1 Einleitung

Der Begriff der Schulkultur ist in den letzten Jahren zu einer wichtigen Kategorie in der erziehungswissenschaftlichen Diskussion geworden. Er hat u. a. Eingang gefunden in Programme zur Qualitätsverbesserung in Schulen und Schulsystemen (QuiSS)Footnote 1 sowie in den „Orientierungsrahmen Schulqualität in Niedersachsen“, in dem Schulkultur als qualitative und quantitative Dimension schulischer Interaktionsprozesse verstanden wird und durch die Aspekte soziales Klima, Gestaltung der Schule als Lebensraum der Beteiligten, Kommunikation, Kooperation und aktive Einbeziehung von Schülern, Eltern sowie gesellschaftlichen Partnern bestimmt wird (vgl. NKM und NLI 2003, S. 14 ff.). Damit verbunden ist die Vorstellung, dass es sich dann, wenn alle diese einzelnen Faktoren positiv beurteilt werden können, um gute Schulen handelt. Demnach geht es bei dieser Diskussion in den meisten Fällen darum, Faktoren auszumachen, die zur Verbesserung von Schule beitragen können: Schulentwicklung, gesteuert über Autonomie, in jüngerer Zeit auch mithilfe des Konstrukts von Governance analysiert und vorangetrieben, spielt da ebenso eine Rolle wie ein gutes Schulklima, das häufig mit Schulkultur gleichgesetzt wird.

Der Schulkultur-Begriff, der in unser Projekt zur Erarbeitung der Schulkulturen zweier Gymnasien in Niedersachsen, einem staatlichen und einem in evangelischer Trägerschaft, Eingang gefunden hat, geht darüber hinaus. Wir sehen Schulen im Sinne der Organisationskultur als je spezifische Kulturen an, die wir ganzheitlich betrachten, ohne deren innere Heterogenität und die vielfältige Positionalität der Akteure zu übersehen. Schulen sind für uns Einheiten, deren historische Dimensionen und gegenwärtig ablaufende Prozesse in einer Gesamtschau kulminieren, die sie als jeweils unterschiedliche Kulturen erkennbar macht, und das trotz analoger ministerieller Vorgaben und der für alle Gymnasien gleichen Aufgabe, Kinder und Jugendliche bis zum Abitur zu führen und im weitesten Sinne in die Gesellschaft (der Erwachsenen) zu sozialisieren. Die je spezifische Kultur bildet sich durch Interaktionen und deren Habitualisierung in Zeit und Raum aus,Footnote 2 dokumentiert sich in der Herstellung von symbolischen Strukturierungen in Praktiken und bezieht Körper, Räume und im schulischen Kontext vorhandene Artefakte mit ein.Footnote 3

Dieser Sicht auf Kultur ist unser Vorgehen geschuldet: Es orientiert sich an einem ethnographischen Forschungszugang, bei dem der teilnehmenden Beobachtung als Methode der Dokumentation bestimmter kleiner Welten, Subkulturen, Milieus oder Kulturen eine besondere Stellung zukommt.Footnote 4 Konstitutiv für die teilnehmende Beobachtung sollte dabei – im Sinne des ethnographischen Zugangs – der „fremde Blick“ auf die Phänomene sein. Er wird von jeder Forscherin gefordert und muss die „eingekörperte Routine“, wie Amann und Hirschauer (1997, S. 23) es nennen, der unmittelbar am Feld Beteiligten aufheben und „das allzu Vertraute, nämlich selbstverständlich Hingenommene einer Kultur zu ihrem fragwürdigen Gegenstand (…) machen“ (a. a. O., S. 12). Vor diesem Hintergrund haben wir zwei Methoden aufgegriffen und weiterentwickelt, die in besonderer Weise auf das Prinzip der Fremdheit abheben. Das sind zum Ersten geführte Rundgänge, die jeweils einem schulischen Akteur (SchülerInnen, Lehrkräfte, nichtpädagogische MitarbeiterInnen sowie Elternteilen unterschiedlichen Alters und Geschlechts) Gelegenheit geben, der Ethnographin im Rahmen einer gemeinsamen Begehung von Gebäuden und Areal „ihre Schule“ kommentierend zu zeigen. An zweiter Stelle wird die Nutzung des „fremden Blicks“ intensiviert. Der fremde Blick spielt zwar bei jeder Feldforschung eine grundlegende Rolle; die Dynamik jedoch, die zwischen Forschenden und Beforschten entsteht, wurde verstärkt durch den pointierten Einsatz von MitarbeiterInnen, die in anderen nationalen Schulsystemen sozialisiert wurden. Beide Methoden ermöglichen eine Kontrastierung von verinnerlichten und fremd wahrgenommenen Raumbildern und -geschichten und lassen damit Rückschlüsse auf die Repräsentationen von Schulkultur zu.Footnote 5

Im Folgenden werden am Beispiel unseres Projekts diese Methoden beschrieben und auf ihren Gewinn hin kritisch überprüft. Dabei werden wir zunächst auf das Spezifische der ethnographischen Methode eingehen und gleichsam als Rahmung die Kategorien des Fremden und des Eigenen aufgreifen. Vor diesem Hintergrund werden die Methoden der geführten Rundgänge sowie der intensivierten fremden Blicke und das ihnen jeweils zugrundeliegende Raumverständnis beispielhaft dargestellt. Der Einsatz der Methoden wird in einem abschließenden Teil daraufhin überprüft, ob er dazu beiträgt, die unterschiedlichen Rahmenbedingungen der Schulen in ihren Auswirkungen auf die Akteure zu erhellen.

2 Fremdes und Eigenes

„Fremd“ und „eigen“ sind grundlegende Ordnungsschemata im Prozess jeglicher Enkulturation. Ethnograph(inn)en durchlaufen während der Feldforschung eine Annäherung an diesen Prozess im Zeitrafferverfahren; „fremd“ und „eigen“ sind entsprechend ein Begriffspaar, das die Ethnographie als Methode der empirischen Kulturwissenschaften von Ethnologie bis Kulturanthropologie zutiefst und seit ihren Anfängen während der vorletzten Jahrhundertwende prägt. Als den „Fremden vom Dienst“ beschreibt etwa Agar (1980) die wissenschaftlich nutzbringendste Haltung der Ethnograph(inn)en im Feld, denn aus der Fremdheit können sich erst Wahrnehmungen herauskristallisieren, die die „Eigen“-Art der untersuchten Gruppe oder Organisation aufzeigen. Grundlegend für die Konzeption der Produktivität des Fremdseins ist Georg Simmels „Exkurs über den Fremden“ (1908, S. 509 ff.), welcher die dem Fremdsein inhärenten Möglichkeiten deutlich macht. Simmel spricht bereits von der „Einheit von Nähe und Entferntheit, die jegliches Verhältnis zwischen Menschen enthält“, die sich aber in der Begegnung des Fremden mit einer Gruppe verdichtet und zu einer „ganz positive[n] Beziehung, eine[r] besondere[n] Wechselwirkungsform“ wird (a. a. O., S. 509). Wehlte (1993) hat diese Wirkung unter Beizug von Todorovs Überlegungen zum Umgang mit Alterität (1985) vertiefend erläutert. Der Umgang mit dem Fremden beinhaltet Werturteile, er stößt epistemologische Fragen dazu an, was letztendlich Kenntnis oder Unkenntnis des anderen sein kann. Auf praxeologischer Ebene zeigt sich die von Simmel angesprochene Wechselwirkung als ein stetes Annähern und Entfernen (vgl. Wehlte 1993, S. 36). Es ist diese Dynamik von Nähe und Distanz, die für den Feldforschungsprozess von essenzieller Wichtigkeit ist. Im Simmelschen Sinne erlaubt die Präsenz des Fremden ein verstärktes Verspüren von Identität und Zugehörigkeit (vgl. a. a. O., S. 41). Der Fremde wird sozusagen zum Anstoß, ein Ich- oder Wir-Gefühl zu formieren und zu formulieren, weil er in seinem Anderssein die Kenntnis des Eigenen fördert. Simmels Fremder ist idealisiert: Die unschönen Steigerungen des Wir-Gefühls im sozial oder ökonomisch bedrängten Alltag, die zu Ausklammerung und Hass führen, bleiben ihm erspart.

