1 Einleitung

Lange Zeit konnte man sich über das ausbleibende Interesse der theoretischen wie praktischen Pädagogik an Fragen des Konsums nur wundern. So moniert Erich Weber im Jahre 1967, dass weder in grundlegenden Arbeiten zur Wirtschaftspädagogik noch in den aktuell wichtigen pädagogischen Lexika Fragen der Konsumerziehung erörtert würden (Weber 1967, S. 18). Und noch einige Jahrzehnte später findet es Hermann Giesecke „verwunderlich“, dass der Konsumbereich „im Lehrplan der Schule noch immer eine untergeordnete Rolle spielt“ (Giesecke 1999, S. 134 f.). Die Klagen sind berechtigt: Der Markt und das Konsumieren gewinnen spätestens seit der Mitte des 20. Jahrhunderts nicht nur eine „herausragende kulturelle, soziale und ökonomische Bedeutung“ (König 2013, S. 11), sondern werden auch zu bedeutenden „Erziehungsfaktor[en]“ (Giesecke 1983, S. 116). Kinder und Jugendliche werden seither immer früher als eigenständige Konsument*innen angesprochen – und sie antworten gern. Der Markt ist für Kinder und Jugendliche attraktiv, weil er ihnen einen pädagogisch kaum kontrollierbaren Handlungsraum bietet. Allerdings interessiert man sich auf dem Markt weniger für die Mündigkeit als vielmehr für die Kaufkraft von Kindern und Jugendlichen. Deshalb ist dort – im Gegensatz zu pädagogisch eingehegten Zonen – kein Probehandeln vorgesehen. Konsumieren will also gelernt sein – und sollte daher auch gelehrt werden.

Diese Aufgabe übernimmt derzeit die „Verbraucherbildung“: Seit rund 10 Jahren wird diese teils als Fach, teils als Querschnittsaufgabe in die Lehrpläne und den Unterricht (vor allem) der Sekundarstufe I allgemeinbildender Schulen integriert. Schulische Verbraucherbildung soll nicht nur zur Teilhabe am Marktgeschehen befähigen, sondern auch für ein gesundes und nachhaltiges Konsumieren sensibilisieren. Die Einführung von Verbraucherbildung kann demnach einerseits als Zeichen dafür gewertet werden, dass das lang andauernde pädagogische Desinteresse am Konsum der Vergangenheit angehört. Andererseits ist derzeit eine „Regierung des Konsums“ im Sinne vielfältiger und differenzierter Versuche der Beeinflussung von Konsument*innen hin zu einem selbst- und mitverantwortlichen Konsumverhalten beobachtbar (Hälterlein 2015). In diesem Zusammenhang werden auch Forderungen nach einer umfassenden politischen Steuerung des Konsums hin zu gesunden und nachhaltigen Konsummustern laut, die sich u. a. auch an Bildungsinstitutionen richten (Fischer und von Hauff 2017).

Vor diesem Hintergrund soll im Folgenden anhand einer Analyse verschiedener bildungs- und schulpolitischer Dokumente nach den institutionellen Bedingungen von schulischer Verbraucherbildung gefragt werden: Was soll durch sie vermittelt werden? Wie soll das geschehen, zu welchem Ziel – und warum? Zuerst soll die Verbraucherbildung, wie sie sich in den verschiedenen Dokumenten zeigt, vorgestellt (2) und dann einer Kritik unterzogen werden (3.). Der Beitrag schließt mit der Skizzierung von Grundsätzen eines alternativen konsumpädagogischen Unterrichtsprogramms (4.).

2 Kontexte und Bestandsaufnahme schulischer Verbraucherbildung

Es wäre übertrieben zu behaupten, der allgemeinbildende schulische Unterricht hätte sich grundsätzlich dem Thema Konsum versperrt. Traditionell sind Konsumthemen in den Fächern Sachunterricht und Hauswirtschaft sowie im Unterrichtsgebiet Wirtschaftslehre (soweit vorhanden) curricular verankert. Aber auch die geistes-, natur- und gesellschaftswissenschaftlichen Fächer kommen mit konsumnahen Themen wie Werbung, Ernährung und Tourismus in Berührung. Diese Strukturen erleichtern die Einführung der Verbraucherbildung in Schulen, die ihrerseits das Thema „Konsum“ curricular massiv aufwertet. Im Folgenden soll eine Bestandsaufnahme schulischer Verbraucherbildung erfolgen (2.2), wobei zuvor die bildungspolitischen Kontexte skizziert werden, die die Einführung und Ausrichtung der Verbraucherbildung in der jüngsten Vergangenheit maßgeblich bestimmt haben (2.1).

2.1 Bildungspolitische Kontexte und Einführung der Verbraucherbildung

In diesem Zusammenhang sind vor allem zwei Dokumente relevant, nämlich zum einen der 2005 für das damalige Bundesministerium für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft veröffentlichte Abschlussbericht des Modellprojekts zur Reform der Ernährungs- und Verbraucherbildung in Schulen („REVIS“) sowie zum anderen der Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 12.09.2013.

Das REVIS-Projekt fand zwischen 2003 und 2005 unter Leitung von Helmut Heseker in Kooperation mit Kirsten Schlegel-Matthias (beide Universität Paderborn), Ines Heindl (Universität Flensburg) und Barbara Methfessel (Pädagogische Hochschule Heidelberg) statt. Die Ernährungs- und Haushaltswissenschaftler*innen erarbeiteten Vorschläge zu einer grundlegenden Reform schulischer Ernährungs- und Verbraucherbildung in Deutschland. Mit Blick auf das schulische Fächerspektrum stand hierbei zum einen die Aufwertung des Unterrichtsfachs Hauswirtschaft, zum anderen aber auch die Verankerung von Ernährungs- und Verbraucherbildung als Querschnittsaufgabe im Vordergrund. In diesem Zusammenhang wurde ein Katalog von neun durch Ernährungs- und Verbraucherbildung zu erreichenden Bildungszielen entwickelt: Schüler*innen (1.) „gestalten die eigene Essbiografie reflektiert und selbstbestimmt“, (2.) „gestalten Ernährung gesundheitsförderlich“, (3.) „handeln sicher bei der Kultur und Technik der Nahrungszubereitung und Mahlzeitengestaltung“, (4.) „entwickeln ein positives Selbstkonzept durch Essen und Ernährung“, (5.) „entwickeln ein persönliches Ressourcenmanagement und sind in der Lage Verantwortung für sich und andere zu übernehmen“, (6.) „treffen Konsumentscheidungen reflektiert und selbstbestimmt“, (7.) „gestalten die eigene Konsumentenrolle reflektiert und selbstbestimmt“, (8.), „treffen Konsumentscheidungen qualitätsorientiert“ und (9.) „entwickeln einen nachhaltigen Lebensstil“ (REVIS 2005, S. 22).

