) allgemeine Schule (Grundschule oder weiterführende Schule der Sekundarstufe I) mit einem erweiterten pädagogischen Auftrag“ (Laubenstein et al. 2015, S. 25). Ähnlich wie die Ganztagsschule handelt es sich bei der Schwerpunktschule nicht um eine eigene Schulform. Der Begriff beschreibt vielmehr eine spezifische Organisationsform des Unterrichts: Pro Klasse werden drei bis vier Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf gemeinsam mit Kindern ohne Förderbedarf unterrichtet. Welche allgemeine Schule zur Schwerpunktschule wird, bestimmt das rheinland-pfälzische Ministerium für Bildung, Wissenschaft, Weiterbildung und Kultur (MBWWK). Grundlage für diese Entscheidung ist eine Bedarfsermittlung der Aufsichts- und Dienstleistungsdirektionen (ADD). Zunächst erfolgte zum Schuljahr 2001/2002 die Einrichtung von 30 Schwerpunktschulen im Grundschulbereich, die bereits Erfahrung in der Beschulung von Kindern mit Behinderung durch Modellprojekte hatten (Laubenstein et al. 2015, S. 25). Bis zum Schuljahr 2019/2020 stieg die Zahl der Grundschulen auf 174 und die Zahl der Sekundarschulen auf 123.

Zur Erfüllung ihres pädagogischen Auftrags erhalten die Schwerpunktschulen eine zusätzliche (pauschalisierte) Ressourcenzuweisung. Im Rahmen dieses Modells erhält jede Schwerpunktschule (zusätzlich zur regulären Ausstattung) eine Zuweisung von sonderpädagogischen Lehrerwochenstunden zur Unterstützung von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf. Aus Sicht der Schulverwaltung wird das Konzept der Schwerpunktschule auch als „schulorganisatorisches Zuweisungsmodell von Stunden“ (Scheer et al. 2017, S. 6) bezeichnet. Die empirische Begleitforschung der Schwerpunktschulen deutet allerdings auf erhebliche Defizite in der Umsetzung hin. Von schulischen Akteuren wird insbesondere die intransparente Ressourcenzuweisung durch die Landesregierung sowie die massive Raumknappheit an den Schulstandorten kritisiert (Laubenstein et al. 2015, S. 277 ff.).

Zum Zeitpunkt der Ratifizierung der UN-BRK im Jahr 2009 existierte somit in Rheinland-Pfalz bereits ein Konzept zur Umsetzung des Gemeinsamen Unterrichts. Der Aktionsplan der Landesregierung aus dem Jahr 2010 beschreibt als Maßnahme für den Aufbau eines inklusiven Schulsystems, wie es in Art. 24 UN-BRK gefordert wird, den „kontinuierlichen Ausbau der Schwerpunktschulen unter Einbeziehung aller Schularten“ (MASGFF 2010, S. 13). Parallel hierzu hält Rheinland-Pfalz vollständig an seinem differenzierten Förderschulangebot fest. Mit der Schulgesetznovelle aus dem Jahr 2014 wurde den Erziehungsberechtigten ein „vorbehaltloses Elternwahlrecht“ eingeräumt (§ 59 Abs. 4 SchulG): Eltern von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf können sich entscheiden, ob ihr Kind an einer Förderschule oder an einer Schwerpunktschule unterrichtet werden soll. Kinder und Jugendliche mit sonderpädagogischem Förderbedarf können zwar auch eine andere allgemeine Schule, die nicht als Schwerpunktschule deklariert ist, besuchen, allerdings erfolgt in diesem Fall der Unterricht ausschließlich „zielgleich“, also unter Berücksichtigung der jeweiligen Anforderungen der Schulform. In der Regel stehen für den Gemeinsamen Unterricht außerhalb der Schwerpunktschulen keine zusätzlichen (personellen) Ressourcen zur Verfügung (Lange und Wenzel 2017, S. 10).

Die Zahl der Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf, die in Rheinland-Pfalz in der allgemeinen Schule lernen, hat sich seit 1999 erhöht: Im Schuljahr 1999 lernten insgesamt 2546 Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf in der allgemeinen Schule. Dies entsprach einer Inklusionsquote von 0,57 %. Bis zum Jahr 2018 wuchs dieser Anteil auf 2,1 % (7654 Schülerinnen und Schüler). Paradoxerweise hat sich jedoch die Förderschulquote im gleichen Zeitraum nicht verringert. Im Jahr 1999 lernten 15.833 Schülerinnen und Schüler an einer Förderschule. Dies entsprach einer Förderschulquote von 3,56 %. Zwar ist die absolute Zahl der Förderschülerinnen und Förderschüler im Jahr 2018 auf 14.947 gesunken, aufgrund demografischer Entwicklungen ist der relative Anteil jedoch auf 4,20 % gestiegen (KMK 2010, 2020). Im bundesdeutschen Vergleich ist die rheinland-pfälzische Inklusionsquote als sehr niedrig einzustufen. Nur Hessen und Bayern beschulten im Schuljahr 2018/19 anteilig weniger Kinder und Jugendliche im regulären Schulsystem (KMK 2020).

3 Erklärungsmechanismus und empirische Studien

Wie bereits einleitend beschrieben, vermuten wir erstens, dass Schwerpunktschulen vorrangig dort entstehen, wo bereits eine sozial benachteiligte Schülerpopulation zur Schule geht. Zweitens könnte das Label „Schwerpunktschule“ einen Einfluss auf Schulwahlpraktiken ausüben und zu einer Absetzbewegung von Kindern aus privilegierten Haushalten führen, da die Erziehungsberechtigten an Schwerpunktschulen ein ungünstiges Lernmilieu erwarten. Die beiden Vermutungen möchten wir nachfolgend anhand einiger Überlegungen und Verweise aus der bestehenden Literatur zur sozialen Segregation im Grundschulwesen explizieren.