Für Feldforschende ist es diese idealisierte Fremdheit, die temporär bleibt und nicht um Aufnahme und Integration in das Eigene bittet, die eine produktive Basis für qualitatives Forschen bedeutet. Die Fremdheit wechselt ab mit Zeiten der Annäherung und des gegenseitigen Erkennens, doch die Forschungsaufgabe und die darin implizierten Vorgehensweisen führen stets wieder von Neuem zu Distanz, aus welcher sich Feldbeobachtungen, Interviewfragen und letztendlich analytische Schwerpunkte bilden. Entsprechend ist die reflexive Wahrung der Dynamik von Nähe und Distanz eine Hauptcharakteristik des ethnographischen Ethos (vgl. Hauser-Schäublin 2003; Schmidt-Lauber 2007a), Fremdheit ist nicht nur eine der produktivsten Einstiegsebenen für das Erkennen kultureller Spezifik (vgl. Fartacek 2006), ihre Wahrung hemmt auch die Versuchung, dazuzugehören, das „going native“, das die Forscheridentität hinter sich lässt und dem Verlangen, die Einsamkeit des Fremdseins aufzugeben, nachgibt. Angesichts der erwiesenen Produktivität der angesprochenen Dynamik war es uns wichtig, Elemente in unser Projekt einzubauen, die gezielt Fremdheitsdynamiken hervorbrachten.

Zweifellos begegnen auch unsere wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen, die in anderen Regionen Deutschlands aufgewachsen sind, den beforschten Schulen mit Fremdheit – produktive Differenz erlebt die Forscherin in jedem Milieu außerhalb des ureigensten, wie dies die Kulturanthropologin Kirin Narayan unter dem Titel „Wie einheimisch ist die einheimische Forscherin?“ herausgearbeitet hat (Narayan 1993, vgl. auch Fourmiller 2009). Weston (1997) entwickelte Narayans Konzept einer hybriden Identitätsanlage der Forscher/-innen weiter, um zu verdeutlichen, wie wesentlich Identitätszuschreibung oder auch Identitätsreduktion seitens der Forscher/-innen sowohl im Feld wie in der nachfolgenden Monographie auch die Wahrnehmung der Validität der Ergebnisse mitbestimmen. Die deutsch-enkulturierten Forscher/-innen, die in unserem Projekt mitarbeiten, sind entsprechend „einheimische Ethnograph(inn)en“: Sie teilen den gesellschaftlichen Rahmen und Erwartungshorizont der AkteurInnen der beforschten Schulen, sind jedoch im Verhältnis zu den verschiedenen untersuchten Akteursgruppen und Individuen jeweils in Alter, Geschlecht und Status ebenso wie regionaler Herkunft in dynamischer Differenz verortet. Während mehr als einem Jahr der Feldforschung verschwindet zwar nicht die dem Schulganzen nicht zugehörende Position der Ethnographin, aber es wächst die Vertrautheit seitens der Ethnographinnen mit ihrem Feld, die Aufrechterhaltung der Alterität wird zwischenmenschlich erschwert, obwohl die Forscherinnen an ihren Untersuchungsorten durch ihre dem Schulalltag fernen Aufgaben fremd bleiben. Um Fremdheitsmomente zu verstärken, wurden in unserem Forschungsdesign die beiden oben genannten Erhebungsverfahren eingeplant, die einerseits die Wahrnehmung der zwei ständigen Mitarbeiterinnen überprüfend ergänzen und andererseits den untersuchten Akteur(inn)en Gelegenheit geben, ihre Innenperspektive für eine Außenwahrnehmung zu bündeln und somit die Distanz zwischen Erforschten und Forschenden punktuell in Erinnerung zu rufen.

Bei der teilnehmenden Beobachtung steht die Beschreibung sozialen Handelns innerhalb einer Organisation und Kultur im Vordergrund, konstruiert nicht aus der subjektiven Perspektive der AkteurInnen, sondern aus der Sicht der Forscherinnen. Den AkteurInnen wird nun durch geführte Rundgänge durch das Schulterrain Gelegenheit gegeben, ihre ganz persönliche Wahrnehmung an die Ethnographin zu vermitteln, sodass die Forscherinnen, obwohl sie die Schule bereits aus der eigenen teilnehmenden Beobachtung „kennen“, die Rundgänge als Fremde erleben, denen Einblick in eine durch Biographie und Status geprägte Sicht gewährt wird. Sowohl das Ansinnen eines geführten Rundgangs wie auch der Einsatz von Aufnahmegeräten verstärkt die erneute Rollenzuweisung von fremd und eigen und ermuntert die Gewährspersonen zusätzlich, ihren eigenen Raum für die Fremde aufzuschlüsseln. Diesen Rundgängen liegt ein relationaler Raumbegriff zugrunde: Die Beschreibung des materialen Raums ist eng verbunden mit den Interaktionsprozessen der Akteure mit dem physischen Raum, aber auch untereinander innerhalb dieses Raums (vgl. Löw 2001).

Als Kontrast zu dieser Innensicht wurden im Ausland sozialisierte Forscherinnen um kurze teilnehmende Beobachtungsaufenthalte in den zwei untersuchten Schulen gebeten. Für dieses Vorgehen gibt es vor allem im deutschsprachigen Raum Vorbilder, die sich der Ethnographie des Eigenen durch Hinzuziehen des Fremden bedienen und dies in den entstandenen Publikationen auch partiell reflektieren (Hauschild und Warneken 2002; Binder und Fartacek 2006). Grundlegend für diese Versuche ist ein Vertrauen auf die Produktivität der Fremd-Eigen-Dynamik. Dass diese Methode dann aber doch relativ selten eingesetzt wird, ist der Tatsache geschuldet, dass auf ethnographischen Prinzipien basierende Forschungen eher in radikal fremdkulturellen Spannungsverhältnissen kolonialer und postkolonialer Prägung durchgeführt worden sind; westliche Gesellschaften dagegen sind bisher eher selten unter dieser Perspektive betrachtet worden, obwohl die Prinzipien der im außereuropäischen Bereich entwickelten Feldforschung in verschiedene, überwiegend qualitativ arbeitende Disziplinen Eingang gefunden haben. Die in unserer Studie temporär mitarbeitenden, fremdkulturell sozialisierten Forscherinnen erlebten deutsche Schulen in gesteigerter Form als etwas Nicht-Vertrautes und verweisen in ihren Beschreibungen auf Dinge, die den AkteurInnen selbst, aber auch uns, die wir in das System eingebunden sind, nicht mehr auffallen. Ihre Ausführungen, die sie nach einer Woche der Beobachtungen in den Schulen gemacht haben, wurden in einem locker geführten, mehrstündigen Gespräch aufgenommen, um die Spontaneität ihrer Äußerungen statt eines sprachlich disziplinierenden schriftlichen Berichts abzubilden. Dass diese zweite Methode der vermehrten Reflektion und Verfeinerung bedarf, zeigen die Ergebnisse beider methodischer Zugriffe, die im Folgenden vorgestellt werden.

