1 Einleitung

„Interferenz“ bezeichnet in der Physik den Effekt, der eintritt, wenn sich zwei oder mehr Wellen überlagern; die Interferenz kann „destruktiv“ sein, wenn sich die Wellen gegenseitig auslöschen oder „konstruktiv“, wenn sie sich verstärken. Ich will im Folgenden den Begriff der Interferenz eher metaphorisch gebrauchen, um nach sich überlagernden und sich überschneidenden Praktiken im Kontext schulischen Unterrichts zu fragen. Es geht im folgenden Beitrag darum, eine Perspektive auf Unterricht zu entwickeln, die diesen im Sinne soziologischer Praxistheorien als Zusammenspiel sozialer Praktiken versteht und die es erlaubt, nach der Beschaffenheit, dem Zusammenhang und den Interferenzen dieser Praktiken zu fragen. Viele der Praktiken, aus denen sich der Vollzug alltäglichen Unterrichts zusammensetzt, sind in den letzten Jahren im Kontext qualitativ-praxeologischer Unterrichtsforschung in den Blick genommen und z. T. minutiös in ihrer jeweiligen Eigenlogik untersucht worden. Um das heuristische Potenzial praxeologischer Unterrichtsforschung aber weiterführend zu entwickeln, bedarf es, das ist die Annahme, die hier verfolgt werden soll, der Frage nach den Verknüpfungen und Interferenzen zwischen den einzelnen Praktiken, die einander zur gleichen Zeit und am gleichen Ort überlagern. Unterschiedliche Praktiken, die sich in der Beobachtung alltäglichen Unterrichts identifizieren lassen, können an unterschiedlichen Problemstellungen orientiert sein: etwa an der Herstellung und Aufrechterhaltung einer bestimmten Unterrichtsordnung; an den Herausforderungen mathematischen oder literarischen Argumentierens; oder etwa an den Relevanzen der Peerkultur von Schülerinnen und Schülern (Breidenstein 2018). Diese unterschiedlichen Ausrichtungen, oder ‚Schwingungen‘ der Praktiken, um im Bild zu bleiben, können parallel und gleichsinnig verlaufen, können einander verstärken, können aber auch durchaus in Spannung zueinander stehen oder einander stören. Die Metaphorik der „interferierenden Praktiken“ soll dazu anregen, die Effekte des Zusammentreffens unterschiedlicher Praktiken im Unterrichtsvollzug genauer in den Blick zu nehmen.

Das Phänomen der Interferenz erscheint insbesondere für jene Praktiken, die sich auf die Ordnung des Unterrichts richten, und jene, die das fachliche Lernen beinhalten, relevant. Betroffen ist also, disziplinär gesprochen, das Verhältnis von erziehungswissenschaftlicher und fachdidaktischer Unterrichtsforschung (Martens et al. 2018). Dabei liegt das Ziel des Beitrages nicht darin, einzelne empirische Studien und deren Befunde zu diskutieren; beansprucht wird auch nicht ein Forschungsüberblick, der den Rahmen eines Aufsatzes bei Weitem sprengen würde.Footnote 1 Stattdessen soll eine bestimmte Heuristik entwickelt und zur Diskussion gestellt werden. Unterschiedliche Linien qualitativer Unterrichtsforschung werden so aufgegriffen und ‚praxistheoretisch‘ gelesen, dass sich forschungsleitende Fragen mit Blick auf die Praxis fachlichen Lernens im Kontext schulischen Unterrichts entwickeln lassen.Footnote 2

Unterrichtsforschung wird mit dem Rekurs auf Praxistheorien nicht neu erfunden – viele empirische Studien, insbesondere in ethnomethodologischer (Breidenstein und Tyagunova 2012; Hester und Francis 2000) und interaktionistischer Tradition (Naujok et al. 2008), sind implizit längst praxeologisch ausgerichtet – es geht hier eher darum, durch einige Akzentuierungen neue Bezugnahmen und Fokussierungen zu ermöglichen. In qualitativer Unterrichtsforschung findet sich aber auch zunehmend der explizite Bezug auf die „Theorie sozialer Praktiken“ als grundlagentheoretische Referenz, um schulischen Unterricht in spezifischer Weise, nämlich als Zusammenhang sozialer Praktiken zu konturieren (Breidenstein 2006; Kolbe et al. 2008; Reh et al. 2011). Insbesondere die ethnographische Unterrichtsforschung sucht damit Anschluss an sozialtheoretische Diskussionen, die international durch einen Band von Schatzki et al. (2001), in Deutschland durch einen Beitrag von Reckwitz (2003), ausgelöst wurden und zu intensiven Debatten über die (Neu‑) Konfigurierung des „Sozialen“ geführt haben (Hillebrandt 2014; Schäfer 2016; Schmidt 2012). Diese Theorie-Diskurse werden seit einigen Jahren auch in der Erziehungswissenschaft rezipiert und mit Blick auf die Gegenstände und Fragestellungen der Unterrichts- und Bildungsforschung spezifiziert (Alkemeyer et al. 2015; Budde et al. 2018).

Der Beitrag greift diese Entwicklung auf und möchte sie weiter profilieren; so soll durch den Bezug auf aktuelle Diskussionen um „Praxistheorien“ herausgearbeitet werden, welches heuristische Potenzial diese Theorieperspektive gerade für die Unterrichtsforschung enthält. Dabei wird es darum gehen, Anschlüsse auch zur fachdidaktischen Unterrichtsforschung zu markieren. Es soll die Annahme verfolgt werden, dass mit einer Orientierung an Praxistheorien eine Heuristik zur Verfügung gestellt werden kann, um das prekäre Verhältnis zwischen Unterrichtsordnung und den Möglichkeiten fachlichen Lernens (theoretisch) zu konzeptualisieren und (empirisch) zu beobachten (Breidenstein und Tyagunova 2020). Meine Referenzen und Beispiele entstammen überwiegend der Grundschulforschung, und hier insbesondere der Mathematikdidaktik sowie der Deutschdidaktik, aber der Anspruch der konzeptionellen Überlegungen geht darüber hinaus. Ich gehe in drei Schritten vor. Zunächst möchte ich einige allgemeinere Bestimmungen zu „Praxistheorien“ aufgreifen und in ihrer spezifischen Relevanz für Unterrichtsforschung diskutieren. Anschließend will ich das Problem fachlichen Lernens fokussieren, das praxistheoretisch noch wenig ausgeleuchtet ist. Vor diesem Hintergrund komme ich schließlich auf das Bild von den interferierenden Praktiken und die damit angesprochene Heuristik zurück.