3.1 Sozialräumliche Segregation und Bildung

Sozialräumliche Disparitäten im Grundschulwesen werden zunehmend in der Fachliteratur diskutiert und durch empirische Studien belegt (z. B. Parade und Heinzel 2020). Weil staatliche Grundschulen ihre Schülerschaft vorrangig aus festgelegten Einzugsbereichen rekrutieren, findet eine Selektion durch die soziale Zusammensetzung der Wohngebiete statt. Die Komposition der Schülerschaft in der Grundschule spiegelt deshalb mehr oder weniger die soziale Struktur der Region bzw. des Wohngebiets wider. Aktuelle Zahlen belegen einen Trend zu einer anwachsenden sozialen Segregation in deutschen Großstädten, d. h. zunehmend wohnen einkommensschwache Menschen in bestimmten Wohnquartieren (vgl. Helbig und Jähnen 2018). Unter der wohnraumbezogenen Segregation wird in diesem Zusammenhang die ungleichmäßige Verteilung von sozialen Gruppen (z. B. Personen mit Migrationshintergrund, einkommensschwache bzw. einkommensstarke Haushalte) auf räumliche Einheiten verstanden (Farwick 2012, S. 383 f.). Ursachen für die zunehmende Herausbildung benachteiligter Wohngegenden „liegen in einer wachsenden sozialen Ungleichheit bei gleichzeitiger Deregulierung der Wohnungsversorgung und des tendenziellen Rückzugs des Staates aus dem geförderten ‚sozialen Wohnungsbau‘“ (Beierle et al. 2019, S. 10). Die soziale Entmischung der Wohnviertel trägt daher zu einer ansteigenden sozialen Spaltung im Grundschulbereich bei, weil sich zunehmend sozial-homogene Gruppen in bestimmten Einzugsbereichen konzentrieren. Wie Weishaupt (2018, S. 257) für Rheinland-Pfalz im Rahmen einer Analyse der amtlichen Schulstatistik zeigen kann, besuchen rund ein Viertel der Schülerinnen und Schüler eine stark segregierte Grundschule mit einem hohen Anteil von Kindern mit Lernmittelbefreiung und/oder Migrationshintergrund.

Die Forschungsliteratur hat mittlerweile hinreichend belegt, dass Kinder und Jugendliche mit sonderpädagogischem Förderbedarf überproportional häufig aus sozial benachteiligten Haushalten stammen (vgl. Kölm et al. 2017; Kottmann 2006). Bereits die Hilfsschule (ehemalige Sonder- bzw. Förderschule) galt als Armenschule, die mehrheitlich von einer ökonomisch und kulturell benachteiligten Schülerschaft besucht wurde (Hänsel 2003, S. 600). Der Zusammenhang aus sozialer Schicht und Förderbedarf gilt dabei besonders prominent für den Förderschwerpunkt „Lernen“: Kinder und Jugendliche dieser Gruppe gehören häufig der unteren Sozialschicht an, wachsen häufiger in kinderreichen Familien auf und wohnen häufiger in sozial benachteiligten Wohnvierteln (Bos et al. 2010, S. 385). Dieser Förderschwerpunkt umfasst zudem prozentual die größte Gruppe der Kinder mit Förderbedarf. In Rheinland-Pfalz wurde im Schuljahr 2018/19 bei 55,1 % der Kinder und Jugendlichen mit Förderbedarf der Förderschwerpunkt „Lernen“ diagnostiziert – im bundesdeutschen Vergleich ist dies nach Bremen der höchste Wert (Hollenbach-Biele und Klemm 2020, S. 45). Die Literatur deutet zudem daraufhin, dass Kinder aus Familien mit Migrationshintergrund wesentlich häufiger einen sonderpädagogischen Förderbedarf zugeschrieben bekommen (z. B. Powell und Wagner 2002). In Rheinland-Pfalz, so zeigt die Analyse von Kemper (2012), ist der Relative-Risiko-Index für Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund erhöht, d. h. diese Schülergruppe erhält überproportional häufig eine Förderdiagnose. Da die Diagnose eines sonderpädagogischen Förderschwerpunkts hochgradig mit der sozialen Herkunft konfundiert ist, sind solche Kinder an Grundschulen in sozial benachteiligten Wohngegenden überrepräsentiert. Aus Sicht des Bildungsministeriums könnte es daher „rational“ erscheinen, Schwerpunktschulen „bedarfsgerecht“ zu eröffnen. Sollten Schwerpunktschulen vornehmlich in „schwieriger Lage“ entstehen, weil hier das Bildungsministerium die meisten Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf erwartet, würde die schulische Inklusion an Schulen delegiert werden, die ohnehin bereits mehrheitlich von sozial benachteiligten Kindern besucht werden. In den städtischen Gebieten würde zudem die ansteigende soziale Kluft zwischen den Wohnvierteln zu einem Anstieg von Kindern aus einkommensschwachen Haushalten an diesen Standorten führen. Denkbar ist auch, dass privilegierte Nachbarschaften aktiv gegen eine Umwandlung ihrer Grundschule in eine Schwerpunktschule vorgehen. Zwar gibt es hierfür keine empirischen Belege; blickt man aber auf die Vehemenz, mit der Teile der Elternschaft zum Beispiel gegen die Neujustierung des „Einzugsbereichs“ ihrer Grundschule vorgehen, um so das bevorzugte Lernmilieu gegenüber staatlichen Eingriffen zu verteidigen, kann auch Widerstand gegen die Errichtung von Schwerpunktschulen erwartet werden (vgl. Breidenstein und Voigt 2020).

3.2 Schulwahl im Grundschulwesen

Es wäre allerdings verkürzt anzunehmen, dass schulische Segregation nur durch die ungleiche Verteilung sozialer Gruppen im Wohnraum zustande kommt. Mehrfach wurde für Deutschland gezeigt, dass die ethnische und soziale Zusammensetzung von städtischen Grundschulen das Ausmaß der wohnraumbezogenen Segregation übersteigt (z. B. Fincke und Lange 2012; Kristen 2008; Riedel et al. 2010). Als Triebfeder für diesen Befund wird die elterliche Schulwahl identifiziert, die bei der Erforschung von sozialer Ungleichheit im Grundschulbereich immer größere Aufmerksamkeit erfährt. Auf den ersten Blick sieht es so aus, als ob Erziehungsberechtigte bei der Wahl der Grundschule wenig Entscheidungsspielraum haben: Schulfähige Kinder werden in der Regel je nach Wohnort in die räumlich nächste Bildungseinrichtung mit Primarstufe eingeschult. Mittlerweile haben jedoch alle Bundesländer die Möglichkeit geschaffen, dass Eltern bei der Schulanmeldung Präferenzen und Wünsche jenseits der lokale Einzugsschule angeben können (Mayer und Koinzer 2019, S. 266). Der Wechsel der Grundschule ist allerdings aufgrund der restriktiven Vorgaben der Schulgesetze mit hohem zeitlichem Aufwand verbunden und setzt ein Durchsetzungsvermögen sowie Detailwissen über das Schulsystem voraus, welches nicht in allen sozialen Gruppen gleichermaßen vorhanden ist (Fincke und Lange 2012, S. 14). Das quantitative Ausmaß solcher Schulwechsel im Grundschulbereich beläuft sich in deutschen Großstädten auf ca. 10 % (z. B. Katzenbach et al. 1999; Kristen 2005). Selbst wenn Gastschulanträge nicht gewehrt werden, können Erziehungsberechtigte durch den Wechsel des Wohnortes oder durch fingierte Umzüge ihrem Nachwuchs einen Platz an einer präferierten Grundschule sichern. Bundesweit zeichnet sich zudem ein Trend ab, dass Eltern aus höheren Schichten ihre Kinder zunehmend auf eine private Schule schicken (z. B. Spieß et al. 2009).