3 Geführte Rundgänge

Klassische ethnographische Monographien zeigen, dass Forscher/-innen zu Beginn ihres Feldaufenthaltes beständig unterwegs waren: Das Terrain von einem Dorf oder einer Siedlung sollte skizziert werden, die Routinegänge der beforschten Individuen und Gruppe wurden begleitet, um dadurch ein Gefühl für Distanzen und Raumverständnis zu gewinnen. Diese Kartierungen auf der Grundlage erster Daten dienten nicht zuletzt dem Selbstwertgefühl der Forscher/-innen, die zu Beginn vielleicht die Sprache noch kaum beherrschten und erst sukzessive das Vertrauen von Gewährspersonen gewannen (vgl. Stocking 1985). Oft trugen diese Forscher/-innen auch komplexe Fragelisten mit sich; sie dienten zwar der Datenbeschaffung, betonten aber darüber hinaus auch die Wissenschaftlichkeit des Unterfangens und milderten damit das Fremdheitsgefühl und die Identitätsunsicherheit der Forschenden etwas: Die „Angst des Forschers vor dem Feld“ (Lindner 1981) konnte mit derartigen Mitteln in Schach gehalten werden. Nur wenig wurde davon berichtet, was während dieser Gänge geredet wurde und wie sich Gewährspersonen offenbarten. Dabei ist gemeinsame Bewegung eine ausgezeichnete Möglichkeit, um „die Kunst des Redenlassens“, wie Schmidt-Lauber (2007b) das qualitative Interview umschreibt, zu entfalten. Dieser Ansatz wird in der Kulturanthropologie genutzt: So hat Eisch (2007, S. 148 ff.) diesen Gedanken aufgenommen und unter dem Begriff „Wahrnehmungsspaziergänge“ in der Erforschung interethnischer Räume und Grenzen das Gehen produktiv eingesetzt, sowohl angeregt und begleitet von Gewährspersonen als auch im Alleingang, um so die in einer Landschaft verhafteten Zeichen kultureller Zugehörigkeit aufzunehmen. Der Kulturgeograph Winkler (2002, S. 21) nutzt den „kommentierten Spaziergang“, den er als Methode aus den Sound Studies weiterentwickelt hat, zur Generierung von Perspektiven auf Leben, Erinnern und Alltagsästhetik im Raum: „Der kommentierte Spaziergang justiert die Beziehung zwischen Forscher und Interviewtem, indem er die Kompetenz der Alltagswahrnehmung des Letzteren betont“ (Übersetzung: R. B./M. K.). Die Bewegung entlang habitualisierter Pfade und der lockere, nur wenn notwendig durch Fragen mitgestaltete Spaziergang bringe, so Winkler, die Äußerung von verinnerlichter Raumwahrnehmung in Verbindung mit Lebensgefühl hervor.

In unserem Forschungsprojekt wurde der Beginn der Feldforschungsphase für einen Einblick in das zu beforschende räumliche Terrain zunächst in klassisch begehender Weise genutzt: An den Tagen der offenen Tür ließen sich alle an dem Projekt beteiligten Forscherinnen gemeinsam mit Eltern und zukünftigen Schüler(inne)n von gegenwärtigen Schüler(inne)n durch die Schulen führen. Auch die an den jeweiligen Schulen angebotenen kurzen Einführungsgänge durch die Schulen wurden wahrgenommen und durch eigenes Durchstreifen von Fluren, Stockwerken und Pausenhöfen komplettiert. Das alles fand seinen Niederschlag in Feldtagebüchern. Aus diesen Notizen lässt sich die zunehmende Verortung der Forschenden im Feld ablesen. Erste Eindrücke zu Raumaufteilung und Größe, Nutzung von Glas und Farben, Engen und Weiten werden dokumentarisch notiert und mit eigenen, vorläufigen Wertungen versehen: „Unten auf dem Hof fiel mir noch auf, wie die Schule sich irgendwie an den Hügel schmiegt und von der Mauer umgeben wird“, wird an einem der ersten Tage für die eine Forschungsschule festgehalten (Feldnotizen Forschungsschule A, Katrin Blümel). In der anderen Schule notierte sich die Forscherin am ersten Forschungstag: „Rechts von mir schlängelt sich ein durch Ecken abgeteilter Sitzbereich entlang des breiten Flurs, links von mir befindet sich eine Sitzecke mit einem Tischkicker. Alles strahlt den robusten, pflegeleichten Charme eines Gebäudes aus, in dem sich täglich viele Menschen aufhalten: abwischbare Flächen, Linoleum. Die Atmosphäre wirkt auf mich etwas weniger klinisch durch die überdimensionierten bunten Farben an den Wänden und die übermannsgroßen Pflanzen, die sich an der Fensterseite aufreihen“ (Feldnotizen Forschungsschule B, Michaela Nietert). Im Laufe der Monate rücken beforschte Gruppen und Initiativen, Schulhof und Klassenzimmer sowie Interaktionen in diesen Räumen unter stets dichterer Nennung spezifischer Protagonisten in den Vordergrund und das Terrain wandelt sich zum habitualisiert wahrgenommenen Rahmen.

In einer zweiten Feldforschungsphase erzeugten sodann die bereits beschriebenen geführten Rundgänge durch schulinterne Akteure/-innen unter dem Motto „Zeig mir deine Schule“ das Fremdheitsmoment erneut. Die Ethnographin lud für die Generierung dieses Datensatzes Mitglieder jeder Statusgruppe ein, sie durch die Schule zu führen, entlang der Wege, die die jeweiligen Interviewpartner/-innen selbst wählten. Es wurde ein für die jeweiligen Gesprächspartner günstiger Zeitpunkt und Ort für den Rundgang vereinbart. Die Gewährsperson wurde mit einem leichten, tragbaren Aufnahmegerät und einem kleinen, an Jacke oder Hemd zu befestigenden Mikrofon ausgestattet und dazu eingeladen, der Ethnographin „die Schule zu zeigen“. Durch diese allgemeine Formulierung war den Personen freigestellt, welche Route dieser Rundgang nehmen sollte. Schüler/-innen und Erwachsene hatten Gelegenheit, ihre eigenen präferierten Wege und Orte in den Rundgang einzubauen und während des Gehens zu erläutern, wo man sich gerade befand. Der Ansatz erneuert nicht nur das Zugeständnis, dass die Ethnographin ortsfremd ist. Es wird auch hervorgehoben, dass die Gewährspersonen jeweils eine dynamische, ureigene Wahrnehmung ihrer Schule entwickelt haben, die sich einerseits im für das Gespräch gewählten Weg durch Räume und Terrain äußert, andererseits aber vor allem auch in den Topoi, die in diese Schulführung einfließen.

Aus der Rundgangserfahrung und deren transkribierten Aufnahmen lassen sich nachfolgend Erkenntnisse gewinnen, die den in unserem Forschungsprojekt zentral zu erarbeitenden Begriff der Schulkultur verdichten. Insbesondere erlaubten die Rundgänge, Örtlichkeit und Raum als eine den Schulalltag und damit die schulkulturelle Spezifik zutiefst prägende Konstante zu erkennen. Der Gewinn dieser Methode ist deshalb doppelt zu veranschlagen:

  • Sie erschließt die räumliche Topographie in der Unterschiedlichkeit, wie sie sich unterschiedliche AkteurInnen (Schüler/-innen, Lehrer/-innen, Schulleiter/-innen, Sekretärinnen, Hausmeister und schulisch involvierte Eltern) angeeignet haben. Im Vergleich etwa zur Methode des Mental Mapping (vgl. Enders 2005), die Probanden dazu auffordert, ihre räumlichen Vorstellungen zu skizzieren und in die zweidimensionale und somit reduktionistische Perspektive in der Tradition von Landkarten zu überführen (vgl. Conrad 2002), teilt sich der Ethnographin die Raumwahrnehmung während des Rundgangs dreidimensional mit und wird sozusagen körperlich-sinnlich mit der Gewährsperson nachvollzogen (vgl. Bendix 2006). Damit wird ein Raumverständnis deutlich, das über die räumliche Topographie hinausgeht und Befindlichkeiten und Interaktionen einbezieht.