Während der REVIS-Bericht den Charakter einer Empfehlung hat, stellt der KMK-Beschluss ein Dokument dar, das die Einführung von Verbraucherbildung in Deutschland verbindlich vorsieht. Als übergreifende Zieldimension von Verbraucherbildung weist der Beschluss die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen zu „mündige[n]“ Verbraucher*innen aus, worunter die „Entwicklung eines verantwortungsbewussten Verhaltens als Verbraucherinnen und Verbrauchern“ verstanden wird (KMK 2013, S. 2). Inhaltlich finden sich im KMK-Beschluss wesentliche Aspekte des REVIS-Projekts wieder, die allerdings in ein umfangreicheres Verständnis von Verbraucherbildung eingebettet sind: „Die Verbraucherbildung spielt insbesondere in folgenden Bereichen eine Rolle: Finanzen, Marktgeschehen und Verbraucherrecht; Ernährung und Gesundheit; Medien und Information; Nachhaltiger Konsum und Globalisierung“ (KMK 2013, S. 3). Hierbei folgt die Verbraucherbildung „durchgängig vor allem der Bildung für nachhaltige Entwicklung“ (KMK 2013, S. 2).Footnote 1

Beide Dokumente rufen auf Länderebene schon bald konkrete Veränderungen hervor: Mit starkem Bezug auf das REVIS-Projekt und dessen Bildungsziele wird 2009 in Schleswig-Holstein ein Lehrplan für ein neu einzuführendes Fach „Verbraucherbildung“ entwickelt (Ministerium für Bildung und Frauen des Landes Schleswig-Holstein 2009). Ähnlich starken Bezug auf REVIS lassen die rheinland-pfälzische „Richtlinie Verbraucherbildung“ (Ministerium für Bildung, Wissenschaft, Jugend und Kultur 2010) und das sächsische „Curriculum der Ernährungs- und Verbraucherbildung“ erkennen (Schindhelm 2012). Demgegenüber heben Rahmenbestimmungen anderer Bundesländer stärker den Bezug auf nachhaltige Entwicklung hervor: Dieser findet sich zuerst in der bayerischen Richtlinie „Ökonomische Verbraucherbildung“ (Bayerisches Staatsministerium für Unterricht und Kultus, Wissenschaft, Forschung und Kunst 2010). Der Berliner „Orientierungs- und Handlungsrahmen für das übergreifende Thema Verbraucherbildung“ (Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft 2016) sowie die nordrhein-westfälische „Rahmenvorgabe Verbraucherbildung in Schule“ (sic) (Ministerium für Schule und Weiterbildung 2017) orientieren sich vor allem am KMK-Beschluss.Footnote 2

2.2 Bestandsaufnahme schulischer Verbraucherbildung

Die im vorherigen Abschnitt genannten Dokumente bilden im Folgenden die Grundlage meiner Analyse schulischer Verbraucherbildung. Da die unterschiedlichen Richtlinien, Rahmenvorgaben oder Curricula jeweils länderspezifisch zugeschnitten sind, ist es nicht möglich, eine der Verbraucherbildung zugrunde liegende Kernidee herauszudestillieren. Deswegen wird im Folgenden der Weg der Bestandsaufnahme gewählt. Orientiert an spezifischen Kriterien, kann so ein Überblick über charakteristische Merkmale der Verbraucherbildung gegeben werden, wie sie sich in den schulpolitischen Dokumenten zeigen. Die Kriterien sind so gewählt, dass nicht nur begriffliche Grundlagen und normative Zielbestimmungen von schulischer Verbraucherbildung, sondern zugleich auch die Grundsätze der jeweils konkreten unterrichtlichen Ausgestaltung von Verbraucherbildung in den Blick geraten: Im einzelnen soll Verbraucherbildung im Hinblick auf (a) die Stellung im Fächerspektrum, (b) das konzeptuelle Verständnis und (c) die inhaltliche Ausgestaltung, (d) den ihr zugrunde liegenden Begriff des Konsumierens sowie schließlich (e) die Bestimmung ihrer Adressat*innen (woraus sich zugleich wesentliche Zieldimensionen von Verbraucherbildung ergeben) betrachtet werden. Hierbei treten sowohl Unterschiede als auch Gemeinsamkeiten zutage:

  1. a.

    Die Heterogenität der verschiedenen Varianten der Verbraucherbildung zeigt sich allein schon anhand ihrer länderspezifischen Stellung im schulischen Fächerspektrum: Sofern die Länder überhaupt Leitlinien o. Ä. entwickelt haben, wird die Verbraucherbildung entweder als eigenes Fach (wie in Schleswig-Holstein) oder als fächerübergreifende Querschnittsaufgabe (wie bspw. in Bayern oder NRW) verstanden. Im letzteren Fall sprechen die Amtsdokumente teils lediglich allgemeine Empfehlungen aus, teils verteilen sie fachliche Zuständigkeiten, indem sie Fächer wie Sachunterricht, Hauswirtschaft oder die gesellschaftswissenschaftlichen Fächer als Leitfächer der Verbraucherbildung bestimmen.

  2. b.

    Auch im Hinblick auf das konzeptuelle Verständnis von Verbraucherbildung variieren die Entwürfe: Wird in Bayern Verbraucherbildung auf das Marktgeschehen enggeführt, spielen in den anderen Dokumenten mit der Produktion (im weitesten Sinne), Nutzung und Entsorgung von Produkten auch soziale und kulturelle Dimensionen des Konsumierens eine Rolle.

  3. c.

    Am deutlichsten zeigen sich die Unterschiede in inhaltlicher Hinsicht: Die bayerische Verbraucherbildung konzentriert sich vor allem auf Aspekte des Kaufens, während die am REVIS-Projekt orientieren Varianten den Schwerpunkt entsprechend auf die Bereiche Ernährung und Gesundheit legen (Schleswig-Holstein, Rheinland-Pfalz, Sachsen). Die inhaltlich weiteste Interpretation von Verbraucherbildung findet sich in den am KMK-Beschluss orientieren Varianten von Berlin und Nordrhein-Westfalen.

