1. Einleitung

Die relativ frühe Leistungsdifferenzierung, die sich in unterschiedlichen Schularten oder Bildungsgängen ausdrückt, ist ein strukturbestimmendes Merkmal des Bildungssystems in allen deutschsprachigen Ländern (Maaz/Neumann/Trautwein im Druck). Von den Befürwortern der Leistungsdifferenzierung wird argumentiert, dass die dabei entstehende Homogenität der Schülerschaft dazu führe, dass alle Schülerinnen und Schüler eine auf sie angepasste, jeweils bestmögliche Förderung erfahren. Kritiker sprechen dagegen insbesondere im Hinblick auf den Übergang von der Grundschule in die Sekundarschule von einer frühzeitigen Vergabe von Lebenschancen auf der Basis kritikwürdiger Verfahren (Ingenkamp/Lissmann 2005; Rösner 2007). Nachdrücklich hat der Deutsche Bildungsrat in diesem Sinne bereits 1970 gefordert, dass Bildungsgänge grundsätzlich durch Offenheit charakterisiert sein sollten:

„Kein Bildungsgang darf in einer Sackgasse enden. Das Bildungswesen muß so eingerichtet sein, daß der Lernende früher gefällte Entscheidungen für dieses oder jenes Bildungsziel korrigieren kann. Zwar können Chancen, die angeboten, aber – aus welchen Gründen auch immer – nicht wahrgenommen wurden, nicht unbegrenzt offen gehalten werden. Doch soll es grundsätzlich möglich sein, versäumte Chancen einzuholen.“ (Deutscher Bildungsrat 1970, S. 38)

Um interindividuellen Unterschieden in den Lernverläufen Rechnung zu tragen, wurde in der Folge unter anderem versucht, die Durchlässigkeit im Sekundarbereich I zu erhöhen, was beispielsweise dazu führen sollte, dass vermehrt Schülerinnen und Schüler von der Realschule in das Gymnasium „aufsteigen“. Wesentliche Voraussetzung für diese sog. „horizontale“ Öffnung des Schulsystems war die weitgehende Angleichung der Lehrpläne und Unterrichtsstunden in den unterschiedlichen Schulformen der Sekundarstufe I. Allerdings zeigen auf der Basis der allgemeinen Schulstatistik durchgeführte Analysen, dass die Durchlässigkeit der Sekundarstufe I praktisch nur in Form von Abwärtsmobilität institutionalisiert ist; Aufstiege durch erfolgreiche Schulformwechsel sind selten (Baumert/Trautwein/Artelt 2003; Bellenberg 1999).

Eine weitere Maßnahme zur Flexibilisierung von Schulkarrieren stellt die sogenannte „vertikale“ Öffnung des Schulsystems dar, die sich darin äußert, dass die Entscheidung für eine bestimmte Schulform nach der Grundschule nicht mehr automatisch mit einem ganz bestimmten Schulabschluss verbunden ist. Die vertikale Öffnung manifestiert sich in der Möglichkeit, gleiche Abschlusszertifikate (z. B. mittlerer Schulabschluss) an unterschiedlichen Institutionen (z. B. Realschule, duale Ausbildung) zu erwerben und nach Erreichen eines Abschlusses einen höheren Abschluss in Angriff nehmen zu können (Baumert/Cortina/Leschinsky 2003). Die vertikale Öffnung des Systems erwies sich vielerorts als einfacher handhabbar und effizienter als die horizontale Öffnung und wird als bedeutende Modernisierungsleistung des Bildungssystems angesehen (Baumert/Cortina/Leschinsky 2003; Baumert/Trautwein/Artelt 2003). So haben beispielsweise eine Reihe von Bundesländern in Deutschland sowie mehrere Kantone in der Schweiz für erfolgreiche Absolventen nicht-gymnasialer Bildungsgänge die Option auf den Besuch einer gymnasialen Oberstufe eingerichtet.