  • Die Rundgänge sind zugleich ein Gesprächsanlass, der sich vom örtlich fixierten, sitzend durchgeführten Interview stark unterscheidet. In der Bewegung des Gehens einerseits und der Koppelung mit der Szenerie andererseits werden Gesprächsimpulse erzeugt, die assoziativ auf ein breites Spektrum von Topoi zugreifen, wie sie in einem Leitfadeninterview kaum in gleicher Lebhaftigkeit zutage getreten wären. So werden Bereiche erschlossen, die dicht an der lebensweltlichen Erfahrung der Individuen liegen und soziale Praxen einbeziehen, die mit den jeweiligen Räumen verbunden sind. Menschen erfahren ihren kulturellen Kontext holistisch; bauliche Grenzen und Öffnungen, versperrte und offene Blickwinkel prägen das körperliche Befinden und damit die Kultur. Die teilnehmende Beobachtung ebenso wie die Interviews werden deshalb durch die geführten Rundgänge ideal ergänzt. Wir sehen in dieser Erhebungsmethode einen großen Gewinn für die Erfassung von Schulkultur, aber auch für die organisationskulturelle Forschung insgesamt, denn die Analyse der Rundgänge führte zu Fokussierungsmetaphern (vgl. Bohnsack 2006), die das räumlich-körperliche Befinden, das sich Akteuren im Schulalltag einschreibt, hervorbrachte.

Durchgeführt wurden die Schulrundgänge in beiden Forschungsfeldern mit der Schulleitung, Schüler(inne)n, Lehrer(inne)n, administrativem Personal, Hausmeistern sowie Eltern, die sich partiell in den Schulalltag einbringen. Zeitlich wurden sie in der zweiten Feldphase angesiedelt. Vorausgegangen war eine erste Phase der teilnehmenden Beobachtung, die die Organisations- und Arbeitsebenen der Schulen in den verschiedenen Tätigkeitsfeldern dokumentierte und die Themen „Lernen und Lehren“, „Verwalten und Planen“, „Dimensionen des sozialen Miteinanders“ sowie „festliche Passagen in und aus der Schulgemeinschaft“ erschloss. Diese erste Feldphase, geleitet von der Wahrnehmung der Ethnographinnen, ermöglichte auch eine Auswahl von Personen, die ein repräsentatives Sample für die Rundgänge ergeben würden. Das Ansinnen der Projektmitarbeiterinnen, die bisher das Schulgelände weitgehend aus ihrer eigenen Perspektive erschlossen hatten, sich von „Einheimischen“ durch die Schule führen zu lassen, wurde sehr positiv aufgenommen, da es die Anerkennung der Expertise der jeweiligen Personen signalisierte und den eigenen Außenseiterstatus aufrechterhielt bzw. keinen Anspruch erhob, gleichermaßen im Schulleben beheimatet zu sein.

Die Rundgänge wurden aufgenommen und transkribiert. Erste Ergebnisse zeichnen sich in einer vorläufigen Auswertung ab, die auf das relationale Raumverständnis abhebt. Wir fassen sie hier unter dem Begriff „Topographien des Raums“. Diese Topographien unterscheiden sich – was sicher nicht überrascht – je nach Akteursgruppe, Alter sowie Involvierungsgrad der jeweiligen Person. Festgemacht am Beispiel der Lehrenden lässt sich zeigen, dass junge Lehrer/-innen sich anders verorten als Lehrkräfte, die sich schon seit mehreren Jahrzehnten vor Ort befinden und die sich intensiv mit einem spezifischen Schulanliegen, wie z. B. dem internationalen Austausch, befassen oder ihren Aufgabenbereich vom Lehren zum Leiten und Verwalten verschoben haben. Gleichzeitig ergeben sich hieraus aber auch Konstanten, die in jeder Akteursgruppe eine Rolle spielen, sich jedoch in jeder Schule unterschiedlich entfalten. Dabei zeigte sich, dass die reflektierte Befassung mit dem eigentlichen Fokus von Schule – dem Lehren und Lernen – nur seitens der Akteursgruppe der Lehrenden räumlich thematisiert wurde, und dies umso deutlicher, je länger eine Person an der Schule tätig war. Die konkrete Befassung mit Architektur als wesentlichem, das Ambiente determinierenden Faktor blieb gleichermaßen bei anderen Akteursgruppen eher implizit, während gerade leitende Schulmitglieder hier sehr dicht und komplex kommentierten und darauf abhoben, welche Interaktionsvorstellungen der Planung einzelner Bereiche des Schulgebäudes zugrunde lagen.

Topographie des Wohlfühlens – von Essen, Licht und Ruhe. Je nach Alter und Status werden die positiv belegten Ecken und Räume des Schulgeländes anders gewichtet. Für die jüngeren Kinder sind Kuschel- und Spielmöglichkeiten wie etwa ein rotes Sofa in der Schulbibliothek sowie Orte des Essens und Essenserwerbs ein zentrales, positiv konnotiertes Thema. Zwar bezweifeln manche Kinder – und dies ähnlich wie manche der während eigener Rundgänge befragten Mütter – die Essensqualität; dennoch ist die Vordergründigkeit von Mensa und Teestube in den Kinderrundgängen nicht übersehbar; die Ausgestaltung wird erwähnt, Tricks, wie man am besten schnell zu seinem Essen kommt, fallen beiläufig, und der zu Pausenzeiten geöffnete Kiosk gibt Anlass zu Kommentaren. Ein Fünftklässler zeigt mehrmals auf den Kiosk und seine Klassenkameradin sagt: „Wo es nur Brötchen gibt, also Schokobrötchen.“ Und der Junge korrigiert sofort: „Ja, Matschbrötchen oder Käsebrötchen. Müsli gibt’s jetzt auch, im Sommer, weil das wurde beim letzten Schülerrat besprochen“ (Rundgang mit zwei Fünftklässlern, Forschungsschule B, S. 14).

Lehrkräfte verzeichnen mit zunehmenden Dienstjahren eine differenzierte Kartographie der Orte, in denen sie das, was essenziell für ihren Arbeitstag ist, für sich ausfindig gemacht haben: Ruhe, Rückzug, Friedlichkeit. An der einen Schule ist es die Helligkeit der Räume und der Weitblick über die Stadt, der sie in stillen Momenten aus dem Schulgeschehen hebt und zumindest von einem Lehrer der Naturwissenschaften als beglückendes Privileg erfahren wird (Rundgang mit einem Lehrer, Forschungsschule A, S. 5), an der anderen sind es kleinere, kaum frequentierte Räume, in denen man sich zu zweit oder dritt auf ein mitgebrachtes Mittagsbrot einfindet und damit die Mensa umgeht.

Solche Räume sind gleichzeitig Ausgangspunkt für eine Topographie der Anerkennung. Eine der beiden Forschungsschulen profiliert sich seit Jahrzehnten mit internationalem Austausch und Partnerschaft, u. a. mit Entwicklungsländern. Lehrkräfte, die sich auf diesem Gebiet besonders einbringen, verfügen über den Raum, der aus solchen Sonderprojekten entstanden ist, hier in doppelter Weise verstanden. Zu dem materialen Raum haben sie einen eigenen Schlüssel, zugleich eröffnet ihnen das aber auch einen „Freiraum“, den sie nutzen können, indem sie mit dem materialen Raum in Interaktion treten, ihn ausstatten mit Inventar und Wandschmuck – Stoffe aus Afrika, Bilder und Geschirr aus China reflektieren Reisen im Dienst der Schule und der Sache. Eine leitende Funktion innezuhaben, drückt sich ebenfalls in räumlicher Eigenentfaltung aus. So meint ein Schulleiter an derselben Schule, dessen Büro mit einer farbigen Sitzecke ausgestattet ist, dass er zwar wohl noch etwa zu einer Kaffee- und Kuchenrunde ins Lehrerzimmer gehe, ansonsten aber die Abgeschiedenheit, die ihm durch einen eigenen Raum zuerkannt wird, auch genießt.

An derselben Schule finden sich in verschiedenen Bereichen Wandmalereien von Schülergruppen: Abiturient(inn)en verewigen sich und bleiben quasi auf dem Gemäuer inskribiert – was insgesamt die gestaltend-anerkennende Einbeziehung der Kinder und Jugendlichen an dieser Schule wiedergibt. Auch an der zweiten Forschungsschule hinterlassen Abiturient(inn)en Markierungen wie etwa einen „Stein der Weisen“, eine Sitzbank oder eine inzwischen sehr große Kastanie. Es sind Gegenstände, die nichts Bestehendes verändern, sondern die hinzugefügt und organisch in das Schulgelände eingepasst werden, so wie das alte, unter Denkmalschutz stehende Gemäuer um moderne Gebäudeteile ergänzt worden ist.

