Die historisch neue Situation der flächendeckenden Fernbeschulung in Deutschland führte zu völlig neuen Aufgaben für die schulische Praxis bei – vor COVID-19 – insgesamt nur sehr begrenztem Wissen über entsprechende Prozesse der Fernbeschulung und des Homeschoolings (vgl. Kunzman und Gaither 2013; Wissenschaftlicher Dienst des Deutschen Bundestags 2009). Vor der eigenen empirischen Analyse wird daher versucht, mit einer Spurensuche nach entsprechenden Vorarbeiten und Referenzen eine generelle systematische Perspektive zu entwerfen, aus der dann Annahmen für die empirische Analyse abgeleitet werden.
Fernbeschulung – begriffliche Orientierung
Die Suche nach vergleichbaren Beschulungssituationen, wie jener während der Schulschließungen durch COVID-19 führt zum Ursprung des Konzepts der distance education (vgl. Moore et al. 2010), zu historischen Formen des Distanzunterrichts wie den „Schools of the Air“ in Australien, den USA, Kanada und der Sowjetunion (vgl. Nevskaya 2018) sowie der Homeschooling-Bewegung, die bspw. in den USA, Kanada, England und weiteren Ländern in den letzten Jahrzehnten gewachsen ist (vgl. Rothermel 2015). Aber auch wenn es Überschneidungen zwischen Homeschooling und der deutschen Situation während der COVID-19 bedingten Schulschließungen gibt, ist auf einen zentralen Unterschied hinzuweisen: Nach Ray (2017) ist konstituierend für Homeschooling (in seiner ursprünglichen Begriffsverwendung), dass es sich um eine private Form der Bildung handelt, die von Eltern (an)geleitet wird, zu Hause stattfindet und durch eine Loslösung von staatlichen und privaten Schulen sowie deren Rahmenbedingungen und Curricula gekennzeichnet ist. Es ist eine selbstgewählte Praxis, die i. d. R. über einen längeren Zeitraum stattfindet.
Der Term distance education bezeichnet dagegen jene Bildungsformate, die institutionell bereitgestellt und instruiert werden, jedoch nicht an einem festgelegten Bildungsort, wie z. B. einer Schule, in Anspruch genommen werden. Entsprechend findet die hier betrachtete Situation der COVID-19 bedingten Schulschließungen eher Parallelen in den erwähnten „Schools of the Air“, die eine Beschulung auch für sehr ländliche und entlegene Gebiete in großen Flächenstaaten ermöglichen (vgl. Stacey 2005) und den amerikanischen „Cyber Charter Schools“. Diese haben sich als digitale Form der Charter SchoolsFootnote 1 etabliert und fungieren in unterschiedlichen Formen und Angebotsmodi als Alternative zur Präsenzunterrichtung (vgl. Hasler-Waters et al. 2014, S. 379). Wesentlich für diese Art Fernbeschulung ist, dass Inhalte und Struktur der häuslichen Lernaktivitäten nicht von den Eltern, sondern von den Schulen verantwortet werden. Obgleich in diesen etablierten Formen der Fernbeschulung nicht staatliche Sicherheitsauflagen, sondern eine geographische Distanz als konstituierendes Merkmal benannt werden kann, lassen sich deutliche Parallelen zur Situation während der Schulschließungen in Deutschland erkennen. Entsprechend wird für die hier analysierte Unterrichtung in der Zeit der Schulschließungen der Begriff „Fernbeschulung“ verwendet.
In der distance education haben Medien als Vermittler von Lernen über die Distanz schon immer eine tragende Rolle gespielt, von Briefzustellungen im ausgehenden 18. Jh. (vgl. Dieckmann und Zinn 2017, S. 22) (im angloamerikanischen Raum als „correspondence courses“), zu fernsehgestützten Telekollegs und ersten „Distributed Electronic Learning“ Programmen in 1993 (vgl. Horsburgh 2005, S. 22; für Deutschland Dieckmann und Zinn 2017). Mit den angesprochenen technischen Entwicklungen etablierten sich neue Formate der Bildungsvermittlung und Schulformen auf Distanz, wie z. B. Fernstudiengänge oder auch die angesprochenen „Cyber Charter Schools“Footnote 2, die maßgeblich mit den Medien Computer und Internet arbeiten. Diesen Schritt sind auch die australischen „Schools of the Air“, die früher vor allem über das Radio organisiert wurden, gegangen (vgl. Stacey 2005). All diese Formen der Fernbeschulung nutzen mediale Vermittlungsmethoden, mittlerweile zumeist digitale Endgeräte und Internet, wodurch neben synchronen (Live‑)Formaten auch asynchrone oder hybride Bildungsformate möglich sind. So werden zur Gestaltung von Fernbeschulung diverse Applikationen für Online-Präsentationen, Unterrichtseinheiten und kooperative Projektdurchführung genutzt, (individuelle) Interaktionen sind in Chats o. ä. Kommunikationsräumen möglich und Inhalte werden über online-gestützte Lernmanagementsysteme (LMS) didaktisch aufbereitet und vermittelt. Entsprechend ist die Entwicklung des E‑Learnings eng mit diesen Organisationsformen verbunden (vgl. z. B. Ahn 2011, S. 4; Hasler-Waters et al. 2014, S. 380; Schwerdt und Chingos 2015, S. 5). Auch wenn in der Gestaltung der genannten Bildungsformate Lehrkräften die zentrale Rolle zukommt, wird besonders im allgemeinbildenden Bereich die praktische Rolle der Eltern betont, die i. d. R. instruktionale Unterstützung bieten, Motivationsarbeit leisten sowie den Lernprozess und -fortschritt der Schülerinnen und Schüler mit überwachen (vgl. Hasler-Waters 2012, S. 381).