Wie stark wird die Öffnung des Schulsystems tatsächlich genutzt? Es gibt gute empirische Belege dafür, dass sich eine große Zahl von Schülerinnen und Schülern die vertikale Öffnung beim Übergang in die Sekundarstufe II zunutze macht (z. B. Maaz et al. 2007). Aber bedeutet dies, dass es inzwischen irrelevant ist, welchen Bildungsgang ein Schüler bzw. eine Schülerin in der Sekundarstufe I besucht? Haben diese Schulformen ihre Bahnungswirkung verloren? Und welche Rolle kommt hierbei der sozialen Herkunft zu? Diese Fragen konnten bislang empirisch nicht beantwortet werden, da es an Untersuchungen fehlt, die unter Einbezug von Leistungsdaten Schülerbiografien über die beiden zentralen Übertrittsschwellen (Übergang in die Sekundarstufe I und Übergang in die Sekundarstufe II) hinweg längsschnittlich beobachten. Die vorliegende Studie soll dazu beitragen, diesen Mangel zu beheben.

2. Theoretischer Hintergrund

2.1 Die Kritik am gegliederten Schulsystem

Das gegliederte Schulsystem ist in den vergangenen Jahren erneut in die Diskussion geraten (z. B. Rösner 2007), wobei sich die Kritik unter anderem an den Übertrittsverfahren entzündet hat, die zur Zuweisung von Schülerinnen und Schülern auf die Bildungsgänge der Sekundarstufe I verwendet werden. So wird beispielsweise unter Rückgriff auf die Arbeiten von Ingenkamp (1975) argumentiert, dass die diagnostische Güte dieser Verfahren wesentlich zu wünschen übrig lasse (vgl. auch Baeriswyl et al. 2007). In der Tat lässt sich aus Schulleistungsstudien erkennen (Bos et al. 2003), dass auch heute noch die Bewertungsstandards über verschiedene Klassen und Schülergruppen hinweg nicht einheitlich sind, was dazu führt, dass sich die Leistungsverteilungen an den verschiedenen Schulformen der Sekundarstufe erheblich überlappen (Baumert/Teil/Artelt 2003). Entsprechend kann zu Recht argumentiert werden, dass ein Teil der nicht-gymnasialen Schülerschaft im Prinzip ähnlich geeignet ist für den Besuch der gymnasialen Oberstufe wie ein Teil der Gymnasialschülerschaft.

Als besonders problematisch haben sich zwei Arten systematischer Unterschiede beim Übertritt herausgestellt. Erstens stehen Übertrittsempfehlungen der Lehrkräfte sowie die tatsächlich zu beobachtenden Übertrittsentscheidungen in einem deutlichen Zusammenhang mit der mittleren Leistungsstärke einer Klasse (Tiedemann/Billmann-Mahecha 2007; Trautwein/Baeriswyl 2007). Bei Kontrolle des individuellen Leistungsstands fallen die Übertrittsempfehlungen und -entscheidungen in leistungsstarken Klassen weniger positiv aus als in weniger leistungsstarken Klassen, da die Lehrkräfte durch Referenzgruppeneffekte beeinflusst werden.

Zweitens scheinen Kinder aus sozial schwachen Familien im mehrgliedrigen Schulsystem systematisch benachteiligt zu sein, da Kinder mit günstigem sozialem Hintergrund bei vergleichbarer Schulleistung eine höhere Chance haben, in leistungsstarke Bildungsgänge der Sekundarschule überzuwechseln (Ditton/Krüsken/Schauenberg 2005; Maaz et al. 2006). Beispielsweise konnten Baumert/Schümer (2001) mit Daten der PISA-2000-Studie demonstrieren, dass die Chance, das Gymnasium zu besuchen, bei Kindern aus Oberschichtfamilien sehr viel höher ist als bei Kindern aus weniger privilegierten Elternhäusern – auch bei Kontrolle der tatsächlichen Leistung. Auch Bos et al. (vgl. 2004, S. 217; Lehmann/Nikolova 2005) konnten anhand der Daten aus der Internationalen Grundschul-Lese-Untersuchung (IGLU) zeigen, dass Übergangsempfehlungen der Lehrkräfte nach Kontrolle der Schulleistungen bedeutsam mit dem familiären Hintergrund kovariieren. Für die Schweiz stellten Moser/Rhyn (vgl. 2000, S. 52) bei der Untersuchung des Zürcher Übertrittsverfahrens von der Primarschule in die Sekundarstufe I fest, dass Kinder aus bildungsfernen Elternhäusern geringere Chancen haben, einen anspruchsvolleren Schultypus zu erreichen als Kinder mit bildungsnahem Hintergrund. Baeriswyl et al. (2006) untersuchten das Übertrittsverfahren an Deutschfreiburger Schulen, das die Verwendung von Leistungstests und eine obligatorische Beratung der Eltern vorsieht, um Effekte des familiären Hintergrunds gering zu halten. Tatsächlich fand sich eine relative geringe Prädiktionskraft des sozioökonomischen Hintergrunds für den Übertritt, die jedoch trotzdem statistisch signifikant war.