Die Topographie der Arbeit und Interaktion ist mit Sicherheit die komplexeste räumliche Assoziationsfläche. Es gibt einige wenige leitende Lehrkräfte, die die Eignung des materialen Raums und des vorhandenen Terrains sehr differenziert mit deren pädagogischen und sozialen Potenzialen verknüpfen – sie reflektieren die in die architektonische Planung eingegangenen pädagogischen Ideen und wissen sehr genau, was sie an ihrer Schule haben. Andere Akteursgruppen greifen bestimmte Aspekte heraus, wie etwa die räumliche Verortung des freiwilligen Engagements in Fair Trade und internationaler Partnerschaft oder die einzelnen Klassenzimmern zugeordneten Gartenbereiche, die sowohl von Lehrkräften wie Kindern weit stärker im Rundganggespräch thematisiert wurden als die Unterrichtsräume selbst. AG- oder Gremienarbeit, wie sie in beiden Schulen in zunehmender Dichte ansteht, wurde zwar inhaltlich beleuchtet, aber räumlich nur in ihrer Zielrichtung und nicht in ihrer Verortung thematisiert.

Eine Topographie der Ordnung und Kontrolle wurde in beiläufiger Weise von fast allen kleinen und großen Rundgang-Experten erläutert, etwa wenn sie die Vielfalt und Logik von Anschlagbrettern und Aushängen detailliert erklärten. Dort finden sich Ankündigungen, Anordnungen, Weisungen für die Schule, die Woche, den jeweiligen Tag. Fest angebrachte Schilder oder auch der Kasten, welcher zu Reklamationen zu Mensa und Essen einlädt, blieben unerwähnt. Betont wurden Ordnung und Kontrolle – vielleicht nicht überraschenderweise – durch den Akteur, der eine Schule durch seinen Berufsalltag hauptsächlich aus einer Ordnungsperspektive betrachtet, nämlich den Hausmeister. Er begann den geführten Rundgang sinnfällig an dem Tor: „[…] und ich fange damit eigentlich an, das ist eigentlich schon im Kopf drin, automatisch, ohne groß nachzudenken, dass ich erstmal die Schule äh aufschließe“. Das Aufschließen folgt einer bestimmten Reihenfolge, fast schon einem Ritus, anschließend wird ein großer brauner Eimer für Müll und Kippen aufgestellt: „[…] weil ich der Meinung bin, dass der Eingang eines Gebäudes, egal, ob das ein Haus ist, eine Behörde, ein Amt, eine Schule, immer aussagekräftig ist für das, was hinter dem Tor ( ) herrscht“ (Rundgang mit einem Hausmeister, Forschungsschule A, S. 3). Die Schule ist seine Arena, in der er für Ordnung und Sauberkeit sorgt, die er kontrolliert. Die Räume, die er begeht, erinnern ihn an seine Kontrolle, seine Auseinandersetzungen mit Schülern, die die Räume absichtlich verdrecken, seine Bemühungen, Schüler, die etwas zerstört haben, zur Verantwortung zu ziehen, seine Versuche, ihnen wenigstens die Sekundärtugenden – Pünktlichkeit, Reinlichkeit, Höflichkeit – abzufordern, aber auch an seine Hilfsbereitschaft und sein Eingreifen zugunsten schwacher Schüler. Die Methode des geführten Rundgangs zeigt hier ihre Potenzialität: Der Hausmeister tritt mit den Räumen gleichsam in Interaktion und beschreibt dabei seine subjektiven Gefühle wie sein pädagogisches Konzept. Er ist ein Schulakteur, der seine Interaktionen mit den einzelnen Orten in biographische Reflexionen einbindet.

Wesentlicher für die größeren schulischen Akteursgruppen scheint hingegen die Topographie der Scheu und der Ambivalenz. Kinder, die noch relativ neu an einer Schule sind, begegnen dem Terrain mit einem funktionalen Auge und kennen diejenigen Bereiche besonders gut, in denen sie sich aufhalten müssen oder dürfen. Entsprechend gibt es Orte, die nicht selbst genutzt werden und an denen Altersunterschiede dazu führen, dass sie gemieden werden. Zwei Fünftklässler weisen auf ihrem Rundgang etwa auf die neu renovierten Toiletten in einem Trakt hin: „Hier sind die neuen Toiletten, ( ) die etwas besser sind. Sind nicht ganz so ekelig“ (Rundgang mit zwei Fünftklässler[inne]n, Forschungsschule B, S. 5). Sie liegen aber bei den Klassenzimmern der 6., man geht da als Fünftklässler dann doch eher nicht hin oder, wie ein Mädchen meint, man vermeidet es möglichst gänzlich, in der Schule auf die Toilette zu gehen. Einige Personen – vor allem die Kinder – assoziieren mit manchen Orten des Terrains ungute Erfahrungen, etwa einen Ball, der im Grenzbereich zwischen spielenden Altersstufen verloren ging, oder einen Ausrutscher auf Tierexkrementen, der zu Fall, Schmerz und Blamage vor den anderen Jungen führte. Eine Fünftklässlerin zeigt in ihrem Rundgang auch die emotionale Verwobenheit von weniger guten Orten mit sich herausbildenden Geschlechterwahrnehmungen: Bei den Tischtennisplatten z. B. mag dieses Kind nur kurz verweilen. Hier spielen meist nur die Jungen und lassen auch auf Anfrage die Mädchen nicht mitspielen. Ein gewisser Ennui, auch ein mehrfach besetztes Gefühl des Gefährdetseins klingt aus ihren Worten. Die Energie der spielenden Jungen, die dann auch nicht auf einzelne Mädchen achten, flackert auch an anderen Stellen des Rundgangs als kaum reflektierter Wahrnehmungsfaktor auf. Es gibt auf dem Gelände Orte, wo sich Jungen sozusagen ballen, und sie entlocken der Schülerin die eine oder andere Assoziation, die wenig mit dem Schulgelände, aber viel mit dem Verhältnis der Geschlechter im fünften Schuljahr zu tun haben. So resümiert sie an einer Stelle wie folgt: „Also mit Jungs@kann man eigentlich nicht so viel anfangen@zumindest dann nicht, wenn die Jungs, die Jungs, die stellen sich immer richtig blöd an“ (Rundgang mit einer Fünftklässlerin, Forschungsschule A, S. 8). So etwa beim Schachbrett auf dem Schulhof, das eigentlich mit großen Spielfiguren bestückt wäre, aber eine Lehrkraft hat die entfernt, weil die Jungen damit Unfug getrieben haben.

Andere Räume sind im eigentlichen Sinne des Wortes ambivalent besetzt. So wohnen in der Forschungsschule A über den Chemiesälen für die Oberstufe, wo früher ein Wohnheim war, einer der Hausmeister und ein Lehrer. „Äm ja sind hier halt die Chemieräume. Da oben wohnen Lehrer, das ist manchmal n bisschen gruselig. Also einer zumindest, und äm@naja, aber@“ (Rundgang mit einer Elftklässlerin, Forschungsschule A, S. 3). Die Vorstellung der ständigen Anwesenheit des Lehrers, die Vermischung seiner privaten Räume mit den von den Schüler(inne)n genutzten Schulräumen macht die 16-jährige Hanna offensichtlich etwas ratlos. Wer ist es, der das Schulgebäude bei den Klassenräumen besetzen kann?

Auch für Eltern, die sich in der Schule engagieren, erschließt sich das Terrain nicht in Gänze. Während in der einen Forschungsschule Mütter sich selbst sehr stark als Mitgestalterinnen von Mensa, Kaffeetheke oder etwa auch der Bibliothek betrachten und mit Souveränität durch die Schule führen, beschränkt eine Mutter, die in der anderen Forschungsschule eine Teeküche betreut, ihren Radius auf Gänge zwischen ihrem Arbeitsbereich und dem Sekretariat; das Lehrerzimmer ist für sie emotional bereits außerhalb der persönlichen Reichweite (vgl. Rundgang mit einer Mutter, Forschungsschule B, S. 3). Zudem sind, wie bereits erwähnt, sowohl die Teestube als auch andere Räume dieser Schule stark durch die Wandmalereien von Schüler(inne)n geprägt, die Inbesitznahme seitens der Kinder ist also ausgeprägt, die Rolle von Eltern nur wenig eingreifend.