2 Praxistheoretische Potenziale für die Unterrichtsforschung

Die Theorie sozialer Praktiken gibt es nicht, stattdessen handelt es sich um ein Label, das verwendet wird, um einige neuere sozial- und kulturtheoretische Überlegungen zu bündeln und auf ihre theoriestrategischen und heuristischen Potenziale hin zu diskutieren. Es handelt sich auch eher um ein Forschungsprogramm als um einen bereits vorliegenden Forschungszusammenhang (auch wenn in diversen Kontexten entsprechende empirische Studien entstanden sind und entstehen). Der kleinste gemeinsame Nenner dieser interdisziplinären Bewegung besteht in der Ausrichtung an „sozialen Praktiken“ als (theoretischem wie empirischem) Untersuchungsgegenstand.

Soziale Praktiken werden in einer inzwischen schon fast klassischen Formulierung Schatzkis (1996, S. 89) als „nexus of doings and sayings“ gefasst. Auf doings und sayings im Kontext von Unterrichtsforschung wird noch zurückzukommen sein, interessant ist zunächst der „nexus“: Es geht um einen – empirisch beobachtbaren – Zusammenhang aufeinander bezogener Aktivitäten oder Verhaltensweisen. In diesen Zusammenhang, die Praktik, können außer Menschen und ihren Körpern auch Dinge, Zeichen, Architekturen und andere Entitäten einbezogen sein. „Die Orte des Sozialen bestehen aus Bündeln von Praktiken und materiellen Arrangements“ (Schatzki 2016, S. 33). „Materielle Arrangements“ werden von Schatzki als „Verbindungen von Menschen, Organismen, Artefakten und natürlichen Dingen“ bestimmt, die einerseits von Praktiken hervorgebracht, gebraucht und verändert werden und andererseits „Praktiken ausrichten, präfigurieren und ermöglichen“ (ebd.). Praxistheorien verstehen sich als Alternative zu der klassischen Opposition von Handlungs- und Strukturtheorie, indem sie die Strukturierung des Sozialen im Vollzug der sozialen Praxis selbst verorten (auch schon Bourdieu 1976; Giddens 1995). Praktiken im Sinne von Schatzki (1996) sind durch das ihnen inhärente Wissen, aber auch „teleoaffektive Strukturen“ gekennzeichnet, durch Ziele und Stimmungen, die aber wiederum nicht handelnden Akteuren und ihren Intentionen zuzuschreiben sind, sondern den Praktiken selbst immanent sind. Insbesondere in Ansätzen aus der neueren Wissenschaftsforschung wird die Rolle der Dinge, der Objekte, in den epistemischen Praktiken herausgearbeitet (Knorr Cetina 2002; Latour 2002). Bemühungen um eine Theorie sozialer Praktiken führen schließlich auch zu einer neuen Aufmerksamkeit für Körper als „materielle Partizipanden des Tuns“ (Hirschauer 2004).

In diesem Rahmen kann nicht in die Grundlagen von Praxistheorien als solche eingeführt werden,Footnote 3 stattdessen sollen einige ihrer Prämissen mit Blick auf Unterrichtsforschung konkretisiert werden. Ich will drei Herausforderungen fokussieren, die mit einer Orientierung an Praxistheorien einhergehen (können) und die zugleich den (möglichen) Gewinn markieren: Erstens können über menschliche Akteure hinaus weitere Beteiligte an der Unterrichtspraxis identifiziert werden; zweitens kann die Stabilität der Unterrichtspraxis über Situation und Interaktion hinaus konzipiert werden; und drittens werden pädagogische und didaktische Normen als Probleme der Vollzugswirklichkeit von Unterricht beobachtbar. Praxistheoretische Perspektiven können dazu beitragen, „Unterricht“ als einen Untersuchungsgegenstand zu konturieren, dessen empirische Gestalt sich weder allein aus dem Handeln von „Akteuren“ ergibt, noch aus umfassenden „Strukturen“ ableitet, sondern als komplexes Zusammenspiel sozialer Praktiken verstehbar wird.

2.1 Unterricht als sozio-materielles Arrangement: diverse Beteiligte und stumme Praktiken

Qualitative Unterrichtsforschung ist zu großen Teilen Gesprächsforschung. Und das mit gutem Grund: Das Unterrichtshandeln von Lehrpersonen besteht im Wesentlichen aus sprachlichem Handeln, schulisches Lernen ist weitgehend sprachbasiertes Lernen, Unterricht kann insgesamt paradigmatisch als „Sprachspiel“ (Lüders 2003) verstanden werden. Unstrittig scheint, dass ein Gutteil schulischer Interaktion sich tatsächlich im Medium der Sprache abspielt, die Bevorzugung von Verbaldaten in der Unterrichtsforschung beruht aber wohl auch darauf, dass sich daran die bewährten Verfahren der Sinnrekonstruktion anwenden lassen. Praxeologische Analysen gehen demgegenüber über „sayings“ hinaus und beziehen auch andere Formen des „doing“ mit ein (vgl. Hillebrandt 2016). Sie weisen auf die materielle und die körperliche Dimension unterrichtlicher Praxis hin, untersucht werden „Stumme Praktiken“ (Falkenberg 2013) und „Ding-Praktiken“ (Rabenstein 2018), die Untersuchung schulischen Unterrichts wird gegenüber dem herkömmlichen Blick auf die Lehrperson als zentraler Akteurin „dezentriert“ (Röhl 2016).

Asbrand und Martens (2018, S. 126) beziehen sich auf das Latour’sche Konzept der „Delegation“ (Latour 2002), wenn sie festhalten: „Eine im Unterricht sehr häufige Form der Assoziation mit Dingen ist die Delegation von fachlichem Wissen, Unterrichtsinhalten und Aufgabenstellungen an Unterrichtsmaterialien oder Schulbücher“. Die Beteiligung dieser Materialien an der unterrichtlichen Praxis wäre also in die Analyse einzubeziehen. In praxeologischer Perspektive kann etwa nach der „Performativität des Schulbuchs“ (Macgilchrist 2018) gefragt werden. Dabei sind die in die Unterrichtspraxis eingebundenen Artefakte keineswegs nur instrumentell im Sinne von ‚Werkzeugen‘ zu verstehen – Reckwitz (2016) macht darauf aufmerksam, dass gerade die Artefakte oft für die affektive Aufladung der Praktiken sorgen. Die Dinge des Unterrichts – Artefakte, Objekte, Materialien – als Beteiligte der unterrichtlichen Praxis zu verstehen, erscheint insbesondere plausibel mit Blick auf Formen ‚geöffneten‘ und dezentrierten Unterrichts, in denen Arbeitsblätter und Lernmaterialien zu dominanten Bezugspunkten des Schülerhandelns werden (Breidenstein und Rademacher 2017). Mit den „Dingen des Wissens“ (Röhl 2013) kommen die Unterrichtsgegenstände (im Sinne des Wortes), die fachlichen Inhalte der Unterrichtspraxis, in den Blick der Unterrichtsforschung.