Gleichwohl lassen sich auch Gemeinsamkeiten im Feld der Verbraucherbildung erkennen:

  1. d.

    Deutlich wird dies vor allem im Hinblick auf den zugrundeliegenden Begriff des Konsumierens. Der schulischen Verbraucherbildung liegt – mit Ausnahme Bayerns – ein weites Verständnis von Konsumieren zugrunde. Im Berliner Modell bspw. wird das Konsumieren als „(Vor‑)Kauf, Nutzung und Entsorgung von Produkten und Dienstleistungen mit dem Ziel der Bedürfnisbefriedigung“ verstanden (Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft 2016, S. 4). Das Konsumieren gerät hier als eine ökonomisch, sozial und kulturell bedeutsame Form des Handelns in den Blick, die neben dem Kaufen auch das zweckmäßige Benutzen und Entsorgen umfasst. Konsumieren wird zudem mit einer Zweckbestimmung verknüpft: Es steht im Dienst der Befriedigung von Bedürfnissen. Weiterhin wird das Konsumieren kompetenztheoretisch ausgelegt. Hierbei fungiert Franz E. Weinerts Definition von fachübergreifenden Kompetenzen als kompetenztheoretischer Hintergrund der Verbraucherbildung (etwa Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft 2016, S. 6 oder REVIS 2005, S. 25). Weinert bestimmt fachübergreifende Kompetenzen als „die bei Individuen verfügbaren oder durch sie erlernbaren kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten, um bestimmte Probleme zu lösen, sowie die damit verbundenen motivationalen, volitionalen und sozialen Bereitschaften und Fähigkeiten um die Problemlösungen in variablen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu können“ (Weinert 2001, S. 27 f.). Die Bezugnahme auf Weinert verdeutlicht, dass schulische Verbraucherbildung das Konsumieren als eine Form des instrumentellen Handelns versteht: Das Konsumieren wird als Mittel zur Lösung eines bestimmten Problems verstanden, nämlich der Befriedigung von Bedürfnissen. Vor diesem Hintergrund erscheint das Konsumieren als eine zu erlernende Tätigkeit, zu der spezifische Kompetenzen benötigt werden: Man muss nicht nur wissen, wie man seine Bedürfnisse konsumtiv befriedigt, sondern auch lernen, dies zu wollen, zu können – und es schließlich tatsächlich auch zu tun.

  2. e.

    Die Konkretisierung des in diesem Zusammenhang nötigen Wissens, Wollens, Könnens und Tuns erschließt sich mit Blick auf die Bestimmung der Adressat*innen schulischer Verbraucherbildung: Die Schüler*innen werden zum einen in Hinblick auf ihre gegenwärtigen und zukünftigen sozialen Rollen als Konsument*innen angesprochen, zum anderen aber auch als ethische Subjekte. In Bezug auf die Übernahme der Konsument*innenrolle geht es hier um die Fähigkeit zu marktkonformem Handeln auf „traditionellen“ Märkten sowie im Kontext digitaler Medien. Hierbei wird von Kindern und Jugendlichen vor allem ein Wissen über „Spielregeln“ von Märkten (bspw.: Formen des Einzelhandels, Möglichkeiten der Informationsbeschaffung, Zusammenhang von Angebot und Nachfrage, Funktion von Werbung und Algorithmen) und über rechtliche Zusammenhänge des Marktgeschehens (Verbraucher- oder Urheberrecht, Datenschutz) erwartet sowie die Fähigkeit, angemessen mit Geld und digitalen Medien umzugehen. Kinder und Jugendliche sollen aber nicht nur marktkonforme, sondern auch gute Konsument*innen werden – und deshalb gesund und nachhaltig konsumieren. Hierbei setzt die Verbraucherbildung nicht nur beim Wissen von Kindern und Jugendlichen an, sondern bezieht sich direkt auf deren Bedürfnisleben. So will etwa Verbraucherbildung in Rheinland-Pfalz „Menschen dazu ermutigen, das persönliche Präferenz- und Wertesystem zu reflektieren und bewusste Entscheidungen im Hinblick auf eigene Wünsche und Bedürfnisse zu treffen“ (Ministerium für Bildung, Wissenschaft, Jugend und Kultur 2010, S. 8). Vor diesem Hintergrund vermittelt Verbraucherbildung u. a. das Können und die Bereitschaft, „eigenes Konsum- und Alltagshandeln auf der Grundlage des Nachhaltigkeitskonzepts analysieren und bewerten und diese Reflexion für Entscheidungen nutzen zu können“ (Ministerium für Bildung, Wissenschaft, Jugend und Kultur 2010, S. 26), „sich mit dem Zusammenhang von Ernährung und Gesundheit auseinanderzusetzen“ (Ministerium für Bildung, Wissenschaft, Jugend und Kultur 2010, S. 28) sowie „gesundheitsförderliche Handlungsmöglichkeiten und Verhaltensweisen situationsgerecht und selbstbestimmt entwickeln und […] nutzen“ zu können (Ministerium für Bildung, Wissenschaft, Jugend und Kultur 2010, S. 30).Footnote 3 Die durch Verbraucherbildung geförderten „bewussten Entscheidungen im Hinblick auf eigene Wünsche und Bedürfnisse“ sind also keineswegs beliebig, sondern werden in eine ganz bestimmte Richtung gelenkt.

3 Kritik schulischer Verbraucherbildung

Im Folgenden soll schulische Verbraucherbildung einer Kritik unterzogen werden. Sie entzündet sich vor allem an der normativen Engführung des Konsumierens auf Gesundheit und Nachhaltigkeit (3.2). Zuvor möchte ich jedoch den Rahmen meiner Kritik skizieren (3.1).