Als weiterer zentraler Kritikpunkt an der frühen Leistungsdifferenzierung wird angeführt, dass am Ende der Grundschulzeit noch eine erhebliche Plastizität im Hinblick auf die weitere kognitive und motivationale Entwicklung bestehe, sodass im Prinzip noch keine sichere Prognose hinsichtlich des erreichbaren Leistungsvermögens möglich sei. Auf systematische oder unsystematische Fehlplatzierungen verweisen Arbeiten, in denen Übertrittsempfehlungen mit den tatsächlich erreichten Abschlüssen verglichen wurden. Erreichen Schülerinnen und Schüler einen höheren bzw. niedrigeren Abschluss als mit der Übertrittsempfehlung impliziert, wird hier von einer Fehlplatzierung ausgegangen. Beispielsweise untersuchte Roeder (1997) vorzeitige Schulwechsel auf die Real- oder Gesamtschule von Schülerinnen und Schülern mit bzw. ohne Gymnasialempfehlung. Es zeigte sich, dass der Prozentsatz der Schulwechsler bei den Schülerinnen und Schülern ohne Gymnasialempfehlung deutlich höher ausfiel als bei den Schülern mit Gymnasialempfehlung. Gleichwohl durchliefen mehr als 50 Prozent der Schülerinnen und Schüler ohne Gymnasialempfehlung erfolgreich die Klassenstufe 5 bis 10 des Gymnasiums. Auch Schuchart/Weishaupt (2004) konnten zeigen, dass Schülerinnen und Schüler oftmals einen höheren Schulabschluss erreichen als man aufgrund der Grundschulempfehlung erwarten könnte. In der Untersuchungsstichprobe aus Niedersachsen traf dies für rund 30 Prozent der Schülerschaft mit Hauptschulempfehlung und mehr als die Hälfte der Schülerinnen und Schüler mit Realschulempfehlung zu.

2.2 Die Öffnung des Schulsystems

Die Ergebnisse der letztgenannten Untersuchungen werden gemeinhin als Beleg dafür betrachtet, dass eine sichere Prognose des Schulerfolgs nach der Grundschulzeit nicht möglich sei. Weil die Übertrittsempfehlungen in vielen Fällen nicht dem erreichten Abschluss entsprechen, müsse man von einer „Fehlerhaftigkeit“ der Übertrittsempfehlungen ausgehen, die wiederum gegen das differenzierte Schulsystem spräche. Man kann die genannten Befunde allerdings auch als Belege dafür interpretieren, dass die vom Deutschen Bildungsrat (1970) eingeforderte Öffnung des Schulsystems tatsächlich stattgefunden hat und Schülerinnen und Schüler durch die Übertrittsentscheidung nach der Grundschule nicht mehr auf einen bestimmten Bildungsabschluss festgelegt sind. In dieser Logik würden Übergangsentscheidungen nach der Grundschule keine Festlegung auf einen bestimmten Abschluss bedeuten, sondern wären – im Sinne von Überlegungen zur Passung von Leistungsstand, Lernvoraussetzungen und Lernumwelt – lediglich als Prognosen über die optimale Lernumwelt für die nachfolgenden Schuljahre zu verstehen.

Die Verknüpfung von Schulform und Abschlusszertifikat hat sich mittlerweile deutlich gelockert (vgl. Baumert/Cortina/Leschinsky 2003; Köller et al. 2004; Trautwein et al. 2007). Mittlere Schulabschlüsse können beispielsweise auch im beruflichen Schulsystem erworben werden und Absolventen der Realschule erhalten mit einem bestimmten Notendurchschnitt die Zugangsberechtigung zur gymnasialen Oberstufe. Die Notwendigkeit, bei bestehender Mehrgliedrigkeit die Bildungswege möglichst lange offenzuhalten, ist praktisch unumstritten. Meinungsunterschiede gibt es jedoch hinsichtlich der Frage, wie die Öffnung institutionell gestaltet werden soll und ob sie bislang die erhofften Erfolge mit sich brachte.