Eine solche Perspektive führt zugleich zur „Erweiterung eines interaktionistischen Situationsbegriffs“ (Wiesemann und Lange 2015, S. 262). Denn die Delegation findet in der Regel außerhalb der unmittelbaren Unterrichtsinteraktion statt: in der häuslichen Unterrichtsvorbereitung der Lehrkraft, in der Erstellung und Weitergabe von Arbeitsblättern und – nicht zuletzt – in den Schulbuchverlagen. So zeigt etwa die Studie von Lange (2017) aus einem Lehrmittelverlag eindrucksvoll, wie mit einem Experimentierkoffer für den Sachunterricht der Grundschule ein Unterrichtsteilnehmer konzipiert und konfiguriert wird, der dann seinerseits großen Einfluss auf die Strukturierung unterrichtlicher Praktiken nimmt.

Eine in der Unterrichtsforschung weithin vernachlässigte Dimension der Unterrichtspraxis ist schließlich die körperliche: „Der menschliche Körper ist an jeder Praktik beteiligt, indem er sie materiell erzeugt. Gleichzeitig wird der menschliche Körper durch jede Praktik immer wieder neu geformt, weil sich Praktiken in den Körper materiell einschreiben“ (Hillebrandt 2016, S. 75). Falkenberg (2013) zeigt in einer Untersuchung zu „stummen Praktiken“ in der Schule, wie „Schülerkörper“ unterrichtliche Praktiken ausführen, sich diesen aber auch entziehen, sie modifizieren und wie die Körper ihrerseits über den Verlauf der Schulzeit in ihren Bewegungen, ihren Haltungen und ihrem Ausdruck geprägt werden.Footnote 4

2.2 Unterricht als Wiederholung: Stabilität und Varianz der sozialen Praxis

Mit der Materialität unterrichtlicher Praktiken gerät auch eine wichtige Dimension ihrer Stabilisierung über lange Zeitstrecken in den Blick: Es sind eben nicht nur die wechselseitigen Erwartungen von Interaktionsteilnehmern und Routinisierungen des Handelns, die die unterrichtliche Interaktion so dauerhaft und – bisweilen geradezu ermüdend – gleichförmig machen, sondern auch die anderen Beteiligten, die Möbel (Berdelmann und Rieger-Ladich 2012), die Schulgebäude, die Lehrmittel und die Körper.

Schatzki (2016) votiert für eine „flache Ontologie“ in praxistheoretischer Forschung. Er schlägt vor, auf eine Unterscheidung von Makro‑, Meso- und Mikroebene für die Sortierung von Phänomenen zu verzichten (wie sie gerade in der Erziehungswissenschaft so beliebt ist) und stattdessen nach dem Zusammenhang, nach der Vernetzung der Praktiken zu fragen und dabei eher die Skalierung der Beobachtung zu variieren, als von ontologischen Differenzen auszugehen. Es ginge dann also in praxeologischer Forschung nicht darum, zu fragen wie die ‚unterrichtliche Interaktion‘ durch ‚die Schule‘ oder ‚die Gesellschaft‘ geprägt wird, sondern in einem variablen Ranzoomen und Wegzoomen der analytischen Aufmerksamkeit (Hirschauer 2016) die Zusammenhänge zwischen den lokalen, situierten Praktiken (dem ‚Stationenlernen‘ im Sachunterricht) und den großen Praktikenformationen (dem Lehrmittelverlag) in ihrer konkreten empirischen Gestalt nachzuvollziehen. Und auch einzelne Praktiken, wie etwa das ‚Stationenlernen‘, sind wiederum spezifiziert durch konkrete lokale Bedingungen (räumliche und zeitliche Ressourcen) und zugleich zeit- und raumübergreifend tradiert, etwa in Medien und Praktiken der Lehrerbildung.

Wenn die Stabilität und Beharrlichkeit unterrichtlicher Praktiken nicht abstrakten „Systemen“ oder „Strukturen“ zugerechnet wird, kann die Analyse darauf zielen, konkrete Elemente und Formen der Stabilisierung in den sozialen Praktiken zu identifizieren (Lehrmaterial, Interaktionsmuster, Instrumente der Leistungsbewertung usw.). Der Fokus auf die Routiniertheit und Stabilität sozialer Praktiken kann allerdings auch mit einem tendenziell statischen Bild von sozialer Praxis einhergehen, vernachlässigt würden dann innere Widersprüche, Spannungen und die Dynamik sozialer Ordnungen. Demgegenüber entwickelt Schäfer (2016) eine Vorstellung von Praxis, die gerade in dem Moment der Wiederholung den „Raum für Bedeutungsverschiebung“ und die Möglichkeit der Veränderung identifiziert, insofern der Prozess der Bedeutungsproduktion selbst temporalisiert wird. „Die Frage nach der Stabilität oder Instabilität des Sozialen wird damit zu einer strikt empirischen Frage“ (Schäfer 2016, S. 142).