3.1 Ökonomisierung und Responsibilisierung von Gesundheit und Nachhaltigkeit

Der sozial- und subjekttheoretische Rahmen meiner Kritik an der Verbraucherbildung besteht in dem, was gegenwärtig mit Bezug auf Foucaults Machtanalytik unter dem Stichwort „Ökonomisierung des Sozialen“ diskutiert wird. Die Soziologin Regina Brunett beschreibt, inwiefern derartige Prozesse zum einen eine grundlegende Neubestimmung des Verhältnisses von Staat und Ökonomie implizieren: „Der Staat reguliert demnach nicht länger den Markt, sondern der Markt wird umgekehrt zum organisierenden Prinzip des Staates“ (Brunett 2007, S. 178). Damit einher geht zum anderen eine neue und machtvolle Verhältnisbestimmung von Individuum und Staat, wie Thomas Lemke herausstellt: Er spricht von einer „Regierung durch Individualisierung“, d. h. „der Verlagerung von Führungskapazität vom Staat weg auf ‚verantwortliche‘ und ‚rationale‘ Einzelne. Dabei geht es vorrangig darum, andere zum Handeln zu bewegen, also bestimmte Formen des Handelns weniger zu unterbinden oder zu beschränken als sie vielmehr zu fördern oder gar zu fordern“ (Lemke zit. nach Hälterlein 2015, S. 160). Nach Susanne Krasmann erfolgt diese Art der Subjektivierung u. a. durch Prozesse der Responsibilisierung, d. h. „der Mobilisierung von Individuen unter dem Signum von Eigenverantwortung, Eigenständigkeit und Eigeninitiative“ (Krasmann 2000, S. 198). Mit Jens Hälterlein kann hinzugefügt werden, dass Individuen auf diese Weise nicht nur für sich selbst, sondern u. a. auch für ihre Mitmenschen und die (Um)Welt Verantwortung tragen sollen. „Regieren durch Individualisierung führt so gleichsam zu einer Verlagerung des Sozialen in das Individuum“ (Hälterlein 2015, S. 161).

Dies ist auch in Bezug auf Gesundheit und Nachhaltigkeit beobachtbar. Beide Themen sind seit den 1970er-Jahren in den westlichen Wohlstandsgesellschaften Gegenstand sozialer wie politischer Auseinandersetzungen, an deren Ende die Kommodifizierung von Gesundheit und Nachhaltigkeit steht:

So stellt etwa Brunett heraus, wie sich im Laufe der letzten rund 40 Jahre eine „neue Kultur der Gesundheit“ etabliert, zu deren Merkmalen es gehört, dass Gesundheit weniger als existentielle Notwendigkeit, sondern vielmehr als ein kulturelles Bedürfnis verstanden wird, das über Konsum konstituiert und befriedigt wird. „Die Veränderung liegt darin, dass Gesundheit nicht mehr der medizinischen Expertise überantwortet ist, sondern längst als integraler Bestandteil von alltäglicher Lebensqualität, Wohlbefinden und Glück verstanden wird“ (Brunett 2007, S. 173). Während so einerseits der Gesundheitsmarkt massiv expandiert, wird andererseits „Gesundheit“ ein symbolisch-fiktionaler Mehrwert von Konsumgütern und Dienstleistungen und als Kriterium von Kauf- und Konsumentscheidungen zunehmend wichtiger. All dies wirkt sich jedoch nicht nur auf die kulturelle Bewertung von Gesundheit, sondern auch auf das Verständnis von Krankheit aus: Während „Gesundheit“ nun als Ausdruck der individuellen Persönlichkeit gilt, „erscheint Krankheit für die Individuen selbst, aber auch für die Umgebung, zunehmend als selbst zu verantwortendes Versagen, als äußerliches Zeichen der missglückten Anpassung an die Lebensbedingungen“ (Brunett 2007, S. 179). Der Konsumforscher Wolfgang Ullrich stellt heraus, wie sich diese „neue Kultur von Gesundheit“ im alltäglichen Ernährungsverhalten niederschlägt. Er beobachtet, dass auf Plattformen wie Youtube Jugendliche sich „in absoluter Ernsthaftigkeit Video um Video mit ihrer Ernährungsumstellung befassen: Ausführlich legen sie die Gründe dar, warum sie vegan geworden sind oder künftig komplett auf irgendetwas verzichten“ (Ullrich 2017a, S. 5). Hierbei stellt er nicht nur eine „Gesundheits- und Reinheitspanik“ fest (Ullrich 2017a, S. 10), sondern unterstreicht auch die Genussfeindlichkeit dieser neuen Esskultur. Dies verdeutlicht er u. a. an der Konjunktur des „Detox“-Phänomens: „hat man ein paar der Videos gesehen, in denen von erlösenden Entgiftungserlebnissen oder auch peinvollen Entgiftungspannen […] berichtet wird, könnte man zu der Auffassung gelangen, dass eine individuell austarierte und industriell begleitete Detox-Strategie heutzutage zu jedem halbwegs seriösen Leben gehört“ (Ullrich 2017a, S. 10).

Eine ähnliche Entwicklung kann auch in Bezug auf das Thema Nachhaltigkeit beschrieben werden. Der Sozialwissenschaftler Joseph Huber beschreibt sie als Prozess der „Ökologisierung der Ökonomie durch Ökonomisierung der Ökologie“ (Huber zit. nach Hälterlein 2015, S. 144). Jens Hälterlein zeigt in diesem Zusammenhang, wie im Nachhaltigkeitsdiskurs der letzten rund 50 Jahre „eine Problematisierung des Wachstums und des Massenkonsums […] in eine Frage der ökonomischen Effizienz und des individuellen Konsums umdefiniert“ wird (Hälterlein 2015, S. 136), während globale Interessenkonflikte oder Umverteilungsmaßnahmen so zunehmend aus dem Blick geraten. Er rekonstruiert, wie die Förderung nachhaltigen Produzierens und Konsumierens als „zentrale politische Technologie einer neuen Rationalität des Regierens ausgewiesen“ wird (Hälterlein 2015, S. 144): Die Realisierung nachhaltiger Entwicklung soll nicht durch eine „umwelt-, entwicklungs- und wirtschaftspolitische[] Zähmung des Marktes“, sondern durch „ökologischen Wettbewerb“ gewährleistet werden (Hälterlein 2015, S. 144). Hierbei kommt der Steuerung des Kaufverhaltens eine zentrale Stellung zu: „Dieser Wettbewerb soll zu nachhaltigen Waren und Dienstleistungen führen, welche die Verbraucher honorieren müssten“ (Hälterlein 2015, S. 144). Ähnlich wie der Konsum von Gesundheit wird heute das Konsumieren nachhaltiger Produkte „zum Ausweis der moralischen Qualität der Person“ (Hälterlein 2015, S. 161), während umgekehrt nicht-nachhaltiges Konsumieren als Ausdruck mangelnden ökologischen Bewusstseins und Verantwortungsgefühls gewertet wird. Wolfgang Ullrich analysiert in diesem Zusammenhang konkrete Ausprägungen einer solchen Konsumkultur, als deren charakteristisches Merkmal er das Bekenntnis zu Werten herausstellt: „‚Trinke korrekt und rede darüber‘ – lautet etwa die Losung eines Getränkeanbieters aus Dresden mit dem völlig unironisch gemeinten Namen ‚Bar der Korrekten‘, der ausschließlich nachhaltig-soziale Marken wie Charitea verkauft“ (Ullrich 2017b, S. 38). Hierbei kritisiert er vor allem das mangelnde Bewusstsein für die sozialen Implikationen solch demonstrativen Gewissens-Konsums: „Wer reicher ist, kann sich in einer wertethisch verfassten Kultur nicht nur mehr leisten, sondern steigert – durch den Erwerb guten Gewissens – fortwährend das eigene Selbstwertgefühl, während die Ärmeren, die nach wie vor damit beschäftigt sind, ihre materiellen Bedürfnisse zu befriedigen, viel schlechtere Chancen haben, ein Wertebewusstsein zu entwickeln, sich zu bestimmten Werten zu bekennen oder diese zu realisieren. Sie erscheinen – und fühlen sich – also erst recht in moralischer Hinsicht arm und unterlegen“ (Ullrich 2017b, S. 42).