Manche Aspekte des Terrains sind also ambivalent bis negativ belastet und auch hier kristallisieren sich differente Fixpunkte bei den beiden Schulen heraus. Bei der einen Schule vertun sich die Rundgänger in der unübersichtlichen Anlage ihrer Schule noch nach Jahren, was sie zwar mit einem gewissen Amüsement registrieren, doch klingt auch Resignation aus Kommentaren zum Chaos, das durch beständige Umbaumaßnahmen entsteht. Vieles könnte noch verschönert werden und eine langjährige Lehrkraft merkt an, dass sie einen Ausgang konsequent vermeidet, weil sie ihn ästhetisch vernachlässigt findet. In der anderen Schule sind es Einzelpunkte, die vor dem Hintergrund eines gewissen Stolzes auf ein attraktiv gelegenes Schulgelände eher nur am Rande Erwähnung finden: „Ja, dieser Eingangsbereich“, so ein Lehrer, „ist so ein kleines Nadelöhr, da nur eine Tür auf ist, ist morgens ( ) ein kleiner Hemmschuh, weil es immer ein paar Leute gibt, die raus wollen, paar Leute, die rein wollen und äh das könnte in meinen Augen etwas besser sein, ich hätte es etwas großzügiger gewünscht äh […] also vor der ersten Stunde ist das doch hier häufig sehr sehr eng, da staut sich das, da muss man sich da durchwuseln“ (Rundgang mit einem Lehrer, Forschungsschule A, S. 4).

Um die Möglichkeiten der Methode der geführten Rundgänge zu verdeutlichen, ist es angezeigt, auch in Projekten mit anders gearteter Fragestellung damit zu arbeiten. Im Projekt Schulkultur haben sich die Rundgangsdaten in der Gestaltung der Interviews, die in der darauf folgenden Feldphase geführt wurden, als sehr wichtig erwiesen. Was wir in der hier nur ansatzweise durchgeführten Analyse gezeigt haben, ist die Verknüpfung von Raum, Praxis und habitualisiertem Erleben. Die für die jeweilige Schule kennzeichnende Verortung dieser Trias lässt sich in an verschiedenen Schulen erkennbaren Topographien verallgemeinern und als Merkmal von Schulkultur etablieren. Gekoppelt mit der initialen teilnehmenden Beobachtung konnten Themenblöcke herausgefiltert werden, die durch die auf den Rundgängen gewonnene Innensicht der Schulmitglieder und die Außenperspektive der Ethnographinnen im Interview vertieft wurden. Die wesentliche methodische Erkenntnis, die hier hervorgehoben werden soll, besteht in der Produktivität des geführten Rundgangs als Instrument für die Generierung von Querschnitten institutions-, status- und biographiegeprägter Wahrnehmung und Befindlichkeit innerhalb einer Schule. Anhand der so gewonnenen Daten lässt sich ein Gutteil an Erkenntnissen zu Kernfragen unserer Forschung eruieren: Schulen generieren eine kulturelle Spezifik, die sich aus dem dichten In- und Nebeneinander von unterschiedlich motivierten und beauftragten Akteursgruppen und deren Interaktion nicht nur miteinander, sondern auch mit dem räumlichen Schulkomplex ergibt. Dieses institutionelle und räumliche Verweben bringt Habitus und Erwartungshorizonte hervor, die sich, bei aller Dynamik des reformfreudigen Schulwesens, traditionalisieren. Neuerungen, seien sie seitens der Schule gewünscht oder eher auf allgemeine, großflächige Reformmaßnahmen von Bund und Ländern zurückzuführen, sind immer mit diesem schuleigenen Habitus konfrontiert. Sowohl die Umsetzung wie auch das Leben mit einer Schulreform wird entsprechend je nach Schulkultur unterschiedlich verarbeitet und integriert und wird daher auch unterschiedliche Resultate zeitigen.

Mithilfe der geführten Rundgänge wurden Topographien herausgearbeitet, die die Gefühle und die Assoziationen von Akteur(inn)en in der Schule aufgenommen und damit ein soziales Raumverständnis offenbart haben: Das Wohlbefinden der Akteure und Akteurinnen, ihre Anerkennung, ihre Arbeit, ihre Kommunikation, aber auch ihre Scheu schlagen sich nieder in dem, was sie von der Schule zeigen, und in der Art und Weise, wie sie es kommentieren. Das „Eigene“ der Schulmitglieder, gleichsam die Innensicht, und die „Fremdheit“ der Forscherinnen, denen einzelne Schulmitglieder ihre subjektive Sicht visuell und verbal demonstriert haben, sind hier eine Synthese eingegangen und haben ein Bild von den beiden Schulen entstehen lassen, das die verschiedenen Topographien betont. Diese Topographien bilden einen wichtigen Baustein der Gesamtsichtweise auf die jeweilige Schulkultur.

4 Außenperspektiven: Fremdkulturell sozialisierte Blicke

Eine zweite Sichtweise, wiederum in einer methodischen Zugangsweise festgehalten, kommt hinzu: die der fremden Blicke durch Forscherinnen, die ihre schulische Sozialisation nicht in Deutschland erlebt haben. Wir hatten für diesen Zugang drei fremd-enkulturierte Personen gebeten, als Beobachterinnen jeweils zwei bis drei Tage in den beiden Schulen zu verbringen, ihre Eindrücke stichwortartig festzuhalten und uns darüber mündlich zu berichten. Ihre Ausführungen wurden aufgenommen und transkribiert.

Der methodische Zugang über die fremdkulturell sozialisierten Blicke war jedoch nicht einfach: Voraussetzung für den Einsatz der Fremdbeobachterinnen war, dass sie zwar „fremd“ genug waren, d. h. ihre gesamte Schulzeit, teilweise auch noch ihr Studium, in einem anderen nationalen System durchlaufen hatten, aber dennoch mit guten Deutschkenntnissen aufwarten konnten. Diese Kriterien haben die Auswahl eingeschränkt. Die drei Beobachterinnen, die wir für diese Aufgabe gewinnen konnten, stammen alle aus osteuropäischen Ländern (Ungarn, Polen, Russland), befinden sich in ihrer Promotionsphase bzw. haben ihre Dissertation gerade abgeschlossen, sind Ende dreißig und gehören damit einer Generation an, deren Schulzeit knapp zwanzig Jahre zurückliegt. Die Auswahl, die weitgehend pragmatischen Gründen geschuldet war, ist nicht repräsentativ, trägt aber dennoch zur „Verfremdung“ unserer Analysen bei. Die Berichte dieser Forscherinnen bieten gleichsam komplementär zur erlebten und gefühlten Innensicht der Schulmitglieder eine Außensicht. Ihre Ausführungen über das einwöchige Eintauchen und die Beobachtungen in unseren Forschungsschulen sind von ihren gegenwärtigen Assoziationen bestimmt, letztlich aber bezogen auf ihre eigene schulische Enkulturation, die zu einer anderen Zeit und an einem anderen Ort stattgefunden hat: Räumlichkeiten und Kultur unserer Forschungsschulen werden hier als etwas Fremdes vor dem Hintergrund der Erfahrungen in der eigenen Schulzeit erlebt.