Einige Arbeiten (Maaz et al. 2007) konnten zeigen, dass möglicherweise Schülerinnen und Schüler mit weniger günstigem sozialem Hintergrund in besonderer Weise von der Öffnung des Schul-systems profitieren. Maaz et al. (2004) untersuchten den sozialen Hintergrund von Schülerinnen und Schülern in der gymnasialen Oberstufe in Baden-Württemberg, die entweder traditionelle Gymnasien oder aber berufliche Gymnasien besuchten. Die Mehrheit der Schülerinnen und Schüler an beruflichen Gymnasien hatte ihre Zugangsberechtigung zur gymnasialen Oberstufe an Realschulen erworben und nicht an Gymnasien; sie nutzten mit dem Übergang in die Oberstufe also die Öffnung des Schulsystems. Zudem wiesen diejenigen Abiturienten, die von der Öffnung des Schul-systems profitierten, einen weniger günstigen sozialen Hintergrund auf als Abiturienten mit einer geradlinigen Gymnasialkarriere. Ein Abgleich mit Daten aus der PISA-2000-Studie zeigte jedoch gleichzeitig, dass die Schülerinnen und Schüler an beruflichen Gymnasien einen günstigeren sozialen Hintergrund besaßen als „typische“ Realschüler. Es sind also womöglich die Privilegierten unter den weniger Privilegierten, die von der Öffnung besonders profitieren.

Eine kritische Perspektive hinsichtlich des tatsächlich erreichten Maßes der Öffnung im Schulsystem nehmen zwei jüngere Arbeiten von Schuchart (2006, 2007) ein. Sie fand heraus, dass für das Entscheidungsverhalten von Eltern, deren Kinder sich vor dem Grundschulübergang befinden, die Entkopplung von Schulform und erreichtem Abschlusszertifikat nur eine geringe Rolle zu spielen scheint (2006). Erst im Verlauf der Sekundarstufe gewann in der untersuchten Stichprobe insbesondere die Möglichkeit der Aufbesserung eines Hauptschulabschlusses eine zunehmende Bedeutung. Schuchart (2007) untersuchte den Wert von gleichnamigen, aber an unterschiedlichen Schulformen erworbenen Abschlüssen. Sie fand Hinweise darauf, dass die Chancen auf einen attraktiven Ausbildungsplatz für Schulabgänger mit einem an der Realschule erworbenen mittleren Abschluss besser waren als für Abgänger der Hauptschule mit mittlerem Bildungsabschluss. Leider beinhaltete die Studie aber keine Leistungsdaten, sodass nicht überprüft werden konnte, inwieweit sich in den differenziellen „Chancen“ auch tatsächlich vorhandene Leistungsunterschiede ausdrückten.

Auch die Arbeiten der Forschergruppe um Baumert (Baumert/Stanat/Watermann 2006; Becker et al. 2006; Neumann et al. 2007) können als Hinweis darauf herangezogen werden, dass der Übergangsentscheidung nach wie vor eine große Bedeutung zukommt. Unterschiedliche Bildungsgänge der Sekundarschule stellen demnach differenzielle Entwicklungsmilieus dar, in denen sich auch bei vergleichbarer Eingangsleistung ein unterschiedlich ausgeprägter Leistungszuwachs beobachten lässt. Dieses Phänomen wird auch als „Schereneffekt“ bezeichnet. Je stärker die Schereneffekte während der Sekundarstufe I ausfallen, desto stärker vergrößern sich die mittleren Leistungsunterschiede zwischen Schülerinnen und Schülern an unterschiedlichen Schulformen. Vergrößert sich jedoch der Leistungsunterschied zwischen „potenziellen Gymnasiasten“, die in der Mittelstufe eine andere Schulform besuchen, und den Gymnasiasten, so wird dies wiederum dazu führen, dass weniger Schülerinnen und Schüler von der Öffnung des Schulsystems profitieren können oder die Übertrittsschwellen bei Eintritt in die gymnasiale Oberstufe herabgesetzt werden müssen (vgl. Köller/Baumert/Schnabel 1999; Trautwein et al. 2007).