Zur Modellierung von schichtspezifischen Schulwahlentscheidungen und daraus resultierenden ungleichen Bildungschancen werden in der Bildungsforschung vor allem Rational-Choice-Ansätze (z. B. Boudon 1974; Erikson und Jonsson 1996) bemüht. Der Kern der Rational-Choice-Ansätze besteht in der Annahme, dass Akteure in Entscheidungssituationen kalkulieren, welche Erträge sich aus dem Besuch einer bestimmten Schule/Schulform ergeben und welche Kosten damit verbunden sind. Von den verfügbaren Möglichkeiten wird diejenige gewählt, die den höchsten (subjektiven) Nutzen verspricht (Maaz et al. 2006, S. 303). Auch bei der Wahl der Grundschule können diese Ansätze sinnvoll sein, da Eltern Aspekte wie die Schulqualität, das soziale Umfeld sowie pragmatische Aspekte wie die Schulweglänge gegeneinander abwägen (Mayer und Koinzer 2014, S. 167). Dabei werden diese Kriterien je nach sozialer Herkunft oder Milieu unterschiedlich bewertet: Längere Schulwege sind beispielsweise von statushöheren Familien leichter zu bewältigen als von einkommensschwachen Familien. Zudem messen Eltern aus höheren Sozialschichten der sozialen Komposition der Einzelschule mehr Gewicht bei und wählen häufiger eine Alternative, wenn die Einzugsschule nicht ihren Vorstellungen entspricht (Schwarz et al. 2019, S. 184 f.). Hohe Anteile von Kindern mit Migrationshintergrund und/oder aus sozial benachteiligten Haushalten werden hierbei als nachteilig für das Lernklima ausgelegt und nach Möglichkeit vermieden (z. B. Kristen 2008, S. 499). Bisher sind uns keine Studien für Deutschland bekannt, die zeigen, dass Erziehungsberechtigte Schulen meiden, die besonders häufig von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf besucht werden. Eine Studie von Burgess et al. (2015) zeigt allerdings für allgemeinbildende Schulen in England, dass diese von Erziehungsberechtigten seltener präferiert werden, wenn dort vermehrt Kinder mit special educational needs unterrichtet werden. In Deutschland könnte der starke Zusammenhang aus sozialer Schicht und Förderbedarf dazu führen, dass Erziehungsberechtigte das Label „Schwerpunktschule“ als Signal für ein ungünstiges Lernumfeld werten, dass es für den eigenen Nachwuchs zu vermeiden gilt. Befragungen von Erziehungsberechtigten haben ergeben, dass die Umsetzung der schulischen Inklusion von der Mehrheit der Befragten als defizitär wahrgenommen und eine Hemmung des fachlichen Lernens von leistungsstarken Kindern befürchtet wird (Hess et al. 2019, S. 13 f.; Hollenbach-Biele und Klemm 2020, S. 24 f.). Vor dem Hintergrund dieser Befunde kann deshalb vermutet werden, dass bestimmte Erziehungsberechtigte Schwerpunktschulen für ihren Nachwuchs vermeiden wollen.

Die soziale Segregation im Grundschulbereich wird auch durch die zunehmende „Ökonomisierung“ des Bildungswesens verstärkt (vgl. Mayer und Koinzer 2019). Diese zeigt sich einerseits in einem Zugewinn an Handlungsoptionen für Erziehungsberechtigte, denen mehr Autonomie bei der Grundschulwahl zugestanden wird. Anderseits etabliert sich bundesweit eine ausdifferenzierte Grundschullandschaft, in der sich Grundschulen durch die gezielte Gestaltung von Angeboten und Profilen voneinander abgrenzen und um (privilegierte) Schülergruppen konkurrieren (vgl. Stirner et al. 2019). Das pädagogische Angebotsprofil der Schwerpunktschule richtet sich in erster Linie an Kinder und Jugendliche mit sonderpädagogischem Förderbedarf. Es ist für die Schwerpunktschulen in Rheinland-Pfalz nicht auszuschließen, dass diese neben Kindern mit festgestelltem sonderpädagogischen Förderbedarf auch vermehrt Kinder mit sonstigen Problemlagen aufnehmen (müssen) und damit die soziale Zusammensetzung am Standort verschlechtert wird, was wiederum zu einer verstärkten Abwanderung von Kindern aus Haushalten mit hohem sozio-ökonomischen Status beitragen könnte.

Eine Zunahme von Kindern aus einkommensschwachen Haushalten in den Schwerpunktschulen kann demnach dadurch entstehen, weil diese Schulen vorrangig in sozial benachteiligten Wohnvierteln entstehen und/oder weil bestimmte Erziehungsberechtige solche Schulen für ihren Nachwuchs aktiv vermeiden. Auch wenn wir den wirkenden Mechanismus empirisch schlussendlich mit der vorliegenden Datenbasis nicht prüfen können, so wäre die Konsequenz für die Schwerpunktschule die gleiche: ein Anstieg bzw. eine Konzentration von sozial benachteiligten Schülerinnen und Schüler in Einrichtungen der inklusiven Bildung. Mit Blick auf die Forschungsliteratur scheint dies für den Kompetenzerwerb kontraproduktiv zu sein, da Schülerinnen und Schüler, die von einer sozial privilegierten Schülerschaft umgeben sind, bessere Schulleistungen vorweisen als Schülerinnen und Schüler, die in einer Gruppe aus sozial benachteiligten Kindern und Jugendlichen lernen (z. B. Dumont et al. 2013, S. 168). Für Rheinland-Pfalz konnten jüngst Kraus et al. (2021) aufzeigen, dass ein negativer Zusammenhang zwischen der durchschnittlichen Schulleistung der Schülerinnen und Schüler und der sozialen Zusammensetzung der Schülerschaft einer Grundschule besteht. Sollte sich die soziale Zusammensetzung an Schwerpunktschulen daher ungünstig entwickeln, hätte dies auch Auswirkung auf die Bildungschancen der dort unterrichteten Kinder und Jugendlichen.