Die praxeologische Analyse kann sich auch auf ‚Erfindungen‘ der Praxis richten, z. B. auf innovative Praktiken reformpädagogischer Provenienz, und nach dem konkreten Vollzug dieser Praktiken fragen. Die Beobachtung pädagogischer Innovationen in situ scheint eine der wichtigen und herausfordernden Aufgaben praxeologischer Unterrichtsforschung zu sein; denn dabei zeigen sich durchaus ungeplante und ungewollte ‚Interferenzen‘ der innovativen Praktiken mit anderen unterrichtlichen Praktiken – etwa in der Untersuchung des „Lernentwicklungsgesprächs“ (Bonanati 2017) oder der Praxis des „Portfolios“ (Bossen 2020).Footnote 5

2.3 Unterricht als praktische Bearbeitung von Kontingenz: Die ‚Pädagogizität‘ der Praxis

Erziehungswissenschaftliche Theoriebildung ist sich der konstitutiven „Ungewissheit“ im Lehrerhandeln bewusst (Helsper 2003), es geht beim Unterrichten immer um ein „Handeln in kontingenten Situationen“ (Rosenberger 2018). Unterricht erscheint als soziale Praxis in ihrer zentralen Zweckbestimmung, dem Lernen von Schülerinnen und Schülern, ausgesprochen prekär. Unterrichtsmodelle und -theorien unterschiedlicher Couleur sind sich darin einig, dass kein direkter Weg vom Lehren zum Lernen führt, dass vom „Angebot“ nicht unmittelbar auf dessen „Nutzung“ geschlossen werden kann (Helmke 2012 [2003]), bzw. dass die Vermittlungsabsicht es mit einem systematischen „Technologiedefizit“ (Luhmann und Schorr 1988) zu tun hat. Was bedeutet das für die Unterrichtspraxis? Wie geht die Praxis in ihrem Vollzug damit um, dass sie sich des Erfolgs ihrer Anstrengungen kaum sicher sein kann?

Wenn man die „Pädagogizität“ unterrichtlicher Kommunikation, einem Vorschlag von Meseth et al. (2011, 2012) folgend, in ihrem Aneignungsbezug sucht, kann man konkreter nach den empirisch beobachtbaren Formen des Umgangs mit diesem Problem fragen. Das ‚fragend-entwickelnde‘ Unterrichtsgespräch etwa stellt den Gegenstand zahlreicher empirischer Untersuchungen dar (Hee und Pohl 2018; Kalthoff 1995). Dabei sind viele dieser Studien (implizit) durchaus praxeologischer Art, indem sie sich der Beschreibung und Analyse eines Interaktionszusammenhanges widmen, der sich unschwer als soziale Praktik erkennen lässt – und zwar als diejenige Praktik, die Unterricht wohl am deutlichsten als „pädagogische Kommunikation“ (Kade und Seitter 2003) inszeniert: Der Aneignungsbezug der Vermittlungspraktik ist in der berühmt-berüchtigten ‚Lehrerfrage‘ gewissermaßen institutionalisiert.

Das grundlegende Problem der Ungewissheit über die Aneignung, und über ‚Lernen‘ insgesamt, dürfte darüber hinaus das Bezugsproblem zahlreicher Praktiken schulischen Unterrichts darstellen. Neben der Prozessierung und Bewertung von Schülerantworten im Unterrichtsgespräch ist z. B. auch an die zahllosen Arbeitsblätter, die im Unterricht auszufüllen sind, an die Plakate und Präsentationen sowie vor allem an die omnipräsenten Prüfungen zu denken. In all diesen Praktiken wird dokumentiert, dass etwas ‚gelernt‘ wurde (oder zumindest hätte gelernt werden können) – so können sich alle Beteiligten der Pädagogizität und damit der Sinnhaftigkeit ihres Tuns vergewissern (Breidenstein 2010; Herzmann 2018). Dabei kann es sein, dass die routinierten Formen der Bearbeitung von Ungewissheit einem anspruchsvollen fachlichen Lernen eher im Wege stehen, etwa wenn die Eigenlogik der Praktik des Präsentierens die Auseinandersetzung mit Inhalten dominiert (Gruschka 2008) oder wenn die Logik der Prüfung schulisches Wissen auf zu memorierende und zu reproduzierende Stichworte reduziert (Zaborowski et al. 2011). – Mit dem Problem der prekären Beobachtbarkeit von ‚Lernen‘ hat es allerdings auch die Forschung zu tun: Wie können Momente oder auch Prozesse des Lernens in der Unterrichtsinteraktion beobachtet und identifiziert werden (Gardner 2019)? Woran wären diese zu erkennen?

3 Praxeologische Unterrichtsforschung und (fachliches) Lernen

Die Frage nach einer Konzeptualisierung von ‚Lernen‘, die für die Unterrichtsforschung von großer Relevanz ist, stellt im Rahmen von Praxistheorien eine besondere Herausforderung dar. Praxeologische Analysen sind meist von ‚kompetenten‘ Teilnehmerinnen und Teilnehmern bevölkert: Praktiken interessieren vor allem in ihrer gekonnten Ausführung, den implizierten Wissensbeständen und mit Blick auf die im Praxiszusammenhang entwickelten ‚Lösungen‘ lokaler Handlungsprobleme.Footnote 6 Wie Teilnehmerinnen und Teilnehmer sich die unterschiedlichen Praktiken aneignen, steht bislang noch kaum im Fokus praxeologischer Untersuchungen – ebenso wenig die Beschaffenheit von Praxiszusammenhängen, die dezidiert der Ermöglichung von Lernen gewidmet sind. Insofern muss dieser Abschnitt aufzuspüren und zu verknüpfen versuchen, was sich an verstreuten Impulsen in unterschiedlichen Studien und Ansätzen findet. Nach einem ersten, grundlagentheoretisch ausgerichteten Zugang zu einem praxeologischen Verständnis von Lernen sollen einige fachlich ausgerichtete Studien zu schulischem Lernen angesprochen werden, um schließlich genauer nach dem Spannungsverhältnis zwischen Praktiken fachlichen Lernens und Praktiken der Unterrichtsorganisation fragen zu können.