Schwierig ist bei dem Einsatz dieser Methode die Vermittlung der Fremdheit. Während eines zeitlich stark limitierten Feldaufenthaltes entwickelt sich nicht die in der Aufgabe der teilnehmenden Beobachtung verhaftete Dynamik von Nähe und Distanz mit den schulischen Akteuren. Es überwiegt die Distanz und die Erwartung unseres Teams, durch die „fremden Blicke“ in unserer vielleicht bereits zu nahen Auseinandersetzung mit unseren Forschungsschulen korrigiert zu werden, erfüllte sich nur bedingt. Hinzu kam, dass im Unterschied zu den geführten Rundgängen die Forscherinnen ihre Eindrücke nicht unmittelbar artikulierten, sondern sie uns erst nach Ablauf der einwöchigen Beobachtungsphase mitteilten, teilweise schon vor dem eigenen Erfahrungshintergrund als Sozialwissenschaftlerinnen reflektiert, teilweise auch durch Literatur zur Schulgeschichte ergänzt. Vermutlich würde es sich, um diese Methode gerade für Schulethnographie produktiv einsetzen zu können, eher empfehlen, eine Schule sowohl aus deutsch-deutscher wie auch aus nichtdeutsch-deutscher Perspektive teilnehmend zu beobachten, also zwei Forscher/-innen mit derselben Aufgabenstellung nebeneinander einzusetzen, um dadurch die Perspektiven zu schärfen; ein solches Vorgehen war zwar geplant, hatte sich jedoch nicht realisieren lassen.Footnote 6 Dennoch konnten – insbesondere in der Koppelung mit den aus der Perspektive der schulischen Akteure über die Rundgänge ermittelten Topographien – Außensichten auf den Schulkulturkomplex wahrgenommen werden, die bei den deutschen Forscherinnen keineswegs so deutlich im Bewusstsein waren.

Die drei Gewährsfrauen richteten ihren Blick zunächst sehr stark auf die Wahrnehmung der Räume. Die materiale räumliche Anlage einer Schule bildet gemeinhin die Grenze zwischen dem Lern- bzw. Arbeitsfeld Schule und der Außenwelt. Aber Räume schreiben sich auch in die alltäglichen Bewegungen der Körper und Sinne ein; sie sind Gedanken- und Gedenkräume, Produktions- und Reproduktionsräume. Raumstrukturen und Raumerfahrungen haben Auswirkungen auf die in diesen Räumen agierenden Menschen (vgl. Liebau et al. 1999, S. 9) und sie bestimmen die Eindrücke derer, die sich der Schule nähern. Die Räume der beiden Schulen, sowohl materiell als auch die mit ihnen „assoziierten emotiven Imaginationen“ (Kellermann und Wulf 2009, S. 175), stehen bei den drei Fremdbeobachterinnen im Vordergrund. Zu prüfen ist, ob sie mit den oben aus den Rundgängen erarbeiteten Topographien in Verbindung gebracht werden können.

Auffallend ist, dass von allen drei Fremdbeobachterinnen an einer unserer Schulen die Topographie der Ordnung und Kontrolle betont wird, komplementär ergänzt durch eine Art Topographie des Schutzes und der Geschlossenheit. Die Schule befindet sich, wie eine unserer Forscherinnen ausführt, die ihre Eindrücke mit Literatur zur Stadtgeschichte untermauert hat, am Ort eines früheren Klosters, einzelne unzerstörte Elemente sind in den heutigen Schulbau integriert, ein Tor mit christlichen Elementen, ein Portal, auf dem der Erzengel Michael den Teufel bezwingt und als Hüter des Paradiestores – wie auch des Schultores – dargestellt wird (vgl. Ulla, Forschungsschule A). Umgeben wird das Schulgebäude von einem Wall, der ebenfalls als Schutz gegen äußere Einflüsse gesehen werden kann. Die Beschreibung einer zweiten Fremdbeobachterin verstärkt diesen Eindruck von Schutz und Geschlossenheit, wenn auch mit ganz anderen Assoziationen: Sie fühlt sich an ein Pionierlager erinnert und nimmt das Oberstufengebäude als Wohnhaus wahr (Bea, Forschungsschule A, S. 26 f.) – ein Eindruck, der sich mit Blick auf die Baugeschichte bestätigt: Der Oberstufentrakt ist in der Tat aus einem Wohnheim entstanden. Auch die dritte Beobachterin unterstützt den Eindruck von Ordnung und Kontrolle, indem sie ihr Betreten der Schule besonders betont: „Ich bin eingetreten in die Schule“. Nachdem sie den kontrollierenden Hausmeister überwunden habe, beschreibt sie den Eintritt fast ritualhaft als Aufnahme: „Dass ich da einfach, mir viel klarer ist, wo die Grenzen sind, und deshalb habe ich mich da auch wohler gefühlt, weil ich sofort wusste, wie ich wahrgenommen werde und das wurde mir auch sofort direkt kommuniziert, dass sie mich sofort auch aufgenommen haben“ (Nina, Forschungsschule A). Lehrer und Schüler grüßen sie denn auch, ein wichtiges Indiz der Akzeptanz. Das hier artikulierte Gefühl von Grenzen, Kontrolle, Schutz und Geschlossenheit in Forschungsschule A wird offensichtlich nicht nur als Ergebnis der Architektur wahrgenommen, sondern auch des Kommunikationsverhaltens einzelner Schulakteure. Zugleich zeigt sich bei der dritten Beobachterin, dass bei ihr das Moment der Fremdheit sehr schnell weicht; selbst pädagogisch tätig, macht sie sich die Forschungsschule A zu eigen und identifiziert sich mit ihr.

Ein zweiter Aspekt, der den drei Fremdbeobachterinnen auffällt, ist die Offenheit, die innerhalb der schützenden Geschlossenheit praktiziert wird. Erneut gehen sie alle drei von ihren räumlichen Eindrücken aus: „[…] also die Türen dieser Klassenräume sind zum Teil verglast, dass man auch so irgendwie reinschauen kann […] ich habe mir hier zum ersten Mal das Wort ‚offen‘ aufgeschrieben, es ist alles hier offen“ (Bea, Forschungsschule A, S. 2). Die Fenster der Klassenräume gehen bis zur Erde, und die Besucherin vermerkt, dass sie alle Kinder sehen kann, sich aber ihrerseits auch beobachtet fühlt. Die Wahrnehmung der Glaskonstruktionen setzt sich fort: Das Hauptgebäude, das höher liegt als die anderen Trakte, ist mit den Nebengebäuden durch eine „Glasbrücke“ verbunden, und ein Klassenraum wie auch ein Seminarraum sind verglast: „Also überall Glas, Glas, also alles durchsichtig, alles offen“ (ebd., S. 17). Diese Offenheit wird ambivalent aufgenommen: Zum einen fühlen sich die fremd sozialisierten Forscherinnen beobachtet, gleichsam selbst unter Kontrolle, zum anderen bemerken sie Brücken in den Gebäuden: nicht nur Glasbrücken zwischen den Gebäudetrakten, sondern auch symbolische Brücken, so im Andachtsraum, dessen gestalterische Elemente als Brücken zu anderen Religionen interpretiert werden.Footnote 7

Aber ebenso wenig wie die Ordnung und Geschlossenheit wird die Offenheit nur auf die Räume bezogen: Sie verknüpft sich in der Wahrnehmung der Fremdbeobachterinnen zugleich mit der Topographie der Arbeit und Interaktion. Auch der Unterricht wird gleichsam als Brücke interpretiert, als ein ständiger Dialog zwischen „Lehrern und Schülern“: „Ich war drei Tage in dem Unterricht äh also mein Gesamteindruck das ist äh, das Wort Dialog […] es findet so ein ständiger Dialog zwischen Lern und Lehrern und äh Schülern statt“ (Bea, Forschungsschule A, S. 26 f.). Offenheit nehmen die drei Forscherinnen auch in der Cafeteria im Eingangsbereich wahr; hier sitzen Lehrer/-innen und Schüler/-innen und kommunizieren miteinander. Das ist die Sphäre, in der eine Topographie des Wohlfühlens entstehen kann, ein Kommunikationszentrum, für alle offen und von allen genutzt: „Also das ist einfach hier so die Ecke, wo sie alle gerne sich aufhalten“ (Rundgang mit einer Mutter, Forschungsschule A, S. 6).

