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Die Vereinbarkeit von Willensfreiheit und Erziehung

The compatibility of free will and determinism

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Zeitschrift für Erziehungswissenschaft Aims and scope Submit manuscript

Zusammenfassung

In diesem Beitrag wird die These der Vereinbarkeit von Willensfreiheit und Erziehung verteidigt. Das Problem der Vereinbarkeit stellt sich, weil Erziehung meist als eine Form von Fremdbestimmung gesehen wird. Wie aber kann ein Kind als willensfreies Wesen pädagogisch fremdbestimmt werden? Diese Frage wird unter Bezugnahme auf die philosophische Debatte zur Kompatibilität von Willensfreiheit und Determinismus diskutiert. Letztere stellt unterschiedliche Begriffe von Freiheit bereit, welche die pädagogischen Überlegungen bereichern können. So kann unter Willensfreiheit kausale Urheberschaft verstanden werden oder die Fähigkeit, anders zu handeln, als man tatsächlich handelt. In diesem Beitrag wird die Auffassung vertreten, dass ein dritter Freiheitsbegriff zur Lösung des pädagogischen Kompatibilitätsproblems beitragen kann: Willensfreiheit besteht in der Fähigkeit, aus Gründen zu handeln, die man als gültig akzeptiert.

Abstract

It is claimed, in this paper, that free will and education are compatible. The problem of compatibility arises because education is usually seen as a way of guiding, controlling or determining someone else’s behavior. But how is the educational control of a person who is endowed with a free will possible? This question is discussed with reference to the philosophical debate on the compatibility of free will and determinism. This debate provides various concepts of freedom can enrich the pedagogical discussion of the issue. For instance, freedom might be equated with being the causal source of a person’s actions. Alternatively, we could describe freedom as the capability of a person to act otherwise than he or she actually acts. This paper argues that a third concept of freedom can help to solve the problem of the compatibility of free will and education. According to this concept, the capability to act on reason must be seen as constitutive for freedom.

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Notes

  1. Dies ist diejenige Fragestellung, die Kant in seinen pädagogischen Vorlesungen als „eines der grössesten Probleme der Erziehung“ bezeichnete. Kant formuliert die Fragestellung explizit als Kompatibilitätsproblem: Es geht darum, wie man „die Unterwerfung unter den gesetzlichen Zwang mit der Fähigkeit, sich seiner Freiheit zu bedienen, vereinigen könne“ (Kant 1803/1977, A32; Hervorhebung: J. G.).

  2. Entsprechend halten Winch u. Gingell (2008, S. 163) fest, die genannte Überlegung beruhe auf einem Fehlschluss: „It does not necessarily follow from the fact that in order to do X one must practice doing X, that one must do X to the fullest possible extent from the outset“.

  3. Kant formuliert seine Position in der Kritik der reinen Vernunft (1781/1977) und entwickelt sie in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785/1977) und der Kritik der praktischen Vernunft (1788/1977) weiter. Hilfreiche Deutungen der kantischen Freiheitstheorie stammen von Beck (1960/1995); Allison (1990) und Pereboom (2006). Eine gute Zusammenfassung bietet Baumann (2000, S. 140 ff.).

  4. Kant hält es für unmöglich, theoretisch beweisen zu können, dass wir transzendental frei sind. Er behauptet jedoch, seine Konzeption von Freiheit sei zumindest nicht inkonsistent. Dies wird von Strawson bestritten. Derk Pereboom (2006) hält Kants Ansatz nicht für inkonsistent, bestreitet aber, dass wir transzendentale Freiheit tatsächlich besitzen.

  5. Kürzlich hat Kate Moran (2009) die Frage thematisiert, inwiefern Kants Moralverständnis mit seinen pädagogischen Auffassungen vereinbar ist. Moran sieht das Problem darin, dass das Handeln nach dem kategorischen Imperativ von Kant als etwas dargestellt werde, was man sich selbst beibringt. Da sie die Freiheitsdiskussion der Kritik der reinen Vernunft unbeachtet lässt, kommen die beiden beschriebenen Probleme nicht in ihr Blickfeld.

  6. Diese Deutung der kantischen Konzeption stützt sich u. a. auf Christine Korsgaard (1996, S. 80). Nachdem sie erläutert hat, dass freies Handeln für Kant ein Handeln nach Gesetzen ist, schreibt sie: „Alternatively, we may say that since the will is practical reason, it cannot be conceived as acting and choosing for no reason. Since reasons are derived from principles, the free will must have a principle“.

  7. Eine ähnliche Freiheitsauffassung wurde bereits von John Locke (1690/2000, Bd. 1, Buch II, Kap. 21) vertreten. Eine neuere Version, die großen Einfluss erlangte, stammt von Harry Frankfurt (1971/1981). In den vergangenen Jahren hat die Position im deutschsprachigen Raum an Einfluss gewonnen (vgl. z. B. Bieri 2001; Nida-Rümelin 2005; Habermas 2006 oder auch Langer 2009). Dieses Freiheitsverständnis gilt normalerweise als kompatibilistisch, es lässt sich aber auch mit inkompatibilistischen Annahmen verknüpfen.

  8. Als Versuch einer Verbindung der beiden Elemente lassen sich etwa Beiträge von Timothy O’Connor lesen (z. B. O’Connor 2002; O’Connor u. Churchill 2006).

  9. Demgegenüber neigen Libertarier (z. B. Keil 2009; vgl. auch die Kritik in Giesinger 2009) dazu, den Determinismus analog zu den lebensweltlichen Hindernissen als Bedrohung der Willensbildung zu sehen.

  10. Luhmann ist selbstverständlich kein Freiheits- oder Handlungstheoretiker. In Folgenden soll jedoch der Versuch gemacht werden, seine Äußerungen, welche explizit auf die philosophische Freiheitsdebatte Bezug nehmen, als Beitrag zu dieser Debatte zu lesen.

  11. Die Vorstellung, Freiheit bestehe im Handeln nach Notwendigkeiten wird oftmals Hegel zugeschrieben. Der politische Philosoph Isaiah Berlin vertritt allerdings die Auffassung, sie drücke „das Programm des aufgeklärten Rationalismus von Spinoza bis zu den letzten Schülern Hegels“ aus (Berlin 1958/1995, S. 222). In diese Linie lassen sich nach Berlin auch Rousseau, Kant und Fichte einordnen (vgl. ebd., S. 226). Berlins aus politisch-liberaler Perspektive argumentierende Kritik an diesem Programm soll hier nicht näher diskutiert werden.

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Giesinger, J. Die Vereinbarkeit von Willensfreiheit und Erziehung. Z Erziehungswiss 13, 421–435 (2010). https://doi.org/10.1007/s11618-010-0132-9

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