Situation in Deutschland während COVID-19 bedingter Schulschließungen
Die einzigartigen Umstände der Fernbeschulung ab März 2020 waren Anlass zu wissenschaftlicher Reflexion und politischer Sorge (vgl. Dancer et al. 2020; Sektion Schulpädagogik der DGfE 2020). Neben allen praktischen Problemen wurden vor allem Befürchtungen laut, dass sich bereits bestehende sozioökonomisch bedingte Bildungsungleichheiten durch die Schulschließungen und die Fernbeschulung verstärken (vgl. Fischer et al. 2020). So analysierten bspw. Wößmann et al. (2020) Aussagen von Eltern zum Zeitinvestment von Schülerinnen und Schülern in schulische und nicht-schulische Aktivitäten vor und während der Schulschließungen und stellten dabei eine deutliche Verringerung der schulischen Aktivitäten von durchschnittlich 7,4 zu 3,6 h pro Tag fest (vgl. Wößmann et al. 2020, S. 28). Dabei zeigte sich, dass gerade Nicht-Akademikerkinder und leistungsschwächere Schülerinnen und Schüler überproportional mehr Zeit mit sog. „passiven Aktivitäten“ (Fernsehen, Computer- und Handyspielen sowie sozialen Medien) verbrachten (vgl. Wößmann et al. 2020, S. 38). Ebenso wird in dieser Studie berichtet, dass Nicht-Akademikerkinder häufiger keinen Online-Unterricht und auch seltener individuelle Gespräche mit einer Lehrkraft hatten (vgl. Wößmann et al. 2020, S. 33). Anger et al. (2020b), die Kontaktformen und -häufigkeiten zwischen Lehrpersonen und Lernenden der gymnasialen Oberstufen untersuchten, betonen jedoch, dass gerade ein persönlicher Kontakt zur Schule die schulischen Aktivitäten der Jugendlichen erhöht. Dies bestätigen auch Huber und Helm (2020, S. 249), die einen Zusammenhang zwischen regelmäßigen Kontrollen der Arbeit von Schülerinnen und Schülern und der investierten Lernzeit pro Tag herausstellen.
Zur Praxis der Lehrarrangements während der Schulschließungen entstanden ebenso einige Studien (vgl. auch die Beiträge in diesem Heft), die zunächst vor allem Rahmungen, Prozesse und Bewertungen der Fernbeschulung in den Blick nahmen. Im Zentrum standen dabei auch die häuslichen Ressourcen, die von den Schülerinnen und Schülern eigenständig zu erledigenden „Hausaufgaben“ sowie die Formen des Austausches zwischen Schülerinnen und Schülern und den Lehrkräften. Erste Analysen aus der „FamiLeb“ Studie von Sander et al. (2020), basierend auf Angaben von über 6600 Elternteilen von Schülerinnen und Schülern der Unterstufe in NRW, ergaben, das 95 % der Eltern eine hinreichende Ausstattung lernrelevanter Ressourcen gegeben sahen (vgl. Sander et al. 2020, S. 6) und 60 % der befragten Eltern der Meinung waren, dass für ihre Kinder eine kompetente Unterstützungsperson im Haushalt existierte. Bei der investierten Lernzeit zeigte sich, dass Schülerinnen und Schüler in der Mehrheit hinter der, in den Stundentafeln für die jeweilige Schulformen, anvisierten Lernzeit zurückbleiben, d. h. die „Präsenzlehrzeit“ im Schulkontext im heimischen Lernen von mehr als der Hälfte der Lernenden nicht erreicht wird (vgl. Sander et al. 2020, S. 8 f.Footnote 3). Zentrale Kommunikationsformen zwischen Lehrpersonen und Schülerinnen und Schülern waren dabei E‑Mails (83 %) und Lernplattformen (76 %). In der Bewertung der Fernbeschulung äußerten sich die antwortenden Eltern sowohl bzgl. des Kontakts mit verschiedenen Akteursgruppen in der Schule, als auch der Kommunikation, dem bereitgestellten Lernmaterial und den verwendeten digitalen Angeboten überwiegend zufrieden, wobei im Bereich digitaler Angebote die geringste Zufriedenheit vorherrschte (vgl. Sander et al. 2020, S. 15). Dies deckt sich auch mit den Ergebnissen von Wößmann et al. (2020), die herausstellten, dass 57 % der Schülerinnen und Schüler seltener als einmal pro Woche Unterricht im Klassenverbund hatten, die Möglichkeit des Online-Unterrichts von Schulen also „nur vergleichsweise selten genutzt“ wurde (Wößmann et al. 2020, S. 33).