3.1 „Situated Learning“, oder: Lernen als Teilnahme an (unterrichtlicher) Praxis

Wie kann ‚Lernen‘ praxeologisch gedacht werden? Zunächst: „Das praxeologische Verständnis vom Lernen als Einsozialisierung und allmählichem Beherrschen einer Technik unterscheidet sich (…) von Vorstellungen, die Lernen als einen durch Anleitungen und Erklärungen ermöglichten Wissenserwerb begreifen“ (Schmidt 2018, S. 29). Es ist vermutlich kein Zufall, dass einige auch grundlagentheoretisch relevante Beiträge zu ‚Lernen‘ in praxeologischer Perspektive aus dem Bereich der Sportsoziologie bzw. -pädagogik stammen. Im Sport (‑Unterricht) stößt man schneller (oder offensichtlicher) auf die Grenzen sprachlicher Explizierbarkeit, man ist hier (wie allerdings auch in anderen Domänen) auf das Vormachen, Ausprobieren und Korrigieren verwiesen. Im Sport geht es unvermeidlich um die Dimension des „Körperwissens“, z. B. in seiner Bedeutung für „Mitspielkompetenz“ (vgl. Schmidt 2012; Schindler 2015). „Für das Erlernen dieses Wissens sind verbale Instruktionen und Lehrbücher nur eingeschränkt hilfreich. Die Sprache kämpft mit der Darstellung physischer Tätigkeiten – scheitert überwiegend daran. (…) Auch bei gründlicher theoretischer Vorbildung muss jede sportliche Bewegung als eine praktische Tätigkeit erlernt werden“ (Alkemeyer 2011, S. 49).Footnote 7

Ein dezidiert praxeologisches Verständnis von Lernen findet sich in dem breit diskutierten Konzept des „situated learning“ von Lave und Wenger (1991). Lernen wird hier weniger von Lehren und Instruktion aus verstanden, sondern als zunehmend kompetente Beteiligung an einer spezifischen Praxis. Das Schlüsselkonzept bildet die „legitimate peripheral participation“, eine Form der Teilnahme an Praxis, die es Novizen erlaubt, zunächst am Rande zu bleiben und nach und nach die erforderlichen Kompetenzen zu erwerben, die eine volle Mitgliedschaft in der spezifischen „community of practice“ ermöglichen. Ein erklärtes Ziel des Ansatzes besteht in der Erweiterung gebräuchlicher Vorstellungen von Vermittlung und Aneignung: „a decentered view of the master as pedagogue moves the focus of analysis away from teaching and onto the intricate structuring of a community’s learning resources“ (Lave und Wenger 1991, S. 94). Es handelt sich um ein Verständnis von Lernen, das aus der ethnographischen Beobachtung verschiedener Praxiszusammenhänge heraus entwickelt ist, die eher dem Modell der Lehre (apprenticeship) folgen als dem der Beschulung. Dies wirkt manchmal etwas romantisierend und es gehört zu den wiederkehrenden Kritikpunkten an dem Konzept von Lave und Wenger, dass sie die Notwendigkeit eines systematischen, abstrakten Lernens, das sich von alltäglich-praktischem Lernen gerade unterscheidet, verkennen würden (Greiffenhagen und Sharrock 2008; Hemmings et al. 2000; Macbeth 1996). Aber auch wenn „situated learning“ tatsächlich über weite Passagen als Kontrast und Gegenmodell zu schulischem Lernen erscheint, so ist es doch sehr wohl möglich, aus dieser Perspektive auch schulische Praxis zu untersuchen (vgl. Lave und Wenger 1991, S. 40).

Wenn man sich fragt, welche Praxis Novizen sich in der Schule aneignen, so ist dies sicher in erster Linie die Unterrichtspraxis. „Learning lessons“ (Mehan 1979) bedeutet zunächst, dass sich die Schulanfänger in einem ganz grundlegenden Sinn die schulischen Regeln, Muster und Gesprächsrollen aneignen.Footnote 8 Sie lernen, dass sie sich melden müssen, wenn sie etwas sagen wollen und dass sie erst dann etwas sagen dürfen, wenn sie dran genommen werden. Der „heimliche Lehrplan“ (Schmidt 2015; Zinnecker 1975) verlangt von ihnen, Geduld zu entwickeln, Bedürfnisse aufzuschieben und ihre Körper zu disziplinieren. Im Rahmen ihrer Schülersozialisation erlernen sie die Praktiken des „Schülerjobs“ (Breidenstein 2006), die es ihnen ermöglichen, bei der Erfüllung unterrichtlicher Anforderungen gleichermaßen auf die Ökonomie der Mittel und den Unterhaltungswert der Arbeit zu achten.

Die Verzichtleistung im Sinne individueller und spontaner Bedürfnisse, die der klassenöffentliche Unterrichtsdiskurs den einzelnen Teilnehmerinnen und Teilnehmern abverlangt, kann in einem elementaren Sinne als Einsozialisation in die Verbindlichkeit des öffentlichen Gesprächs und gemeinsamen Gegenstandes verstanden werden (Wenzl 2014). Hee und Pohl (2018, S. 264) fassen als eine weitere Besonderheit des Klassengesprächs das Merkmal der „Epistemisierung“ des Lernens. Damit meinen sie „diejenige kognitive wie sprachliche Entwicklungsbewegung, bei der erkanntes Wissen zusehends aus dem unmittelbar persönlichen Erlebnisraum (…) heraustritt und mehr und mehr zu einem von konkreten Situationen in der Welt abstrahierten, intersubjektiv ausgehandelten, d. h. argumentativ gestützten Wissen wird“. So gesehen könnte man die Teilnahme an der unterrichtlichen Praxis als solcher durchaus als „situated learning“ verstehen, im Sinne einer zunehmend kompetenten Beteiligung an einer spezifischen epistemischen Praxis, die gerade über unmittelbare Anwendungsbezüge hinausweist.

Aber wie steht es um die inhaltlichen, die fachlichen Kompetenzen, auf die sich die unterrichtliche Praxis richtet? Wie wäre deren Erwerb praxeologisch zu beschreiben? Wäre „lernen“ etwa als Einsozialisation in spezifische „Wissenskulturen“ (Knorr Cetina 2002) zu verstehen? Hier scheinen noch größere, auch grundlagentheoretische, Herausforderungen zu liegen (vgl. Wiesemann 2006). Vor allem ginge es um fachliche Konkretisierungen des praxeologischen Blicks: Wie hängen fachliche Kompetenzen und unterrichtliche Praktiken zusammen?