3.3 Forschungsfragen

In diesem Beitrag wollen wir folgende Fragen empirisch untersuchen:

  1. 1.

    Welche Merkmale der Schülerschaft kennzeichnen die Schwerpunktschulen im Grundschulbereich zum Zeitpunkt, an dem sie in eine Schwerpunktschule umgewandelt wurden? Waren diese Schulen schon in der Vergangenheit durch höhere Quoten von Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf, höheren Anteilen von Kindern mit Migrationshintergrund und höheren Anteilen von Kindern mit Lernmittelbefreiung (LmB-Quote) geprägt? Wir vermuten, dass Grundschulen, die zur Schwerpunktschule wurden, bereits in der Vergangenheit von einer weniger privilegierten Schülerschaft besucht wurden.

  2. 2.

    Wie hat sich die soziale Zusammensetzung der Schwerpunktschulen seit dem Jahr 2012 entwickelt? Sollte es (unter Kontrolle der Schülerzahlen mit sonderpädagogischem Förderbedarf) zu einem überproportionalen Anstieg der LmB-Quote an diesen Standorten kommen, würde dies daraufhin deuten, dass die schulische Inklusion von Kindern mit sonderpädagogischer Förderung zunehmend in benachteiligten Lernmilieus stattfindet. Allerdings erwarten wir hierbei Stadt-Land-Unterschiede:

    1. a.

      Wir vermuten, dass die LmB-Quoten an Schwerpunktschulen in den größeren Städten stärker ansteigen als in ländlichen Gebieten. Dies ergibt sich, da kleinräumige soziale Unterschiede von Grundschulen im städtischen Raum stärker ausgeprägt sind als im ländlichen Raum (wohnraumbezogene Segregation). Außerdem sind die Grundschulwahlalternativen in Städten differenzierter als im ländlichen Raum, daher ist es für Familien einfacher, eine Schwerpunktschule zu meiden.

    2. b.

      Dementsprechend könnten messbare Stadt-Land-Unterschiede über die Distanz zu anderen Grundschulen moderiert werden, die sich im Umkreis der Schwerpunktschule befinden. Wenn es im Umkreis einer Schwerpunktschule eine weitere Grundschule gibt, dann wird eine Abwanderung höherer Schichten von der Schwerpunktschule wahrscheinlicher. Da sich in städtischen Räumen mehr Wahlalternativen in räumlicher Nähe zueinander befinden, sollte dies etwaige Stadt-Land-Unterschiede erklären.

4 Daten und Methode

Zur Untersuchung unserer Fragestellungen liegen uns Daten der amtlichen Schulstatistik in Rheinland-Pfalz seit dem Schuljahr 2007/08 bis einschließlich 2019/20 vor. Diese Daten haben wir vom Bildungsministerium sowie dem Statistischen Landesamt in Rheinland-Pfalz erhalten. Wie bereits angesprochen, konzentrieren wir unsere Betrachtung nur auf die Grundschulen. Im Sekundarbereich erscheint die Analyse nicht zielführend, weil sich die Schwerpunktschulen auf bestimmte Schulformen beschränken. So sind im Schuljahr 2019/20 80 % aller Gesamtschulen eine Schwerpunktschule, erwartungsgemäß aber kein einziges Gymnasium. Für Deutschland gilt der Befund, dass sich Gymnasien sehr selten an der Umsetzung der schulischen Inklusion beteiligten. Inklusion findet vor allem in Gesamt- sowie Hauptschulen statt (vgl. Hollenbach-Biele und Klemm 2020). Falls Eltern in ihrer Schulwahl auf den Status Schwerpunktschule reagieren, könnte dies nicht nur dazu führen, dass eine andere Schule der gleichen Schulform gewählt wird, sondern direkt eine andere Schulform. Dies in einer Analyse mit den vorliegenden Daten zu untersuchen, halten wir für kaum umsetzbar.

Die Berücksichtigung der sozialen Lage der Schülerinnen und Schüler ist über die deutsche Schulstatistik nicht ohne weiteres möglich, da relevante Merkmale wie der Beruf, das Einkommen oder der Bildungsstand der Eltern nicht erhoben werden. Um die soziale Lage der Schülerinnen und Schüler an den Schulen dennoch zu erfassen, ziehen wir Ersatzmerkmale heran: (1.) Der Anteil der Kinder mit Migrationshintergrund. In Rheinland-Pfalz zählen hierzu Schülerinnen und Schüler ohne deutsche Staatsangehörigkeit, deutsche Kinder, die nicht in Deutschland geboren sind und deutsche Kinder, die zwar in Deutschland geboren sind, in deren Familien jedoch vorwiegend kein Deutsch gesprochen wird. Nicht erfasst wird hingegen der Migrationshintergrund der Eltern, weshalb die Schulstatistik in Rheinland-Pfalz den Anteil der Kinder mit Migrationshintergrund um rund ein Viertel unterschätzt (Weishaupt 2018, S. 253). Für Deutschland gilt der Befund, dass Migranten und Migrantinnen deutlich häufiger Risikolagen (Erwerbslosigkeit, niedriges Einkommen und/oder niedrige Qualifikation) aufweisen als dies für Nichtmigrantinnen und Nichtmigranten der Fall ist (Autorengruppe Bildungsbericht 2016, S. 168 f.). (2.) Der Anteil der Kinder mit Lernmittelbefreiung (LmB-Quote). In Rheinland-Pfalz ist die Bewilligung der Lernmittelbefreiung nicht unmittelbar an staatliche Transferleistungen gebunden, die gültigen Einkommensgrenzen liegen etwas darüber (siehe: Landesverordnung über die Lernmittelfreiheit und die entgeltliche Ausleihe von Lernmitteln vom 16. April 2010). Die Lernmittelbefreiungsquote nutzen wir als Indikator für die Armutssituation der Kinder an den Schulen.