Nichtsdestoweniger wird gemäß der neoliberalen Programmatik von Gesundheit und Nachhaltigkeit allen Individuen tendenziell die Fähigkeit und Bereitschaft zugesprochen, sich rational für einen verantwortlichen, d. h. gesunden und nachhaltigen Lebens- und Konsumstil zu entscheiden und dementsprechend nicht-gesundes und nicht-nachhaltiges Konsumieren zu unterlassen und abzulehnen. Das konsumierende Subjekt verliert durch diese Art der Responsibilisierung damit aber tendenziell Ansprüche darauf, sich durch Konsum etwa unterhalten zu lassen, entlastet zu werden oder schlicht zu genießen. Stattdessen rückt auch im Konsum „nun das stets aktive, selbst verantwortliche Subjekt paradigmatisch in den Vordergrund“ (Brunnett 2007, S. 179). Gesundes und nachhaltiges Konsumieren wird nicht nur als ein Zeichen von Eigenverantwortung, sondern zugleich auch als ein Ausdruck der Verantwortung für die Mitmenschen, Gesellschaft, den Staat und die Umwelt lesbar. Dies bedeutet umgekehrt aber auch, dass Krankheit, soziale Ungleichheit und Umweltzerstörung zu Aspekten werden, für die Konsument*innen tendenziell selbst verantwortlich sind und auch zur Rechenschaft gezogen werden können. Schließlich haben so nicht gesund und nachhaltig Konsumierende den Entzug von Anerkennung und sozialen Teilhabemöglichkeiten zu fürchten. Denn durch ihr unverantwortliches Konsumverhalten schaden sie nicht nur sich selbst, sondern auch dem Rest der Welt.

3.2 Kritik der Verbraucherbildung

Nun fällt auf, dass viele der gerade beschriebenen Aspekte auch in der Verbraucherbildung zum Tragen kommen. So folgt die Einführung von Verbraucherbildung der gerade beschriebenen Ökonomisierungslogik. Das Konsumieren wird hier tendenziell als Ursache verschiedener Risiken interpretiert, welche ihrerseits wiederum an mangelnde individuelle Kompetenzen rückgebunden werden: In der rheinland-pfälzischen Variante werden vor allem die „Folgekosten“ nicht-gesunder und nicht-nachhaltiger Konsummuster für Staat, Gesundheitssystem und Umwelt betont, die sich jedoch durch „veränderte Konsumgewohnheiten vermeiden“ ließen (Ministerium für Bildung, Wissenschaft, Jugend und Kultur 2010, S. 8). Im REVIS-Projekt, das „Bildung“ grundsätzlich als „individuelles und gesellschaftliches Kapital“ versteht (REVIS 2005, S. 16), heißt es: „Fehlende Konsum-Kompetenzen führen zu nicht unerheblichen Belastungen für die Individuen und die Gesellschaft (Ver- und Überschuldungsprobleme, ungenügende Daseinsvorsorge usw.)“ (Ministerium für Bildung, Wissenschaft, Jugend und Kultur 2010, S. 7). Die Einführung von Verbraucherbildung erscheint vor diesem Hintergrund als eine Investitions- und vor allem Präventionsmaßnahme, um nicht nur Individuen vor Verschuldung, sondern auch Gesellschaft und Staat vor unverantwortlich konsumierenden Individuen zu bewahren.

Vor diesem Hintergrund kann die im KMK-Beschluss geforderte Mündigkeit im Sinne eines verantwortlichen Konsumhandelns (vgl. KMK 2013, S. 2) als eine Form der Responsilisierung von Kindern und Jugendlichen im Hinblick auf sich selbst, ihre Mit- und Umwelt gedeutet werden. In der Berliner Variante wird sie anhand der Figur des Konsumbürgers bzw. der Konsumbürgerin konkretisiert: Schüler*innen sollen „als ‚Consumer Citizen‘ (Konsumbürgerin und -bürger) im Rahmen der Handlungsmöglichkeiten als Konsumentin und Konsument Verantwortung im Sinne der als richtig empfundenen gesellschaftlichen Ziele“ übernehmen (Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft 2016, S. 9). Schon der Brundtlandt-Report „Our Common Future“ stellt in Bezug auf nachhaltige Entwicklung die Frage: „How are individuals in the real world to be persuaded or made to act in the common interest?“ (Word Commission on Environment und Development 1987, S. 39) Die Subjektivierungsform „Consumer Citizen“ ist durchaus als eine Antwort hierauf zu verstehen. Damit steht die Verbraucherbildung zugleich in einer konsumpädagogischen Tradition, die sich als Teil einer „global citizenship education“ versteht. In diesem Sinne argumentiert etwa Sue McGregor, Schüler*innen würden in Bezug auf das Konsumieren „prepared to be citizens first and consumers second; that is, consumer citizens“ (McGregor 2011a, S. 264).