3.2 Fachliche Dimensionen schulischen Lernens

Die „Kompetenzorientierung“, die die fachdidaktische Diskussion der letzten 15 bis 20 Jahre immer deutlicher bestimmt, scheint in gewisser Weise anschlussfähig für praxistheoretische Überlegungen, insofern das Paradigma der Kompetenzorientierung, bei allen Differenzen im Detail, insgesamt für eine Abwendung von deklarativem Wissen („Stofforientierung“) hin zu anwendungsbereitem, prozeduralem Wissen und Problemlösefähigkeiten steht (vgl. z. B. Reusser 2014). Die empirische Bestimmung von Kompetenzen, die im Rahmen von schulischem Unterricht relevant sind, dürfte aus praxeologischer Sicht allerdings nicht von ihrer testtheoretischen Modellierbarkeit und Messbarkeit geprägt sein, sondern müsste sich aus der Analyse jener Praktiken ergeben, um deren Aneignung es in der Schule gehen soll. Asbrand und Martens (2018, S. 19) entwickeln den Vorschlag einer „rekonstruktiven Kompetenzforschung“, die davon ausgeht, dass die „fachlichen Kompetenzen in der Performanz der Schülertätigkeiten beobachtbar“ sind. Ein etwas anders gelagertes Konzept einer „Didaktischen Unterrichtsforschung“ (Baltruschat 2018) postuliert, den Unterrichtsgegenstand systematisch in die empirische Beobachtung und Analyse einzubeziehen. Eine ‚rekonstruktive‘ Perspektive allerdings, die sich allein auf die Unterrichtsinteraktion und die Orientierungen der (menschlichen) Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Unterrichts richtet, bekommt die Eigenlogik und ‚teleoaffektive‘ Strukturiertheit, die den fachlichen Praktiken selbst inhärent ist, kaum in den Blick.

Rekonstruktive Untersuchungen zum beobachtbaren Geschehen im Klassenzimmer könnten womöglich ergänzt werden um Analysen zu jenen fachlichen Praktiken, auf die der Unterricht zielt. Es ginge dabei um eine praxeologische Analyse, die sich einerseits der Praxis der Mathematikerin selbst (bzw. der Praxis des ‚Mathematisierens‘) zuwendet und andererseits der Mathematik des Schulunterrichts mit ihren eigenen Praktiken, Traditionen und Routinen (Gellert 2012). Die Analyse hätte sich gleichermaßen den Kompetenzen eines geübten Schreibers zuzuwenden und würde zu klären versuchen, wie sich schulische Formate des Schreibens auf literarisches, journalistisches, wissenschaftliches Schreiben beziehen lassen. „Didaktische Praktiken“ sind, in einer Formulierung von Schindler (2015, S. 91), „in gewissem Sinne eigenständig, gleichzeitig aber stark geprägt von der jeweiligen (originären) Praktik“. Mit einem praxeologisch geschärften Verständnis von (fach-) didaktischen Praktiken könnte wiederum die Praxis des Unterrichts beobachtet und gefragt werden, wie literaturdidaktische, wie mathematikdidaktische Praktiken mit Praktiken der Unterrichtsorganisation interferieren: Wie beziehen sich Praktiken aufeinander? Wie ergänzen, wie stören sie sich?

Ein Beispiel: Der Schriftspracherwerb, eine der zentralen Aufgaben der Grundschule, lässt sich als zunehmend kompetente Teilhabe an einer komplexen Praxis beschreiben (Ritter 2019). Die hoch anspruchsvolle Praxis des Schreibens schließt motorische Kompetenzen ein, die Fähigkeit Schriftzeichen in erkennbarer Form zu Papier zu bringen; sie erfordert Regelwissen zu Sprachstrukturen und ein Verständnis vom Gebrauch sprachlicher Register und deren spezifischen kommunikativen Funktionen – um nur einige der Herausforderungen zu nennen, die nicht nur Schreibnovizen zu bewältigen haben. Die Praktik des Schreibens kann im Kontext der Unterrichtspraxis zugleich als Geste gelesen werden (Falkenberg 2013, S. 126 ff.): Sie erfordert bei Schreibanfängern noch die volle Konzentration und körperliche Anspannung, von geübten Schreiberinnen kann sie als Markierung des (legitimen) Beschäftigt-seins eingesetzt werden (Bennewitz 2009). Die Praktik des Schreibens interferiert offenbar in höchst unterschiedlicher und im Verlauf der schulischen Sozialisation sich verändernder Weise mit anderen schulischen Praktiken.

Wenn es darum geht, die ‚Fachlichkeit‘ schulischer Praktiken einschließlich ihres spezifischen didaktischen ‚Brauchtums‘ und ihrer ‚Gattungen‘ praxeologisch zu erschließen, erweisen sich historiographisch-genealogische Untersuchungen zu „Schulfächern“ als aufschlussreich (Reh und Piper 2018). So haben sich etwa Vorstellungen darüber, ob und inwieweit die Praktiken des Schreiben- und des Lesen-Lernens zusammenhängen, in der Geschichte des Schreib- und des Leseunterrichts grundlegend und mehrfach verschoben.Footnote 9 Auch neue materielle Partizipanden der Praktiken verändern diese grundlegend: Die Einführung der Schiefertafel in die schulische Praxis des Schreibenlernens ermöglichte ein schnelleres und leicht selbst zu korrigierendes Schreiben (Bosse 2016); der Füllfederhalter legt ein anderes Schreiben nahe als der Kugelschreiber oder die Tastatur (Wilde 2016).

Die Schule entwickelt hochgradig spezialisierte didaktische Praktiken, die sich auf den Zweck schulischen Lernens richten und wiederum ganz entscheidend von eigenen, schulischen Objekten, etwa der „Anlauttabelle“ (Hackbarth und Mehlem 2019), oder spezifisch schulischen Textgenres, etwa dem „Deutschaufsatz“ (Reh 2017), geprägt sein können. Solcherart didaktische ‚Erfindungen‘ sind an zwei pragmatischen Kontexten zugleich ausgerichtet: an der Praxis des Schreiben-Lernens und an der Praxis des Schule-Haltens. Auch die Praxis des Schule-haltens hat unter den Bedingungen von Massenunterricht und Schulpflicht seit dem 19. Jahrhundert durchaus spezifische ‚Erfindungen‘ hervorgebracht, wie etwa den Klassenunterricht (Caruso 2010) und (damit zusammenhängend) die Praxis der schulischen Prüfung einschließlich der Signifizierung in Form von Zensuren (Lindenhayn 2018). Wie hängen aber didaktische und unterrichtsorganisatorische Praktiken zusammen? Inwieweit haben sie sich gemeinsam entwickelt (der Deutschaufsatz hat sich nicht zuletzt als Objekt der Bewertung etabliert) und inwiefern bedingen sie einander?