2.3 Die vorliegende Studie

Wie ist das Ausmaß der Öffnung im Schulsystem zu beurteilen? Hat der Übertritt von der Grundschule in die Sekundarschule wirklich stark an Bedeutung verloren, weil auch nach Beendigung der Sekundarstufe I noch ein Übertritt in die nächsthöhere Schulform möglich ist? Stellen die Eingangsvoraussetzungen, die den Übertritt in die nächsthöhere Schulform regeln, für die Schülerinnen und Schüler eine überwindbare Hürde dar? Und welche Rolle spielt dabei der soziale Hintergrund der Schülerinnen und Schüler?

Solche Fragen konnten bislang empirisch nicht in wünschenswerter Tiefe beantwortet werden, da es an Untersuchungen fehlte, die unter Einbezug von Leistungsdaten Schülerbiografien über beide zentrale Übertrittsschwellen (Übergang in die Sekundarstufe I und Übergang in die Sekundarstufe II) hinweg längsschnittlich begleiten. In der vorliegenden Studie untersuchen wir anhand eines Datensatzes aus dem Schweizer Kanton Freiburg, inwieweit die Schulleistung am Ende der Grundschule die Bildungsentscheidungen am Ende der Sekundarstufe II (Übertritt in die gymnasiale Oberstufe oder Beginn einer Ausbildung) bei Schülerinnen und Schülern vorhersagt, die in der Sekundarstufe I entweder das Progymnasium oder die Sekundarschule (die der deutschen Realschule entspricht) besucht haben. Wichtig scheint uns der Hinweis, dass aufgrund der Unterschiede zwischen den Bundesländern bzw. Kantonen in Hinblick auf Schülerleistungen sowie Übertrittsregelungen nicht damit zu rechnen ist, dass Befunde zur Systemöffnung überall gleich ausfallen. Der Kanton Freiburg eignet sich für eine initiale Untersuchung in besonderem Maße, da die dort bestehenden institutionellen Regelungen explizit das Ziel der Reversibilität von Bildungsbiografien beinhalten. Unsere Arbeit untersucht somit die Konsequenzen der Öffnung von Bildungswegen unter förderlichen institutionellen Rahmenbedingungen.

Wie in den meisten Kantonen der Schweiz besuchen die Kinder im Kanton Freiburg für sechs Jahre die Primarschule (die der Grundschule in Deutschland entspricht), bevor sie auf die Sekundarstufe I wechseln. Letztere ist in drei Abteilungen gegliedert: Die Realabteilung mit schulischen Grundanforderungen (die der Hauptschule in Deutschland entspricht), die Sekundarabteilung mit mittleren Anforderungen und die progymnasiale Abteilung mit erweiterten Anforderungen. Die Sekundarschulzeit ist mit drei Schuljahren (Klassenstufen 7 bis 9) relativ kurz, weshalb das Auseinanderklaffen von Leistungen in unterschiedlichen Schulformen vielleicht weniger Gewicht erhält. Der deutschsprachige Teil des Kantons Freiburg führt die Sekundarstufe I in Form einer Orientierungsschule, in der sich alle drei Abteilungen im gleichen Gebäude mit teilweise gemeinsamen Aktivitäten, beispielsweise bei Projektwochen, befinden.

Den Übergang von der Grundschule in die Sekundarstufe regelt das Deutschfreiburger Übertrittsmodell, das in den 1990er-Jahren entwickelt wurde, um hohe Transparenz zu erzeugen, Chancengleichheit zu gewährleisten und eine Revidierbarkeit der eingeschlagenen Bildungswege zu ermöglichen. Das Übertrittsverfahren nach der 6. Klasse umfasst drei Hauptelemente (vgl. Baeriswyl et al. 2006): die Übertrittsempfehlung durch die Lehrperson, die Übertrittsempfehlung durch die Eltern sowie die Leistungen der Schülerinnen und Schüler in einem standardisierten Leistungstest. Finden sich Inkonsistenzen zwischen den drei Elementen, muss die zuweisungsberechtigte Schuldirektorin oder der Schuldirektor der Sekundarstufe I gemeinsam mit der Primarlehrperson und den Eltern auf der Basis von Beurteilungs- und Prüfungsdokumenten einen Zuweisungsentscheid treffen.