Weitere zentrale Variablen, die in unsere Untersuchung einfließen, sind der (3.) Anteil der Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf. Hierbei handelt es sich um Kinder, die im Rahmen eines sonderpädagogischen Feststellungsverfahren eine Förderdiagnose auf Grundlage eines amtlichen Gutachtens erhalten haben (§ 12 SoSchulO RP). Welcher Förderschwerpunkt vorliegt, ist auf Grundlage der verwendeten Daten nicht rekonstruierbar. (4.) Schwerpunktschule ja/nein. Die Codierung der Schwerpunktschulen erfolgte über ein Dokument des Bildungsministeriums, in dem festgehalten ist, zu welchem Zeitpunkt eine Grundschule zur Schwerpunktschule erklärt wurde. (5.) Die Anzahl der Schülerinnen und Schüler an einer Grundschule. (6.) Stadt/Land. Mit dieser Variable können wir die Schulen in den Städten mit einer Bevölkerung von 40.000 im Vergleich zu jenen Schulen in Gemeinden unter 40.000 Einwohnerinnen und Einwohner analysieren. Für diese Unterteilung haben wir uns entschieden, da alle kreisfreien Städte in Rheinland-Pfalz (bis auf Zweibrücken) mindestens 40.000 Einwohnerinnen und Einwohner haben. Als städtischen Räume haben wir zudem die nicht kreisfreien Städte Neuwied und Bad-Kreuznach codiert. (7.) Zuletzt haben wir eine Variable gebildet, die wiedergibt, ob sich eine weitere Grundschule im räumlichen Umfeld einer Schwerpunktschule befindet. Wir haben alle Adressen der Grundschulen in Rheinland-Pfalz in GPS-Koordinaten umgewandelt und berechnet, ob sich im Radius von 1,5 Kilometern eine weitere Grundschule – sofern diese selbst keine Schwerpunktschule ist – befindet. Die Distanzberechnung beruht auf der direkten Luftlinie zwischen den Schulen. Der Radius von 1,5 km wurde gewählt, da wir davon ausgehen, dass Familien im Grundschulbereich eine Schule wählen, die die dort unterrichteten Kinder bestenfalls fußläufig allein erreichen können.

Die Kennwerte der zentralen Variablen haben wir in Tab. 1 festgehalten.

Tab. 1 Kennwerte zentraler Variablen

Insgesamt werden wir vier Analyseschritte durchführen. In einem ersten Analyseschritt untersuchen wir in einem linearen Wahrscheinlichkeitsmodell, welche Merkmale der Schülerschaft für die Grundschulen kennzeichnend sind, bevor sie in eine Schwerpunktschule umgewandelt wurden. Für eine Längsschnittbetrachtung ergeben sich aus den vorliegenden Daten einige Herausforderungen, die wir versucht haben in Abb. 1 darzustellen. Uns liegen Daten zu den Schulen in Rheinland-Pfalz ab dem Schuljahr 2007/08 vor, weshalb Schwerpunktschulen, die vor dem Jahr 2007/8 etabliert wurden, in diesem Analyseschritt keine Berücksichtigung finden. Erst ab dem Jahr 2007/08 ist es möglich zu untersuchen, welche Merkmale die Schülerschaft der Schulen kennzeichnen, bevor sie zu einer Schwerpunktschule wurden. Hierfür stehen uns aber nur der Anteil der Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf, der Anteil der Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund und die Schulgröße (Anzahl der Schülerinnen und Schüler) zur Verfügung. Die Daten zu Kindern und Jugendlichen mit Lernmittelbefreiung werden in Rheinland-Pfalz erst ab dem Schuljahr 2012/13 erhoben. Zu diesem Zeitpunkt sind bereits 140 von 166 Grundschulen zur Schwerpunktschule ernannt worden. Wie sich diese Schulen zusammensetzten, bevor sie zur Schwerpunktschule wurden, kann dementsprechend nur für 26 Standorte untersucht werden. In unserem ersten Analyseschritt werden wir deshalb die Merkmale einer relativ kleinen Anzahl von Schwerpunktschulen analysieren. In einem deskriptiven zweiten Analyseschritt untersuchen wir anschließend, wie sich die Lernmittelbefreiungsquoten (LmB-Quote) an Schwerpunktschulen im Vergleich zu den sonstigen Grundschulen im Zeitverlauf verändert haben. Breits in diesem Analyseschritt untersuchen wir Stadt/Land-Unterschiede.

Abb. 1
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Übersicht über die Gründung von Schwerpunktschulen und Datenverfügbarkeit

Zentral für diesen Beitrag ist jedoch der dritte Analyseschritt. In diesem Schritt wollen wir untersuchen, wie sich die Lernmittelbefreiungsquoten (LmB-Quote) im Zeitverlauf zwischen Schwerpunktschulen und sonstigen Schulen verändert haben. Als Analysemethode verwenden wir lineare Zeitreihenregressionen mit fixen Schuleffekten. Mit diesen Modellen kann untersucht werden, wie sich die Veränderung verschiedener Merkmale (Migrationshintergrund, Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf und Schülerzahl) auf die LmB-Quote auswirkt. Problematisch bei fixen Effekten im Hinblick auf unseren Forschungsgegenstand ist, dass die Modelle nur die Veränderung des Merkmals „Schwerpunktschule“ zu dem Zeitpunkt messen, als die jeweilige Schule als Schwerpunktschule gekennzeichnet wurde. Dies ist allerdings dem Untersuchungsgegenstand nicht angemessen. Wir gehen davon aus, dass die LmB-Quote auch in der Folgezeit ansteigt. Um dies statistisch zu modellieren, haben wir Interaktionsterme mit dem Schuljahr gebildet. Die Schuljahre haben wir dabei als Dummy-Variablen konstruiert. Mit diesen Interaktionstermen lässt sich die Veränderung der LmB-Quote an Schwerpunktschulen im Zeitverlauf im Vergleich zur LmB-Quote an sonstigen Grundschulen interpretieren.

Wie oben ausgeführt, ist vor allem bei den Schwerpunktschulen, die sich in der unmittelbaren Nähe zu sonstigen Grundschulen befinden, davon auszugehen, dass Schulwahlpraktiken von Bedeutung sind. In größeren Städten sollten alternative Grundschulen häufiger verfügbar sein. Um dies zu modellieren, haben wir eine Variable gebildet, die wiedergibt, ob sich sonstige Grundschulen im Umkreis von 1,5 km einer Schwerpunktschule befinden (Analyseschritt 4). In diesem letzten Schritt prüfen wir, ob messbare Stadt-Land-Unterschiede über die Distanz zur nächstgelegenen Grundschule moderiert werden.