Wie aber werden Schüler*innen zu „Consumer Citizens“? Um das konsumierende Selbst als Verantwortungsträger*in zu adressieren und das Konsumieren als konkrete Praxis der Verantwortungsübernahme zu interpretieren, bedient sich die Verbraucherbildung eines spezifischen Konsumverständnisses: Das Konsumieren wird, wie oben beschrieben, funktionalistisch und normativ enggeführt. Eine in mehreren Dokumenten genannte und durch Verbraucherbildung zu vermittelnde Kernkompetenz besteht darin, „Gesundheit, Funktionalität und Nachhaltigkeit als zentrale Bewertungskriterien zu verstehen und anzuwenden“ (Schindhelm 2012, S. 5). Wenn in diesem Zusammenhang überdies davon gesprochen wird, dass die genannten Bewertungskriterien nicht nur verstanden, sondern auch angewandt werden müssen, dann wird deutlich, dass es die Verbraucherbildung nicht dabei belässt, lediglich bestimmte Dispositionen zum verantwortlichen Konsumieren zu fördern. Vielmehr geht es darum, konkrete Konsumgewohnheiten im Alltagsleben der Schüler*innen zu etablieren. Hierauf verweisen bereits die Bildungsziele des REVIS-Berichts, von denen dort auch explizit als anzustrebenden „Verhaltensänderungen“ die Rede ist (REVIS 2005, S. 8, vgl. Kap. 2.1).Footnote 4

Auf der curricularen Ebene kann nun verfolgt werden, wie dies operationalisiert und in konkrete Bildungsstandards oder Kompetenzen übersetzt wird. Ich ziehe hierzu exemplarisch die Berliner Variante heran: Um eine Konsument*innenidentität aufbauen, werden Schüler*innen hier dazu aufgefordert, das eigene Selbst und das eigene Leben im Lichte des eigenen Konsumverhaltens zu betrachten: Sie sollen „Ess‑, Ernährungs- und Bewegungsprotokolle“ führen (Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft 2016, S. 17) und eine eigene „Konsumbiografie“ (Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft 2016, S. 28) entwerfen können. Zur Moralisierung des Konsumierens und des konsumierenden Selbst trägt bei, dass Schüler*innen „Regeln“ und „grundlegende Prinzipien gesundheitsfördernder und umweltverträglicher Ernährung“ (Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft 2016, S. 16) sowie „die Dimensionen der Nachhaltigkeit“ (Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft 2016, S. 26) nennen und erläutern können müssen. Hierzu gehört aber auch, „gesundheitliche Folgen von Fehlernährung“ identifizieren (Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft 2016, S. 18) und „Folgen des Konsums für Umwelt, Gesellschaft und Individuum wiedergeben“ zu können (Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft 2016, S. 26). Dieses Regel‑, Prinzipien- und vor allem Risikowissen wirkt aber nicht nur moralisierend, sondern ist zugleich auch notwendig, um Konsumverhalten bewerten und es u. U. auch ändern zu können: Denn Schüler*innen müssen auch „Verstöße gegen Kriterien der Nachhaltigkeit durch vorherrschende Konsumverhaltensmuster aufzeigen“ (Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft 2016) und – bei Fehlernährung – „Hilfsmöglichkeiten“ analysieren können (Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft 2016, S. 18). Aber nicht nur das Verhalten Anderer, sondern auch der eigene Ernährungs- und Konsumstil steht zur Disposition. Denn Schüler*innen müssen eigene Ernährungsvorlieben „mit Ernährungsempfehlungen vergleichen“ (Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft 2016, S. 19) und „die eigene Konsumbiografie analysieren und unter Nachhaltigkeitsgesichtspunkten kritisch hinterfragen“ können (Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft 2016, S. 28). So entsteht ein Ernährungs- und Konsumgewissen. Schüler*innen sollen ihrer Verantwortung als „Consumer Citizens“ aber auch tatsächlich nachkommen: Sie müssen nicht nur „den möglichen Beitrag ihrer Kaufhandlungen zu positiven gesellschaftlichen Veränderungen beschreiben“ (Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft 2016, S. 15) und „exemplarisch ein Produkt nach Nachhaltigkeitskriterien beschaffen“ (Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft 2016, S. 30), sondern auch „eine umfassende Strategie zur Erreichung eines nachhaltigeren Lebensstils“ entwickeln (Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft 2016, S. 29) und „aufgrund ihrer Wertschätzung von Lebensmitteln und Ressourcen die Beschaffung und Zubereitung von Nahrungsmitteln verantwortlich gestalten“ (Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft 2016, S. 20). Schließlich sollen die Schüler*innen selbst zur weiteren Responsibilisierung des Konsums beitragen, indem sie „Empfehlungen zur Verbesserung gesellschaftlicher (auch schulischer) Rahmenbedingungen für nachhaltigen Konsum für politische und gesellschaftliche Entscheidungsträgerinnen und -träger entwickeln“Footnote 5 (Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft 2016, S. 30).

Dass ein gesunder und nachhaltiger Lebensstil jedoch maßgeblich von einer privilegierten sozialen, ökonomischen und kulturellen Position abhängt, wird in der Verbraucherbildung ebenso wenig vermittelt wie die Tatsache, dass ein entsprechendes Konsumverhalten gegenwärtig vor allem von aufstiegsorientierten Mittelschichtsangehörigen aus Großstadtregionen sowie von liberal und kulturell progressiv eingestellten Angehörigen höherer Einkommensschichten (mit zumeist akademischem Hintergrund) als wirkmächtiges Distinktionsmittel eingesetzt wird (Rückert-John et al. 2013, S. 64 ff.; Neckel 2018). Kein einziges der untersuchten bildungs- und schulpolitischen Dokumente geht auf derlei „contradictions inherent in sustainable living“ ein (Vare und Scott 2007, S. 194). Der Verbraucherbildung fehlt es an dieser Art der kritischen Selbstreflexion ihrer eigenen Zielsetzungen, wie sie etwa von den Nachhaltigkeitsforschern Paul Vare und William Scott gefordert wird (Vare und Scott 2007). Es ist deshalb nicht ausgemacht, ob die Verbraucherbildung dazu beitragen kann, derzeit beobachtbaren problematischen Ernährungs- und Konsumformen in Bezug auf Gesundheit und Nachhaltigkeit etwas entgegenzuhalten: Wird die von Ullrich beobachte „Gesundheits- und Reinheitspanik“ und die Genussfeindlichkeit im Ernährungs- und Konsumverhalten vieler Jugendlicher durch Verbraucherbildung eher gestützt oder verhindert? Wird die Verbraucherbildung etwas gegen die Entstehung des „Gewissenshochmut[s]“ (Ullrich 2017b, S. 38) bei denjenigen ausrichten können, die sich einen gesunden und nachhaltigen Lebens- und Konsumstil sowieso schon leisten können? Wie geht sie mit Schüler*innen um, die ihn sich nicht leisten können und damit den hohen Ansprüchen, die die Schule an ihr Leben stellt, nicht gerecht werden können? Trifft für die Verbraucherbildung schließlich auch das zu, was Markus Rieger-Ladich jüngst anhand aktueller Bildungsromane an der Schule kritisiert? Hier sei „unisono von der Scham“ die Rede, die sich auf die „soziale Herkunft bezieht und von der ganzen Person Besitz ergreift. Es sind also nicht schwache Leistungen, welche die Beschämung provozieren. Es sind habituelle Dispositionen – die Art zu sprechen, sich zu bewegen oder sich zu kleiden; es sind mithin jene Zeichen, die ihre Klassenzugehörigkeit verraten“ (Rieger-Ladich 2019, S. 193). Es ist nicht auszuschließen, dass die Erfahrungen, von denen Autoren wie Didier Eribon, Édouard Louis oder J.D. Vance gegenwärtig berichten, auch Schüler*innen der Verbraucherbildung erleiden könnten.