Nach der obligatorischen Schulzeit von neun Jahren sind der Eintritt ins Gymnasium oder der Beginn einer Berufsausbildung möglich. Bei genügenden Schulleistungen (Notendurchschnitt der Hauptfächer 4.0 bei der Notenskala von 6 = sehr gut, 5 = gut, 4 = genügend, 3 = ungenügend) ist der Übertritt von der progymnasialen Abteilung ins Gymnasium prüfungsfrei. Der Übertritt von der Sekundarabteilung ins Gymnasium ist ebenfalls prüfungsfrei, wenn in den Hauptfächern (Deutsch, Mathematik, Realien „naturwissenschaftliche Fächer“ und Französisch) ein Notendurchschnitt von 5.0 (gut) erreicht wird. Bei Nichterreichen dieses Notendurchschnitts kann für den Zugang zum Gymnasium eine Aufnahmeprüfung abgelegt werden.

In der vorliegenden Studie konzentrieren wir uns auf Schülerinnen und Schüler des Progymnasiums und der allgemeinen Sekundarabteilung. Dabei stehen vier Untersuchungsschwerpunkte im Mittelpunkt. Erstens untersuchen wir die Frage, wie sehr sich die institutionell vorgesehene Öffnung empirisch in einer Plastizität von Bildungsbiografien ausdrückt. Wie viele Schülerinnen und Schüler wechseln in die gymnsiale Oberstufe, „obwohl“ sie in der Sekundarstufe „nur“ die allgemeine Sekundarabteilung besuchten? Wie viele Progymnasiasten entscheiden sich wiederum gegen den Besuch der gymnasialen Oberstufe und für eine berufliche Ausbildung?

Der zweite Schwerpunkt unserer Studie bezieht sich (deskriptiv) auf die Leistungen der Schülerinnen und Schüler, die sich für den Besuch der gymnasialen Oberstufe oder den Wechsel in eine Ausbildung entscheiden. Wie unterschiedlich fallen die Leistungen aus? Gibt es deutliche Unterschiede je nach Wahl der Ausbildungsoption?

Drittens untersuchen wir, wie stark der Übergang in bestimmte Bildungsgänge der Sekundarstufe bereits zu einer frühzeitigen Bahnung der Bildungsentscheidung nach dem Abschluss der Sekundarstufe I führt. Von besonderem Interesse sind hierbei die Schülerinnen und Schüler, die trotz ähnlicher Schulleistungen am Ende der Primarschule in unterschiedliche Abteilungen der Sekundarstufe I wechseln. Konkret untersuchen wir die relative Wahrscheinlichkeit eines Schülers oder einer Schülerin, der/die die allgemeine Sekundarabteilung (und nicht das Progymnasium) besucht, in der Sekundarstufe II doch noch in die gymnasiale Oberstufe zu wechseln. Wir vermuteten, dass im Sinne einer „Bahnungs-Hypothese“ bei gleichen Ausgangsvoraussetzungen am Ende der Grundschule mit dem Übertritt in eine bestimmte Abteilung der Sekundarstufe I bereits eine gewisse Vorentscheidung in Bezug auf die Oberstufe getroffen wird – trotz der vorhandenen Reversibilität von Bildungsbiografien.

Die vierte Frage schließlich bezieht sich auf den sozialen Hintergrund der Familien. Wie stark beeinflusst der familiäre Hintergrund die Übertrittsentscheidungen nach Abschluss der Sekundarstufe I? Mit Bezug auf die Arbeiten von Maaz et al. (2004), in der sich bedeutsame Effekte des sozialen Hintergrunds beim Übergang in die Sekundarstufe II dokumentieren ließen, erwarteten wir auch im vorliegenden Datensatz entsprechende Hinweise darauf, dass Bildungsentscheidungen – auch bei Kontrolle der schulischen Leistungen – mit dem sozialen Hintergrund kovariieren.

3. Methode

3.1 Stichprobe

Die vorliegende Untersuchung ist Teil eines größeren Forschungsprojekts der Abteilung Lehrdiplom Sekundarstufe II der Universität Freiburg (Schweiz), in welchem im Rahmen einer Kompletterhebung aller deutschsprachigen Klassen des Kantons Freiburg der Übertritt in die Sekundarschule sowie die weitere Schullaufbahn von fast 800 Schülerinnen und Schülern untersucht wurden. Wir konzentrieren uns hierbei auf diejenigen 525 Jugendlichen (49,7 % weiblich), die nach der Grundschule entweder in ein Progymnasium oder in die allgemeine Sekundarabteilung wechselten. Schülerinnen und Schüler, die in die Realschule (die der deutschen Hauptschule entspricht) wechselten, werden also nicht berücksichtigt. Die Schülerinnen und Schüler stammten aus 46 Primarschulklassen und traten in acht unterschiedliche Orientierungsschulzentren über, wo sie in insgesamt 36 unterschiedlichen Klassen unterrichtet wurden. 4,8 % der Jugendlichen lebten in einem Haushalt, in dem üblicherweise nicht Deutsch gesprochen wurde.