Ein anderes Bild ruft die zweite Forschungsschule mit ihren zwei voneinander getrennt liegenden Gebäuden, dem Haupthaus und der Außenstelle für die fünften und sechsten Klassen, früher Orientierungsstufe, bei den fremd sozialisierten Betrachterinnen hervor: Hier, wo Offenheit in jeder Hinsicht praktiziert wird, auch zu der Bevölkerung der unmittelbaren Nachbarschaft, und dieses Strukturmerkmal seitens der Schulleitung sehr positiv konnotiert ist, sind die fremdsozialisierten Forscherinnen zunächst etwas ratlos: Für das Gebäude der Unterstufe wurde der Eingang nicht gefunden, und dann, heißt es, sei „einfach alles total flüssig“ gewesen, „das war mir etwas komisch, dass da jeder kann rein und raus“ (Nina, Forschungsschule B). Die unscharfen verschwommenen Grenzen haben bei einer Fremdbeobachterin das Gefühl der „Kälte“ zur Folge. Sie erlebt die Offenheit der Forschungsschule B, die auch zulässt, dass Passanten über das Schulgelände gehen, als Unverbindlichkeit, fühlt sich nicht eingebunden in diese Schulwelt, das schützende Element scheint zu fehlen.

Das Haupthaus hingegen nötigt den Fremdbeobachterinnen Bewunderung ab, es ist ein „eindrucksvolles“ Gebäude (Nina, Forschungsschule B). Bea sieht sich an eine berühmte alte Mädchenschule in St. Petersburg erinnert (vgl. Bea, Forschungsschule B, S. 10). Aber quer zu diesem imponierenden Gebäude kristallisiert sich ein Eindruck von Buntheit heraus: „Also so sobald man reinkommt also, fällt es auf, dass also diese Farbenvielfalt, ich weiß nicht, dass also diese äh überall diese bunte Plakate auf den Wänden auf den Pinnwänden, äh alles alles bunt, sozusagen alles farbenfroh […] Und äh, sobald man reinkommt also, hat man den Eindruck, dass die Schule an, ich weiß nicht an tausenden Projekten teilnimmt“ (a. a. O., S. 9). Eine Topographie der Offenheit, der Buntheit und der Vielfalt prägt aus der Sicht der Fremdbeobachterinnen das Gesicht der Schule. Kontrolle und Regelungen sind vordergründig nicht zu erkennen, auf den von Kindern entworfenen Plakaten finden sich Rechtschreibfehler, sie bleiben trotzdem an ihrem Platz. Der einen unserer Betrachterinnen scheint es zuweilen, als durchwandere sie eine Art „kreatives Paradies“.

Es ist vermutlich keine Überraschung, dass gerade die vor rund zwanzig Jahren in Osteuropa sozialisierten Forscherinnen – und zwar mehr oder weniger einhellig – auf diese Elemente abheben. Hatten sie in der ersten Forschungsschule Ordnung, Kontrolle und Schutz, aber auch ihre eigene Anerkennung innerhalb eines als geschützt wahrgenommenen Schul-Raumes hervorgehoben, so scheinen sie hier zunächst irritiert von der Buntheit, der Vielfalt und der Offenheit. Ihre Eindrücke sind, wie ihre Berichte erkennen lassen, ihren eigenen Schulerfahrungen und den sich daran anschließenden Reflexionen geschuldet. Ihr Erleben in einer biographisch zurückliegenden Vergangenheit wird von gegenwärtigen Eindrücken aktiviert, aus ihrer Außensicht beschreiben sie Räume, die sie begehen, und Beobachtungen, die sie machen. Konnten bei den geführten Rundgängen die uns führenden Schulakteure und -akteurinnen unmittelbar auf ihr Erleben zurückgreifen und verschränkten sich bei ihnen erlebte und erzählte Zeit, so wird hier durch die zeitliche und kulturelle Distanz zwischen dem Erlebten und dessen Verarbeitung und den neuen Eindrücken eine verfremdende Barriere eingezogen. Gerade dadurch aber wird unsere Aufmerksamkeit für die beschriebenen Phänomene sensibilisiert.

5 Fazit

Das Fazit ist auf zwei Ebenen zu ziehen: Zum einen sind zwei Methoden vorgestellt worden, die das Moment der Fremdheit in besonderer Weise präsentieren. Zum anderen haben wir die methodischen Zugänge im Rahmen eines Projekts zur Schulkultur entwickelt und fragen deshalb auch nach dem Gewinn dieser Zugangsweisen für unseren Schulkulturbegriff. Auf der allgemeinen Ebene der Frage ethnographischer Forschung in der Erziehungswissenschaft, oder vielleicht auch der empirischen Forschung innerhalb des eigenkulturellen Kontextes generell, lag uns daran, das Moment der Fremdheit als produktive Dimension hervorzuheben. Ethnograph(inn)en sind selbstredend darauf angewiesen, dass sie innerhalb des erforschten Kontextes akzeptiert werden und der anfängliche Störfaktor, den eine feldforschende Person innerhalb jeglichen Settings darstellt, sich normalisiert. Um jedoch die Eigenheit, das Spezifikum eines Ortes herauszuarbeiten, wie dies eines der Anliegen unseres Forschungsprojektes ist, bedarf es – und das ist ja auch Diktum der Feldforschung – bei aller Nähe auch der beständigen Distanz (vgl. Beer 2003; Hauser-Schäublin 2003; Lindner 1981). Der geführte Rundgang stellt eine solche Hervorhebung der Fremdheit dar. Beim Zeigen der jeweils eigenen Schule offenbaren sich verinnerlichte Perspektiven, die dem Blick der Außenstehenden, selbst nach einem Jahr der Feldforschung, mit anderen methodischen Zugriffen nicht ohne Weiteres erkenntlich werden. Die Nutzung des klassischen „fremden Blicks“ durch Einbezug fremdkulturell sozialisierter teilnehmender Beobachterinnen auf Zeit bietet ein Korrektiv für das Abgleiten der Ethnographie in eine zu stark emisch geprägte Perspektive, mahnt zu Rückbesinnung und Vergleich mit den ersten Feldtagebuchanmerkungen und verweist auf die Potenziale einer komparativen Sichtweise.

Für unseren Begriff von Schulkultur haben wir mit beiden methodischen Zugängen unsere Sicht auf Schulkultur spezifiziert. Durch den Blick auf Schule vermittelt durch die einzelnen Akteure ist deren Beziehung zur jeweiligen Schule als Organisationskultur deutlich geworden: Sie haben in Rundgängen gezeigt und artikuliert, welches Potenzial ihre Schule jeweils für sie besitzt, in welcher Weise sie sich darin einfügen bzw. wie sie sich damit auseinandersetzen und es für sich produktiv verändern. Die fremdkulturell sozialisierten Beobachterinnen hingegen haben an erster Stelle die räumliche Seite wahrgenommen, sie vor ihrem Erfahrungshintergrund mit den beobachteten Interaktionen in Verbindung gebracht und daraus für sich eine Art „Sinnstruktur“ (vgl. Helsper 2008, S. 63) der jeweiligen Schule konstruiert. Beide Methoden stützen unseren Ansatz, Schulkultur als eine ganzheitliche Kategorie zu betrachten, bei der ausgehend von (teilnehmenden) Beobachtungen – von Pausenaktivitäten über Unterricht bis zu Schulfeiern – Interviews und räumlichen Strukturen gleichsam eine Art „Habitus“ (vgl. z. B. Göhlich 2007) von Schule erzeugt wird.

Neben dem in unserer Studie vorgenommenen deutsch-deutschen Vergleich der Schulkultur zweier Gymnasien ist – vielleicht in zukünftiger Forschung – als weiterer Horizont der nationale Schulkulturvergleich anzudenken. Auch hier vermuten wir, dass mittels der Triangulation verschiedener qualitativer Forschungsinstrumente differenziertere Erkenntnisse zum kulturell geprägten Schulerleben möglich sind, als dies durch die großen, quantitativen Messlatten erreicht werden kann.

6 Transkriptionsschlüssel

( )

Pausen bis zu einer Sekunde

@Schule@

lachend gesprochen

Schule

betont