5 Ergebnisse

Im ersten Analyseschritt (Modell 1 in Tab. 2) haben wir in einem linearen Wahrscheinlichkeitsmodell untersucht, wie sich die Grundschulen ein Jahr vor ihrer Umwandlung in eine Schwerpunktschule von sonstigen Schulen unterschieden. Zur Darstellung der Ergebnisse verwenden wir standardisierte beta-Koeffizienten, die in ihrer Größe miteinander vergleichbar sind. Es zeigt sich für die Schwerpunktschulen, die ab dem Jahr 2007 gegründet wurden, dass diese bereits vor ihrer Umwandlung in eine Schwerpunktschule einen etwas höheren Anteil von Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf aufwiesen. Dies deutet darauf hin, dass jene Grundschulen zur Schwerpunktschule wurden, die bereits Erfahrung mit einer inklusiven Beschulung hatten. Einen signifikanten Einfluss hat zudem die Schülerzahl an den Grundschulen: Es wurden vor allem Grundschulen umgewandelt, die eine hohe Schülerzahl aufwiesen. Der Anteil von Kindern mit Migrationshintergrund sagt hingegen nicht voraus, ob eine Schule zur Schwerpunktschule wurde. Die Trägerschaft der Schulen hat ebenfalls keinen Einfluss auf die Ergebnisse.

Tab. 2 Lineares Wahrscheinlichkeitsmodell zur Analyse der Merkmale von Schwerpunktschulen ein Jahr vor ihrer Kennzeichnung

Nahezu die gleichen Ergebnisse zeigen sich auch für die Schwerpunktschulen, die ab dem Jahr 2012 gegründet wurden (Modell 2 in Tab. 2). Allerdings ist der Anteil von Schülerinnen und Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf nicht mehr statistisch signifikant. Bei den Grundschulen ab dem Jahr 2012 ist es erstmals möglich, die LmB-Quote in die Analysen einzubeziehen (Modell 3 in Tab. 2). Es zeigt sich, dass die Grundschulen bereits ein Jahr vor ihrer Umwandlung in eine Schwerpunktschule eine etwas höhere LmB-Quote aufwiesen. Unter Kontrolle der anderen Variablen im Modell lag die LmB-Quote um 5,4 Prozentpunkte höher als bei sonstigen Grundschulen (Ergebnisse einer linearen Regression mit der LmB-Quote als abhängiger Variable und unter Kontrolle der Variablen aus Tab. 2 – nicht gezeigt). Dies entspricht fast einer halben Standardabweichung. Die Ergebnisse sprechen für die Vermutung, dass Schwerpunktschulen vor allem an Grundschulen entstanden, die von Kindern aus einkommensschwachen Haushalten besucht wurden.

Da sich diese Ergebnisse nur auf einen kleinen Teil der Schwerpunktschulen beziehen, haben wir in Abb. 2 deskriptiv (gewichtet an der Schulgröße) dargestellt, wie sich die LmB-Quoten seit dem Jahr 2012 entwickelt haben (Analyseschritt 2). Dabei haben wir differenziert nach Schulen, die sich in Städten ab 40.000 Einwohnerinnen und Einwohner befinden und Schulen, die sich in kleineren Gemeinden befinden. Im Vergleich zu Grundschulen, die keine Schwerpunktschulen sind, zeigen sowohl die Schwerpunktschulen in kleineren Gemeinden als auch in den Städten im Jahr 2012 deutlich höhere LmB-Quoten. Die Differenz liegt in beiden Fällen bei rund 6 Prozentpunkten. Im Zeitverlauf gehen die LmB-Quoten an nicht-inklusiven Grundschulen um 3,3 (kleinere Gemeinden) bzw. 2,1 Prozentpunkte (Städte) bis zum Jahr 2019 zurück. Auch an den Schwerpunktschulen der kleineren Gemeinden gehen die LmB-Quoten um 2,9 Prozentpunkte zurück. Im Gegensatz dazu steigen die LmB-Quoten an den Schwerpunktschulen der Städte um 3,8 Prozentpunkte an und liegen nun 12 Prozentpunkte über jenen der sonstigen Grundschulen der Städte. Deskriptiv zeigt sich zunächst, wie vermutet, ein überproportionaler Anstieg der LmB-Quoten an den Schwerpunktschulen der Städte.

Abb. 2
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LmB-Quoten an Schwerpunktschulen und sonstigen Schulen in Städten und auf dem Land

Wie sieht es allerdings aus, wenn man die Entwicklung der LmB-Quoten multivariat und im Längsschnitt untersucht (Analyseschritt 3)? In Modell 1 (Tab. 3) ist zunächst dargestellt, wie sich die LmB-Quote im ersten Jahr ihrer Kennzeichnung als Schwerpunktschule entwickelt. Hier zeigt sich zunächst ein leichter Anstieg der LmB-Quote um 1,3 Prozentpunkte. Allerdings ist der Anstieg der LmB-Quote unter Kontrolle des Anteils von Kindern mit Migrationshintergrund, der Schulgröße und des Anteils von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf nicht mehr statistisch signifikant (Modell 2 in Tab. 3). Der Effekt für die Schwerpunktschulen wird dabei ausschließlich durch die Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf erklärt. In Modell 3 (in Tab. 3) haben wir zusätzlich einen Interaktionsterm für die Variablen Stadt und Schwerpunktschule aufgenommen. Die Ergebnisse zeigen, dass sich die Schwerpunktschulen im Jahr ihrer Kennzeichnung in größeren Städten und kleineren Gemeinden bezüglich der LmB-Quoten nicht voneinander unterscheiden. Im Zeitverlauf liegen die LmB-Quoten an Schwerpunktschulen im Vergleich zu dem Jahr 2012 (Referenzjahr) in allen Folgejahren etwas höher als an Grundschulen, die keine Schwerpunktschule sind. Allerdings zeigt sich nur für das Jahr 2015 eine statistisch signifikante Abweichung. Ein Jahrestrend ist nicht zu erkennen. Dies ändert sich jedoch, wenn wir einen weiteren Interaktionsterm modellieren, bei dem die Schwerpunktschulen in ihrem Jahrestrend nach Stadt und Land unterschieden werden (Modell 4 in Tab. 3). Insgesamt zeigt das Modell einen eindeutigen Trend: Die LmB-Quote an Schwerpunktschulen in den Städten steigt im Zeitverlauf überproportional an. Bereits in den Jahren 2013 bis 2016 (im Vergleich zu 2012) stiegen die LmB-Quoten der Schwerpunktschulen in den Städten stärker an als an sonstigen Grundschulen. Dieser Trend verstärkte sich im Jahr 2017, wird statistisch signifikant und stieg nochmal für die Jahre 2018 und 2019 an. Im Ergebnis sind die LmB-Quoten in den Schwerpunktschulen der Städte in den Jahren 2018 und 2019 um rund 3 Prozentpunkte stärker angestiegen als an den sonstigen Grundschulen. Dies geschah unabhängig vom Anteil der Kinder mit sonderpädagogischer Förderung.