3.2 Instrumente

Übertritt in die gymnasiale Oberstufe. Als zentrale Outcome-Variable wurde der Übertritt in die gymnasiale Oberstufe (kodiert als 1) den Schulakten entnommen. Alle anderen Alternativen (vor allem der Beginn einer Ausbildung, aber auch der Berufseinstieg, „Wartejahre“ und Zwischenlösungen) wurden als 0 kodiert.

Besuchter Bildungsgang in der Sekundarstufe. Ebenfalls den Schulakten wurde entnommen, in welche Schulform die einzelnen Schülerinnen und Schüler nach der Grundschule wechselten.

Übertrittsprüfung. Die Übertrittsprüfung, die am Ende der Grundschulzeit durchgeführt wird, besteht aus einem Mathematik- und einem Deutschtest; in beiden Testteilen können jeweils maximal 50 Punkte erzielt werden, sodass insgesamt maximal 100 Punkte erreicht werden können. Der Mathematiktest besteht aus den vier Subtests Grundoperationen, Textaufgaben, Brüche, Geometrie und der Deutschtest aus den Subtests Textschaffen, Textverständnis und Rechtschreibung. Die Aufgabeninhalte beziehen sich auf den Lehrplan der fünften und einen Teil der sechsten Klasse. Die Prüfungsaufgaben werden von Lehrpersonen der Sekundarstufe I und von nicht am Übertritt beteiligten Primarlehrpersonen auf der Basis der verbindlichen Lehrpläne erarbeitet. Zudem werden die Tests in einigen Klassen eines anderen Kantons, in welchem dieselben Lehrpläne gelten, validiert. Die Vergleichsprüfung ist in der Regel für alle Schülerinnen und Schüler verpflichtend. Die Prüfung findet in allen Schulen am gleichen Tag statt, wird in den Klassenzimmern der Primarschulen durchgeführt und von einer Lehrperson der Sekundarstufe I überwacht. Die Prüfungskorrekturen werden ebenfalls von Lehrpersonen der Sekundarstufe I durchgeführt, um die Reliabilität der Auswertungen zu garantieren. Für die vorliegende Studie wurden die sieben Subtestwerte des Deutsch- und Mathematiktests gemeinsam einer Hauptkomponentenanalyse unterzogen. Dabei resultierte eine zweifaktorielle Lösung (Eigenwerteverlauf der ersten fünf Faktoren: 2.87, 1.19, 0.71, 0.65, 0.56),Footnote 1 sodass getrennte Scores für die Mathematikleistung (Cronbachs Alpha = .72) und die Deutschleistung (Cronbachs Alpha = .62) gebildet wurden.

Das Beobachtungs-Beurteilungsinstrument. Die Lehrpersonen beurteilten anhand von 22 Items eines vorgegebenen Beobachtungsinstruments das Arbeits- und Lernverhalten und die allgemeinen kognitiven Fähigkeiten der Schülerinnen und Schüler auf einer dreistufigen Skala: beobachtete, bemerkte ich selten (1), gelegentlich (2) und oft (3). In einer Hauptkomponentenanalyse mit anschließender Varimax-Rotation fanden sich im Scree-Plot (Eigenwerteverlauf der ersten fünf Faktoren: 7.40, 2.23, 1.33, 1.04, 1.00) sowie im Hinblick auf die inhaltliche Interpretierbarkeit Hinweise auf eine Zwei-Dimensionalität. Auf dem ersten der beiden extrahierten Faktoren, von uns Kognitive Fähigkeiten genannt, wiesen zehn Items (kann Handlungen gedanklich durchspielen; kann Gedankengänge klar darstellen; zeigt kritisches Denken; zeigt logisches, schlussfolgerndes Denken; erkennt Zusammenhänge; überträgt Gelerntes; fasst Neues rasch auf; erbringt gute Gedächtnisleis-tungen; findet eigene Lösungen; setzt angemessene Lerntechniken ein) eine hohe Ladung auf. Eine aus den Items gebildete Skala hatte eine hohe interne Konsistenz (Cronbachs Alpha = .88). Auf dem zweiten der beiden extrahierten Faktoren, von uns als Motivation bezeichnet, hatten sechs Items (zeigt vielfältiges Interesse; lässt sich motivieren; führt Arbeiten sorgfältig aus; hat altersentsprechende Ausdauer; ist auch nach Misserfolg interessiert; arbeitet in Gruppen gut mit) ihre Primärladung. Die interne Konsistenz der Skala war zufriedenstellend (Cronbachs Alpha = .79).