4 Zusammenfassung und Ausblick

Erinnert man sich an die eingangs erwähnte Verwunderung über das fehlende Interesse der Pädagogik an Fragen des Konsums, so fällt ein diesbezügliches Urteil mit Blick auf die Verbraucherbildung nun zwiespältig aus: Einerseits wird das Thema „Konsum“ hierdurch curricular massiv aufgewertet, andererseits aber auch spezifisch auslegt. Verbraucherbildung erscheint als eine Form der Steuerung der Lebensstile und des Konsumverhaltens von Schüler*innen: Diese werden konsequent dazu aufgerufen, eigenes wie fremdes Leben und Konsumieren im Lichte der Verantwortung für Gesundheit und Nachhaltigkeit zu analysieren, zu bewerten und es dahingehend zu ändern. Damit trägt die Verbraucherbildung nicht nur zu Prozessen der Ökonomisierung des Sozialen bei, sondern wird auch zum Verordnungsorgan staatlich erwünschter Konsummuster. Hierbei liegt der Verbraucherbildung ein funktional und normativ verengtes Konsumverständnis zugrunde, das sich zugleich als wirksames Mittel der Responsibilsierung von Schüler*innen zu selbst- und mitverantwortlichen Konsument*innen erweist.

Nun sollte es allerdings nicht überraschen, dass die Schule tendenziell nicht besser ist als die Gesellschaft, deren Teil sie auch ist. Auch sollte die Tatsache keinen Anlass zur Empörung geben, dass in der Schule Ansprüche an Schüler*innen seitens des Staates geltend gemacht werden. Die Schule als soziale Institution ist auch eine Eingliederungs- und Legitimationsanstalt (Reichenbach 2018, S. 31). Es erscheint jedoch bedenklich, dass die Verbraucherbildung nicht berücksichtigt, es Schüler*innen zu ermöglichen, einen eigenen Konsumgeschmack und Konsumstil zu entwickeln (vgl. hierzu auch Fußnote 4). Dass sie Schüler*innen für eine gesunde Ernährung und nachhaltiges Konsumieren sensibilisiert, ist in diesem Zusammenhang grundsätzlich unproblematisch. Pädagogisch fragwürdig ist jedoch, dass die hier analysierten bildungs- und schulpolitischen Dokumente zur Verbraucherbildung allein auf die normative Dimension von Gesundheit und Nachhaltigkeit ausgerichtet sind. Problematisch ist hieran zum einen, dass die Konsumerfahrungen von Schüler*innen an einem einzigen und nicht hinterfragbaren Maßstab ausgerichtet werden. Zum anderen gerät der Verbraucherbildung aus dem Blick, dass Konsumprodukte abseits von Bedürfnisbefriedigung und der Beförderung von Gesundheit und Nachhaltigkeit anderen Zwecken dienen und andere Sinndimensionen aufweisen.

Denn Konsumprodukte haben nicht nur einen Tausch- und einen Gebrauchswert, wie es Verbraucherbildung implizit voraussetzt. Konsumprodukte verfügen zum einen über das, was Wolfgang Ullrich ihren Fiktionswert (Ullrich 2013) und zum anderen über das, was der Philosoph Gernot Böhme deren Inszenierungswert nennt (Böhme 2016):

Mit dem Begriff des Fiktionswertes kann auf den Umstand hingewiesen werden, dass Konsumprodukte und deren Konsum auch unser Imaginäres ansprechen. Ullrich verweist in diesem Zusammenhang auf die Rolle des Produktdesigns, d. h. auf Prozesse der Material- und Formgestaltung, der Namensgebung oder Produkterzählung. Jedoch können Fiktionswerte auch – wie die Beispiele Gesundheit und Nachhaltigkeit zeigen – durch übergreifende soziale Prozesse geformt werden. Ullrich hebt nicht nur die atmosphärischen, sondern auch die interpretativen und performativen Dimensionen von Konsumprodukten hervor. Deshalb bieten Konsumprodukte auch „Inszenierungen von Emotionen, Handlungen, Situationen“ (Ullrich 2013, S. 10). Und so erscheinen Konsumprodukte nicht nur als Gegenstände rationaler und moralischer Urteile, sondern zugleich auch als mögliche Anlässe ästhetischer Erfahrungen.

Der Begriff des Inszenierungswerts zeigt an, dass Konsumprodukte auch dazu beitragen können, Facetten der Persönlichkeit auszudifferenzieren, zu unterstreichen sowie die eigene Identität und soziale Position darzustellen. Konsumprodukte tragen damit auch zur sozialen Differenzierung bei – durch sie können auch ein legitimer Geschmack oder gruppen- und klassenspezifische Normen und Werte zum Ausdruck gebracht werden.