Tab. 3 Lineare Zeitreihenregression zur Erklärung der LmB-Quoten mit fixen Schuleffekten

In den Modellen 5 und 6 (in Tab. 3) haben wir die Berechnungen für Städte und kleinere Gemeinden getrennt durchgeführt. Dies vereinfacht die Interpretierbarkeit der Ergebnisse, da wir mit deutlich sparsameren Modellen rechnen. Durch die Trennung der Modelle wird die Dreifachinteraktion aus Modell 4 überflüssig. Für die Schwerpunktschulen im ländlichen Raum (Modell 5 in Tab. 3) zeigt die LmB-Quote im Vergleich zu sonstigen Grundschulen keine abweichende Entwicklung. Nur bis zum Jahr 2015 ist ein leicht stärkerer Anstieg der LmB-Quoten an den Schwerpunktschulen in ländlichen Gebieten zu erkennen, der anschließend wieder rückläufig ist. In den größeren Städten in Rheinland-Pfalz stellt sich dies anders dar. Im Vergleich zum Jahr 2012, wuchsen die LmB-Quoten der Schwerpunktschulen stärker an als an den sonstigen städtischen Grundschulen. Dabei kommt es zunächst zu einem überproportionalen Anstieg der LmB-Quote für die Jahre 2013 bis 2017 um 1,2 bis 2,0 Prozentpunkte und für die Jahre 2018 bis 2019 um weitere 0,6 Prozentpunkte. Im Ergebnis sind die LmB-Quoten in den Schwerpunktschulen der Städte seit 2012 um 2,6 Prozentpunkte stärker angestiegen als in Grundschulen, die nicht für die schulische Inklusion von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf vorgesehen sind.

Eine Erklärung für den stärkeren Anstieg der LmB-Quoten in den städtischen Schwerpunktschulen könnte sein, dass in urbanen Räumen generell eine stärkere Zunahme sozialer Disparitäten feststellbar ist, aber auch Schulwahlpraktiken eine größere Rolle spielen. Deshalb haben wir berechnet, ob der stärkere Anstieg der LmB-Quoten an Schwerpunktschulen in den Städten auf die Existenz mindestens einer anderen Grundschule im Radius von 1,5 Kilometern zurückzuführen ist (Analyseschritt 4; Tab. 4). Auch hier mussten wir auf Interaktionsterme mit den Jahresdummys zurückgreifen, da die Radius-Variable im Zeitverlauf recht stabil ist. Modell 1 in Tab. 4 entspricht dabei Modell 4 aus Tab. 3. In Modell 2 haben wir zusätzlich aufgenommen, ob sich eine Schule im Radius von 1,5 Kilometern befindet und weitere Interaktionsterme dieser Variable mit den Jahresdummys (nicht gezeigt) und den Jahresdummys an Schwerpunktschulen. Die Ergebnisse zeigen, dass im Vergleich zum Schuljahr 2012 die LmB-Quoten an Schwerpunktschulen mit einer anderen Grundschule im Umfeld von 1,5 Kilometern im Jahr 2014 um 2,1 Prozentpunkte anwuchs und im Jahr 2015 um weitere 0,8 Prozentpunkte. Die LmB-Quote ist also an Schwerpunktschulen mit einer anderen Grundschule in räumlicher Nähe bis zum Jahr 2015 um knapp 3 Prozentpunkte stärker angestiegen als an Schwerpunktschulen mit keiner anderen Grundschule im näheren Umfeld. Das Jahr 2015 stellt dabei ein „Ausreißer“ dar. Die LmB-Quote sinkt zum Schuljahr 2016 wieder auf das Niveau von 2013. Allerdings steigt die LmB-Quote seitdem an diesen Schulen wieder an und liegt 2019 um 2,3 Prozentpunkte höher als an Schwerpunktschulen, bei denen sich keine Grundschule im Umkreis von 1,5 km befindet. Entscheidend ist, dass bei der Hinzunahme der Schulen im Umfeld der Effekt für die Schwerpunktschulen in Städten deutlich sinkt und nicht mehr signifikant ist. Der stärkere Anstieg der LmB-Quote in städtischen Schwerpunktschulen im Vergleich zu Schwerpunktschulen im ländlichen Raum kann größtenteils darauf zurückgeführt werden, dass in räumlicher Nähe der städtischen Schwerpunktschule eine weitere Grundschule liegt. Dies könnte ein Hinweis sein, dass Schulwahlpraktiken eine Rolle spielen.

Tab. 4 Lineare Zeitreihenregression zur Erklärung der LmB-Quoten mit fixen Schuleffekten

6 Diskussion

Die Entwicklung eines inklusiven Schulsystems und die Steuerung des Umsetzungsprozesses stellt die deutschen Bundesländer gegenwärtig vor große Herausforderungen. Die schulische Inklusion von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf wird in Rheinland-Pfalz vorrangig durch Schwerpunktschulen geleistet. Vor dem Hintergrund des Art. 24 BRK stellt sich bei Schwerpunktschulen die Frage nach menschenrechtlichen Implikationen, da diese weiterhin zur Aussonderung von Menschen mit Behinderungen in bestimmte Einrichtungen beitragen und der geforderten Transformation hin zu einem vollständig inklusiven Bildungssystem entgegenstehen. Allerdings ist die regionale Prävalenz der sonderpädagogischen Förderschwerpunkte sehr verschieden, was eine effiziente Steuerung der Fachkompetenz und die Bereitstellung „angemessener Vorkehrungen“ erschwert. Aus einer verwaltungstechnischen Perspektive sind Schwerpunktschulen daher ein begründbares Steuerungsmodell, da sonderpädagogische Lehrressourcen, aber auch bauliche Veränderungen und die Bereitstellung von Sachmitteln im rheinland-pfälzischen Schulsystem nur an ausgewählten Standorten vorgehalten werden müssen. Gleichzeitig hat das rheinland-pfälzische Schwerpunktschulsystem soziale Folgen, die auch in anderen Bundesländern zu erwarten sind: Zwar ist Rheinland-Pfalz bislang das einzige Bundesland, welches die inklusive Beschulung von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf ausschließlich in Schwerpunktschulen gewährleistet, in anderen Bundesländern gibt es jedoch ebenfalls Tendenzen, Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf in bestimmten Schulen zu konzentrieren.