Dazu wurde in der Studie „Schule auf Distanz“ betont (vgl. Vodafone Stiftung Deutschland 2020), dass die große Mehrheit der pädagogischen Fachkräfte die Herausforderung der digital gestützten Fernbeschulung relativ unvorbereitet traf (vgl. Vodafone Stiftung Deutschland 2020, S. 2) – bei Differenzen nach Schulformen, da die Lehrkräfte für Gymnasien (46 %) eine bessere Situation berichteten als jene an anderen weiterführenden Schulen. Hier zeigt sich der bereits vor der Pandemie häufig angesprochener Aufholbedarf der Schulen in Sachen Digitalisierung (vgl. Eickelmann et al. 2019). So wurden vor allem basale Formen digitaler Vermittlung, wie z. B. E‑Mails, in der Fernbeschulung verwendet, während fortgeschrittenere und interaktivere Formen, wie z. B. Clouds oder Lernplattformen, deutlich seltener genutzt wurden (vgl. z. B. MPFS 2020, S. 5; Vodafone Stiftung Deutschland 2020, S. 13 f.; Wößmann et al. 2020, S. 32 f.). Insgesamt sahen jedoch auch in dieser Studie die Lehrkräfte den Zugang zu und den kompetenten Umgang mit digitalen Medien als zentrale Faktoren für gelingende Lernangebote (vgl. Vodafone Stiftung Deutschland 2020). Lehrkräfte an Schulen, welche bereits vor der Schulschließung einen sehr fortgeschrittenen Digitalisierungsprozess durchlaufen hatten, gaben „[…] zu überdurchschnittlich hohen Anteilen (76 %) an, dass die Lernangebote die Schülerinnen und Schüler auch wie von ihnen gewünscht erreichen“ (Vodafone Stiftung Deutschland 2020, S. 23). Probleme in der Realisierung von Lernangeboten werden von Lehrkräften mehrheitlich auf mangelnde technische Ausstattung (75 %) und fehlendes Know-how (53 %) der Lernenden zurückgeführt (vgl. Vodafone Stiftung Deutschland 2020, S. 15). Allerdings stellen sowohl die Sonderauswertung zu PISA 2018 (vgl. OECD 2020, S. 115 ff.) als auch das Schulbarometer (vgl. Huber und Helm 2020, S. 250 ff.) heraus, dass auch den deutschen Schulen, vor allem im Vergleich zu anderen Ländern, technische Ausstattung und dem Lehrpersonal entsprechende Kompetenzen fehlen. Huber und Helm (2020) heben dabei hervor, dass die Daten eine Verbindung der selbsteingeschätzten Kompetenz mit den technischen Ressourcen der Schule offenbaren (vgl. Huber und Helm 2020, S. 252).
Auch Aussagen von Schülerinnen und Schülern zur digitalen Praxis während der Fernbeschulung aus der Sonderbefragung „JIMplus Corona“ unterstützen die Befunde, dass digitale Möglichkeiten für die Fernbeschulung nicht in großem Umfang ausgenutzt wurden. Berichtet wird, dass Schülerinnen und Schüler sich überwiegend auf sich selbst verlassen und Dinge einfach ausprobieren (63 %) oder Unterstützung von ihren Eltern in Anspruch nehmen (32 %), während schulische Instruktionen eher seltener sind (21 %) (vgl. MPFS 2020, S. 1). Gerade die seltenen oder fehlenden Interaktionen mit Lehrkräften oder im Klassenverbund werden vor dem Hintergrund der Relevanz von „classroom management“ und regelmäßigem Feedback für akademische Leistungen von Schülerinnen und Schülern kritisch bewertet (vgl. Huber und Helm 2020, S. 244).