Insofern es keine isolierten Praktiken gibt, sind die fachlichen Praktiken im Zusammenhang der unterrichtlichen Praktiken zu analysieren. Es gibt durchaus Studien, in denen sich andeutet, wie sich fachdidaktische Forschungsinteressen mit praxeologischen Perspektiven verbinden: Krummheuer und Brandt (2001) etwa arbeiten kollektives „Argumentieren“ als für Mathematiklernen zentrale „Rationalisierungspraxis“ heraus; dabei machen die empirischen Analysen zur Praxis des Argumentierens – vielleicht überraschend – deutlich, dass dieses in der Grundschule wesentlich als „Narrativität“ realisiert wird (Krummheuer 1997). Mathematisches Lernen wird als zunehmend autonome Partizipation an einer bestimmten Praxis, dem Argumentieren, verstanden, wobei unter den Bedingungen des Klassenunterrichts viele Schülerinnen und Schüler gar nicht selbst tätig werden, sondern in unterschiedlichen Formen als Rezipienten partizipieren (Brandt 2004, 2015; Krummheuer und Fetzer 2005, S. 100 ff.).Footnote 10

Mathematikdidaktische Forschung mit Bezug auf die Bildungssoziologie Bernsteins (2000) zeigt, dass die Benachteiligung von Kindern aus unteren sozialen Schichten im Zugang zu fachlichen Inhalten den Unterrichtspraktiken selbst inhärent. Denn diese sind voraussetzungsvoll und erfordern das Erkennen und Realisieren von spezifischen diskursiven Regeln (Gellert 2012; Knipping 2012).Footnote 11 Die Privilegierung jener „diskurskompetenten“ Teilnehmerinnen und Teilnehmer, die zur Erreichung der fachlichen Ziele des Unterrichts beitragen, durch die Praxis selbst, gilt auch für den Deutschunterricht (Quasthoff und Prediger 2017).

3.3 Die Spannung zwischen fachdidaktischem Anspruch und Unterrichtsalltag

Eine Unterrichtsbeobachtung, die sich für schulischen Unterricht als Gelegenheit für fachliches Lernen interessiert, ist oft mit Enttäuschung verbunden. Regelmäßig kommen fachliche ‚Defizite‘ der beobachteten Unterrichtspraxis in den Blick. Aus didaktisch und bildungstheoretisch interessierter Perspektive arbeitet etwa Gruschka (2009) heraus, wie alltäglicher Unterricht sein didaktisches ‚Potenzial‘ regelmäßig verfehlt und wie stattdessen echte Fragen und Herausforderungen in didaktischen Routinen entsorgt werden (vgl. auch Pollmans 2018). Zu der hier – zugegebener Maßen sehr pauschal aufgerufenen – Befundlage gehört allerdings auch, dass die Beteiligten (Lehrpersonen wie Schülerinnen und Schüler) wenig Probleme mit solch einem Unterricht zu haben scheinen. Enttäuschung mag sich bei der didaktisch interessierten Beobachterin einstellen, die Unterrichtsbeteiligten selbst sind in der Regel zufrieden mit einem Unterricht, den sie im Rahmen ihrer Routinen bewältigen können (Breidenstein und Tyagunova 2020). In einer praxeologischen Analyseeinstellung wird es möglich, die (normative) Enttäuschung didaktisch interessierter Unterrichtsbeobachter in eine empirisch-analytische Problemstellung zu überführen: Welche inhärenten Gründe finden sich in der Vollzugslogik der Unterrichtspraxis für fachlich wenig anspruchsvolle Verläufe? Welche Merkmale der Unterrichtspraxis stehen möglicher Weise einem inhaltlich und fachlich herausfordernden Unterricht entgegen? Aufschlussreich ist es hier, Befunde zum „classroom management“ einzubeziehen (Doyle 2006). Denn gerade inhaltlich anspruchsvolle Aufgaben, die mit erhöhtem Risiko und erhöhter Anstrengung für die Schülerinnen und Schüler einhergehen, bedrohen offenbar potenziell die Routinen der „classroom order“: „In response to these threats to order, teachers often simplify task demands or lower the risk for mistakes. (…) Relatively simple and routine tasks involving memory or algorithms tend to proceed quite smoothly in class with little hesitation or resistance“ (Doyle 2006, S. 111).

Auch in den oben angesprochenen mathematikdidaktischen Arbeiten wird die Spannung zwischen dem fachlichen Anspruch an die Unterrichtsinteraktion und ihrem alltäglichen Funktionieren zum Gegenstand der empirischen Analyse. Krummheuer und Fetzer (2005, S. 144; vgl. auch Steinbring 2013) zufolge kann Unterricht in vielen Fällen als ein „relativ gleichförmig strukturierter Interaktionsfluss“ realisiert werden, der zur Stabilisierung von Interaktionsformen und einem „Energie- und Konfliktminimum“ (Bauersfeld 2000, S. 139) führt. Dem stehen Phasen einer „interaktionalen Verdichtung“ gegenüber, die auf inhaltliche Fokussierungen und Veränderungen des Engagements hinweisen. Nur in den (seltenen) Momenten „interaktionaler Verdichtung“ könne „ein Maximum der kollektiven Lernbedingungen“ erreicht werden (Krummheuer und Fetzer 2005, S. 145 ff.).

Ein elaborierter Theorievorschlag, der mit der empirischen Befundlage korrespondiert und der ein praxeologisches Verständnis vom Unterrichtsvollzug zugrunde legt, stammt ebenfalls aus einer mathematikdidaktischen Forschungstradition. In Arbeiten von Brousseau (1997), Chevallard (2007) und Sensevy (2012) wird ein in empirischen Studien fundiertes Verständnis von (Mathematik‑) Didaktik als interaktiver und epistemischer Praxis entwickelt. Ein zentrales Theorem in diesem Ansatz beschreibt den „didactic contract“, der das komplexe aufeinander Verwiesensein von Lehrer- und Schülerhandeln beschreibt. Der „didactic contract“ ist für einzelne fachliche Probleme oder Wissensbestände zu spezifizieren und hat es zugleich regelmäßig mit grundlegenden Paradoxien zu tun – etwa der, dass die Lehrperson die Problemlösung nicht ‚verraten‘ darf, wenn es sich um ein ‚echtes‘ Lernen der Schülerinnen und Schüler handeln soll (Brousseau 1997). Die als „Joint Action Theory of Didactics (JATD)“ diskutierte Forschungslinie konzipiert den Gegenstand des Lernens nicht als ‚Wissen‘ oder ‚Inhalt‘, sondern als „epistemic game“: „a modelled game which attempts to grasp the fundamental dynamic structure of a knowledge practice“ (Sensevy 2012, S. 512). Praxeologisch anschlussfähig erscheint der Versuch, den Unterrichtsvollzug grundlegend als „system of habits between the teacher and the students“ (Sensevy 2012, S. 507) zu konzipieren (i. S. des „didactic contract“) – und zugleich den Unterrichtsgegenstand von den (Wissens‑) Praktiken aus zu entwerfen. Die JATD hat allerdings mit anderen didaktischen Forschungen und Modellierungen gemein, dass ihre empirische Basis im Wesentlichen aus dem lehrerzentrierten Unterrichtsdiskurs stammt. Es wird, neben der Einbeziehung weiterer Fächer und Fachdidaktiken (Ligozat 2011), zu prüfen sein, inwieweit sich die zentralen Ideen auch für offenere und schülerorientiertere Unterrichtsformate als tragfähig erweisen.