Vor diesem Hintergrund sollte es der Verbraucherbildung nicht allein darum gehen, „Gesundheit, Funktionalität und Nachhaltigkeit als zentrale Bewertungskriterien“ für Konsumentscheidungen zu vermitteln, sondern das Interesse und die Aufmerksamkeit für Konsumprodukte wecken und komplexe Umgangsformen mit ihnen einüben. Das bedeutet aber auch, dass sie in zweierlei Hinsicht anders als bisher gedacht und konzipiert werden sollte, und zwar im Hinblick auf ihr Konsumverständnis und die Frage, woher die Verbraucherbildung ihre Aufgaben nimmt und wie sie diese legitimiert: Die Verbraucherbildung benötigt zum einen einen differenzierteren Begriff des Konsumierens. Denn unter die Tätigkeit des Konsumierens fallen nicht nur Aspekte des Kaufens, Nutzens und Entsorgens, sondern auch Formen der Auseinandersetzung mit den fiktionalen und symbolischen Überschüssen, die Waren jenseits ihres Gebrauchswertes freisetzen. Gleichzeitig gerät das Konsumieren nicht allein als ein Mittel zur Lösung von Problemen, sondern auch als eine durch Konsumprodukte vermittelte Form der Auseinandersetzung mit sich selbst, seinen Mitmenschen und der (Um)Welt in den Blick. Zum anderen sollte sich die Verbraucherbildung im Hinblick auf ihre konkreten Aufgaben weniger von politisch erwünschten Kompetenzanforderungen als vielmehr von „Anforderungen, die die Sache stellt“ (Gruschka 2019, S. 33), bestimmen lassen. Nicht also sollten aus zuvor festgelegten Kompetenzanforderungen die Inhalte folgen, sondern aus dem „sachlichen Eigengewicht“ (Gruschka 2019, S. 33) der betreffenden Inhalte heraus sollten sich Anforderungen und Aufgaben der Verbraucherbildung ergeben. Das heißt, dass sich die Verbraucherbildung im Hinblick auf ihre Aufgaben stärker als bislang zum einen an der Struktur von Waren selbst und zum anderen an den spezifischen Kontexten orientieren müsste, in denen Waren zum Tragen kommen. Was das konkret bedeuten könnte, möchte ich zum Schluss wenigstens kurz andeuten (vgl. zum Folgenden Schütte 2018):

Vor diesem Hintergrund bezieht sich eine grundlegende Aufgabe auf die Tausch- und Gebrauchswerte von Waren. Sie weist inhaltlich teilweise Schnittmengen zu den bereits bestehenden Aufgaben der Verbraucherbildung auf und kann als warenkundliche Alphabetisierung bezeichnet werden. Hier soll es darum gehen, Wissen über grundlegende Mechanismen von traditionellen und digitalen Märkten zu vermitteln, den Umgang mit Geld sowie die Urteilsfähigkeit von Schüler*innen in Bezug auf den Preis und die Qualität von Konsumprodukten zu fördern. In diesem Zusammenhang sollten auch Aspekte der Nachhaltigkeit und Gesundheit berücksichtigt werden. Neben der Vermittlung von Wissen über die Qualität, Verarbeitung und den Ressourcenverbrauch von Waren sollen hier aber auch praktische Fähigkeiten zu deren Herstellung und Sicherung von Gebrauchswerten kultiviert werden.

Zwei weitere Aufgaben (sie werden in der Verbraucherbildung derzeit so nicht berücksichtigt) beziehen sich auf die Fiktions- und Inszenierungswerte von Konsumprodukten: Im Zuge konsumästhetischer Geschmacksbildung soll für Konsumprodukte sensibilisiert werden. Dies soll vor allem durch eine Auseinandersetzung mit der materiellen Dimension und der ästhetischen Inszenierung, also mit den Fiktionswerten von Waren, geschehen. Sowohl für sich allein als auch mit Blick auf ihren Zusammenhang mit der Produktinszenierung werden Materialien wahrgenommen, gerochen, gehört, geschmeckt oder ertastet. Anders als bei der warenkundlichen Alphabetisierung liegt der Fokus hier jedoch nicht so sehr auf dem Preis und den Produkteigenschaften, sondern auf der je eigenen Beziehung zum Produkt: Fühlt man sich von dessen Materialität und Inszenierung angesprochen oder abgestoßen, gefällt es, lässt all das einen „kalt“ oder irritiert es vielleicht sogar? Für Schüler*innen müssten in diesem Zusammenhang günstige Rahmenbedingungen und Situationen geschaffen werden, um einen eigenen Konsumgeschmack entwickeln zu können.

Schließlich soll die Herausbildung eines konsumtorischen Ethos befördert werden. Hier steht die Auseinandersetzung mit den Inszenierungswerten von Konsumprodukten im Vordergrund, wobei hier vor allem das Verhältnis von Geschmack, Lebensstil, individueller und sozialer Identität thematisiert wird. Zwar wird in der Verbraucherbildung das Verhältnis von Konsum und sozialer Lage teilweise schon thematisiert, jedoch klärt sie bislang nicht darüber auf, dass ein gesunder und nachhaltiger Lebens- und Konsumstil sozialstrukturell vor allem in der sog. „akademischen Mittelklasse“, die nur rund ein Drittel der Bevölkerung ausmacht, beheimatet ist und derzeit wirksam zur Formierung einer neuen Klassengesellschaft beiträgt (Reckwitz 2017, S. 273 ff.). Verbraucherbildung sollte deshalb stärker als bislang das Konsumieren einerseits als Medium der Präsentation und Ausdifferenzierung der eigenen Persönlichkeit, andererseits aber auch als Mittel sozialer Differenzierung und Distinktion in den Blick nehmen. Sie sollte über die Zusammenhänge von sozialer Lage, Konsum- und Lebensstil aufklären, für die soziokulturellen Folgen des Konsums sensibilisieren und Möglichkeiten bereit stellen, verschiedene Konsumstile zu erproben und sich zu ihnen verhalten zu können.

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass es für die Verbraucherbildung insgesamt also ratsam erscheint, das Verhältnis von Konsum und Politik grundlegend zu überdenken. In diesem Sinne betont auch der Nachhaltigkeitsforscher Kai Niebert in einem Aufsatz zum Thema „Nachhaltigkeit im Anthropozän“, „that the main factor that can turn the Anthroposcene into an epoch of sustainability are political decisions and not primarily changes in individual consumption“ (Niebert 2019, S. 3). Und so legen auch die vorangegangenen Überlegungen nahe, eine moralische und politische Überhöhung des Konsumierens zu vermeiden. Stattdessen sollte es als eine Form des Handelns ernst genommen werden, die nicht weniger, aber auch nicht mehr leistet als den Versuch, das eigene und gemeinsame Leben ein wenig angenehmer, schöner und mitunter sogar sinnvoller zu gestalten. Schließlich kann man aber auch von vielen derzeit politisch aktiven Schüler*innen profitieren. Denn auch von ihnen kann man lernen, dass man für Gesundheit und Nachhaltigkeit auf die Straße gehen soll – und nicht nur in den Supermarkt.