Empirisch sind wir in diesem Beitrag zwei Fragen nachgegangen. Erstens haben wir untersucht, welche Merkmale der Schülerschaft die Grundschulen kennzeichneten, bevor sie in eine Schwerpunktschule umgewandelt wurden. Unsere Ergebnisse zeigen, dass der Anteil von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf bereits vor der Umwandlung in eine Schwerpunktschule leicht höher war, also Standorte zur Schwerpunktschule wurden, die bereits Erfahrung mit dem Gemeinsamen Unterricht von Kindern mit und ohne sonderpädagogischem Förderbedarf hatten. Zweitens wurden vor allem Grundschulen umgewandelt, die eine hohe Schülerzahl aufweisen. Dies macht sicherlich aus Effizienzgesichtspunkten Sinn, weil kleine Grundschulen vermutlich die stark steigende Anzahl von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf hinsichtlich der damit einhergehenden pädagogischen und organisatorischen Umstellungen nur schwer bewältigen können. Drittens zeigt sich, dass jene Grundschulen zur Schwerpunktschule wurden, die einen überproportional hohen Anteil von Kindern mit Lernmittelbefreiung beschulten. Die Umsetzung der schulischen Inklusion wurde daher vorrangig an Grundschulen delegiert, die bereits von einem sozial benachteiligten Milieu besucht wurden. Dieser Befund könnte darauf zurückzuführen sein, dass Schwerpunktschulen „bedarfsgerecht“ gegründet wurden, d. h. in sozial benachteiligten Wohngegenden, weil das Ministerium hier den höchsten Anteil an förderbedürftigen Kindern erwartete. Zudem ist denkbar, dass sich privilegierte Nachbarschaften gegen die Umwandlung ihrer lokalen Grundschule in eine Schwerpunktschule aktiv gewehrt haben, um das gewünschte Lernmilieu nicht zu gefährden. An dieser Stelle halten wir weitergehende Forschung für nötig, um die Aushandlungsprozesse für die Etablierung von Schwerpunktschulen stärker zu beleuchten.

Zweitens sind wir der Frage nachgegangen, wie sich die soziale Zusammensetzung der Schülerschaft an Schwerpunktschulen im Zeitverlauf im Vergleich zu regulären Grundschulen entwickelt hat. Hierbei zeigte sich, dass die Schwerpunktschulen im städtischen Raum einen stärkeren Anstieg der LmB-Quoten verzeichneten als sonstige Grundschulen. Die LmB-Quoten an den städtischen Schwerpunktschulen stiegen um 2,6 Prozentpunkte stärker an als in sonstigen städtischen Grundschulen. Die Etablierung von Schwerpunktschulen hat daher die soziale Segregation im rheinland-pfälzischen Grundschulwesen verschärft. Dabei ist davon auszugehen, dass dieser Effekt das tatsächliche Ausmaß der unterschiedlichen Entwicklungspfade unterschätzt. Wir messen in unseren Daten die LmB-Quoten aller Klassen. Angenommen werden kann, dass die Verschiebung der sozialen Zusammensetzung in erster Linie die Eingangsklassen betrifft bzw. ein Effekt der neu eingeschulten Kinder ist. Daher unterliegt der Effekt auf die LmB-Quoten in den Schwerpunktschulen einer gewissen Trägheit. Die von uns berechneten Effektstärken sind deshalb gering, es bleibt allerdings abzuwarten, ob sich bei einem kontinuierlichen Ausbau der inklusiven Bildung in Rheinland-Pfalz die von uns beschriebene Tendenz fortsetzt und verstärkt.

Unsere Untersuchung zeigt, dass die LmB-Quoten in städtischen Schwerpunktschulen mit einer weiteren Grundschule in räumlicher Nähe überproportional ansteigen. Dieser Effekt erklärt in großen Teilen die Unterschiede zwischen städtischen und ländlichen Schwerpunktschulen. Der Anstieg der LmB-Quote an städtischen Schwerpunktschulen mit Nachbarschule könnte darin begründet sein, dass Kinder aus privilegierten Haushalten eher eine Schwerpunktschule meiden, da die Erziehungsberechtigen dort ein ungünstiges Lernmilieu antizipieren. In der bestehenden Forschungsliteratur zur Grundschulwahl, ist das soziale Milieu neben der Schulweglänge ein wichtiges Entscheidungskriterium. Da die Diagnose eines sonderpädagogischen Förderbedarfs hochgradig mit der sozialen Schicht konfundiert ist, könnte das Label „Schwerpunktschule“ ein Signal für Eltern sein, dass an solchen Schulen vermehrt Kinder aus einkommensschwachen Haushalten beschult werden.

Unsere Studie hat mit Blick auf den theoretischen Rahmen jedoch eine wichtige Limitation. Wir können zwar zeigen, dass die LmB-Quoten vor allem an städtischen Schwerpunktschulen ansteigen, welche konkreten Mechanismen für diesen Anstieg verantwortlich sind, bleibt jedoch offen. Wir können z. B. nicht auf Elternbefragungen zurückgreifen, in denen Schulwahlpraktiken in Rheinland-Pfalz thematisiert werden. Ob Eltern bewusst eine Schwerpunktschule meiden, können wir mit den vorliegenden Daten nicht zeigen. Dies ist eine Forschungslücke, die weitergehende Forschung füllen sollte. Wie wir diskutiert haben, kann der Anstieg der LmB-Quote an Schwerpunktschulen auch durch den allgemeinen Trend ansteigender sozialer Segregation in den Städten beeinflusst werden. Sollte es in Gebieten, in denen sich die Schwerpunktschulen befinden, zu einem Anstieg von Kindern aus finanziell benachteiligten Haushalten gekommen sein, dann könnte dies auch unsere Ergebnisse beeinflussen. Ob es einen überproportionalen Anstieg der Armutsquote in Gebieten mit Schwerpunktschule gegeben hat, könnte man anhand der Sozialdaten für Mainz, Koblenz, Ludwigshafen, Trier und Worms noch bestimmen, da hier kleinräumige Sozialdaten zur wissenschaftlichen Nutzung vorliegen (vgl. Helbig und Jähnen 2019). Letztendlich ist die Konsequenz für die Schwerpunktschulen allerdings unabhängig von diesen Mechanismen: Der Anstieg der LmB-Quote an diesen Standorten führt zu ungünstigeren Lernmilieus mit Folgen für die weitere Bildungsbeteiligung und der Chancengerechtigkeit im Schulwesen. Die Umsetzung der schulischen Inklusion von Menschen mit Behinderung führt in Rheinland-Pfalz zu einer Verschärfung von Segregationstendenzen und daher zu einer Abnahme des sozialen Miteinanders. Das Konzept der Schwerpunktschule scheint daher in Rheinland-Pfalz auf Kosten der sozialen Inklusion zu gehen.