Es gibt einzelne Studien, die die individualisierte Schülerarbeit, oft in reformpädagogischen Kontexten, untersuchen. In diesen Studien wird die Pragmatik der Planerfüllung und der Abarbeitung von Aufgaben aufgezeigt (Bräu 2013; Breidenstein und Rademacher 2017; Huf 2006; Rabenstein und Reh 2007; Wiesemann 2000). Auch und gerade im Kontext eines dezentrierten und stärker differenzierenden Unterrichts scheinen Fragen der Unterrichtsorganisation gegenüber fachlichen Ansprüchen zu dominieren. Viele Formen von Wochenplanarbeit etwa beruhen auf klar vorstrukturierten Lernmaterialien und leicht kontrollierbaren geschlossenen Aufgabenstellungen, so dass letztlich die ‚Individualisierung‘ des Unterrichts tendenziell zu einer Standardisierung und ‚Entfachlichung‘ der Unterrichtsinhalte führt (Martens 2018). Auch im dezentrierten Unterricht kann sich die praxeologische Analyse auf die konkreten ‚Wissenspraktiken‘ richten, die in bestimmten Aufgabenstellungen angesprochen oder die in bestimmte Lernmaterialien eingebaut sind (Breidenstein 2015). Welche Rolle spielen die Materialien in diesen Praktiken? Wie lassen sich die beobachtbaren Praktiken fachlich qualifizieren: Welche Formen des Schreibens, des Lesens, des Rechnens kommen hier zum Zuge?

4 Schluss

Das Bild interferierender Praktiken regt dazu an, nach den Wechselwirkungen unterschiedlicher Praktiken zu fragen, die in der Unterrichtssituation aufeinandertreffen: Was passiert, wenn eigensinnige Praktiken, die ihrer jeweiligen Vollzugslogik folgen, im Praxiszusammenhang schulischen Unterrichts ineinander verschränkt werden?

Abschließend sollen noch einmal zusammenfassend überlegt werden, wie die umrissene Heuristik interferierender Praktiken in konkrete Forschungsfragen umgesetzt werden könnte. In der Beobachtung des alltäglichen Unterrichtsvollzuges gilt es, spezifische Praktiken zu identifizieren und in ihrer jeweiligen Eigenlogik zu analysieren: Welche konkreten Beteiligten sind involviert (Objekte, Körper, Zeichen …)? Wie stabilisiert sich die Praktik auch über Situationen hinweg (welche Skripte, welche Materialitäten spielen hier eine Rolle)? Auf welche grundlegenden Handlungsprobleme bezieht sich die Praktik (ist sie z. B. in Bezug auf das Problem der Darstellung von ‚Lernen‘ zu verstehen)? Dabei sind insbesondere jene Praktiken von Interesse, die sich auf das fachliche Lernen von Schülerinnen und Schülern richten: Was kann bzw. was soll man durch die Beteiligung an dieser Praktik lernen? Was macht die ‚Fachlichkeit‘ dieser Praktik aus? Schließlich ist analytisch in den Blick nehmen, wie sich die einzelnen, ihrer jeweiligen Logik und Ausrichtung folgenden, Praktiken zueinander verhalten, wie sie interferieren: Inwieweit ‚stören‘ sich die unterschiedlichen Praktiken? Inwieweit ‚passen‘ sie zusammen oder ergänzen sie sich? Wie lässt sich das Verhältnis der Praktiken zueinander beschreiben?

Die Forschungsperspektive lässt sich an Beispielen veranschaulichen: So könnte sich das analytische Interesse etwa darauf richten, wie sich die Praktik des Unterrichtsgesprächs zu spezifischen diskursiven Praktiken wie denen des Argumentierens, des Elaborierens oder Erzählens verhält. Oder: Wie verhält sich die Praktik des „Erzählens“ zum sozio-materiellen-Arrangement des „Morgenkreises“ (Bennewitz und Hecht 2018; Heinzel 2016)? Oder: Wie bestimmen die Praktiken der Unterrichtsorganisation die Praktik des Schülerexperiments – und umgekehrt (Lynch und Macbeth 1998)? Wie wirken sich Praktiken aus dem Bereich der Leistungsbewertung auf Praktiken wie lesen, schreiben oder präsentieren aus?

Die Bearbeitung solcherart Fragen, die sich auf die Verhältnisbestimmung unterschiedlicher schulischer Praktiken richten, erfordert, jedenfalls insoweit sie Praktiken in den Blick nimmt, die sich auf fachliches Lernen richten, die entsprechende fachdidaktische Expertise. Man muss ein konturiertes Verständnis von der Praktik mathematischen (oder z. B. philosophischen, vgl. de Boer 2015) Argumentierens, von der Praktik (mündlichen oder schriftlichen) Erzählens oder von der Praktik des Schülerexperimentes entwickeln, um nach dem Verhältnis der jeweiligen Praktik etwa zu Praktiken der Unterrichtsorganisation und des ‚Klassenmanagements‘ fragen zu können.

Im Vollzug schulischen Unterrichts interferieren darüber hinaus ganze ‚Praktikenbündel‘. Praktiken schulischer Leistungsbewertung durchziehen in mannigfaltigen Formen den Unterrichtsalltag und treffen auf Praktiken der Vermittlung oder Praktiken der Aneignung (Kalthoff 2000; Zaborowski et al. 2011). Im Schülerhandeln treffen fast durchgängig Praktiken, die sich auf Relevanzen der Peerkultur richten, auf solche, die den jeweiligen Unterrichtsanforderungen entstammen (Breidenstein 2018; Eckermann 2016). Über all diese Interferenzen wissen wir in ihren konkreten Ausformungen und Auswirkungen noch viel zu wenig.