Sozioökonomischer Status. Der sozioökonomische Status wurde durch die Übertragung der Angaben zum Beruf des Vaters und dem Beruf der Mutter in den internationalen sozioökonomischen Index (ISEI) (vgl. Ganzeboom/Treiman 1996) ermittelt. Der jeweils höhere ISEI-Wert wurde als Indikator für den sozioökonomischen Status verwendet.

3.3 Statistisches Vorgehen

Um den Übergang in die gymnasiale Oberstufe vorherzusagen, wurden logistische Regressionsanalysen durchgeführt. Wie in der empirischen Schulforschung üblich, weisen die vorliegenden Daten eine hierarchische Struktur auf, die in der Datenanalyse nach Möglichkeit berücksichtigt werden sollte. Im vorliegenden Fall findet sich sogar eine zweifache Schachtelung: Schülerinnen und Schüler sind einerseits in den Grundschulklassen und andererseits in den Sekundarschulklassen geschachtelt. Wird die Schachtelung der Daten nicht berücksichtigt, kann es zu einer zu liberalen Signifikanztestung kommen. Derzeit sind die gängigen Statistikpakete noch nicht in der Lage, die hier vorliegende komplexe Schachtelung der Daten in Verbindung mit einer logistischen Regressionsanalyse adäquat zu modellieren. Wir haben uns deshalb für ein pragmatisches Vorgehen entschieden, bei dem wir auf eine Berücksichtigung der Schachtelung verzichteten und stattdessen das Signifikanzniveau auf p < .025 festlegten. Alle Analysen wurde mithilfe des Statistikpakets SPSS 15.0 durchgeführt.

4. Ergebnisse

Unsere erste Forschungsfrage bezog sich auf die Entkopplung des Bildungsgangs in der Sekundarstufe und in der Oberstufe. Tab. 1 zeigt eine Kreuzklassifikation von besuchter Schulform in der Mittelstufe und Bildungsweg in der Oberstufe. Wie sich leicht erkennen lässt, fanden sich bedeutsame Hinweise auf eine Entkopplung von in der Mittelstufe besuchter Schulform und der Übergangsentscheidung am Ende der Sekundarstufe I. Immerhin 21.7 Prozent derjenigen Schülerinnen und Schüler, die in der Mittelstufe die allgemeine Sekundarschule besuchten, wechselten anschließend in die gymnasiale Oberstufe. Gleichzeitig entschieden sich 45.5 Prozent der Schülerinnen und Schüler des Progymnasiums, nicht in die gymnasiale Oberstufe überzuwechseln. Von den Schülerinnen und Schülern, die die gymnasiale Oberstufe besuchten, betrug der Anteil derer, die nach der Grundschule zunächst in die Sekundarabteilung überwechselten, immerhin 39.7 Prozent. Die im Deutschfreiburger Modell institutionell vorgesehene Plastizität von Bildungsbiografien lässt sich somit insgesamt gesehen auch empirisch wiederfinden.

Tab. 1 Kreuzklassifikation von besuchter Schulform in der Mittelstufe und Bildungsweg in der Oberstufe

Unsere zweite Fragestellung galt den Leistungsmerkmalen am Ende der Grundschule in Abhängigkeit von der individuellen Bildungsbiografie. Tab. 2 zeigt deskriptiv die entsprechenden Kennwerte, wobei zum einfacheren Vergleich zwischen den Gruppen eine Transformation in z-Werte (M = 0, SD = 1) vorgenommen wurde. Wie nicht anders zu erwarten gewesen ist, fielen die Leistungsmerkmale am Ende der Grundschule bei denjenigen Schülerinnen und Schülern besonders positiv aus, die auf das Progymnasium wechselten. Besonders interessant für die vorliegende Arbeit sind jedoch zwei weitere Beobachtungen, die diejenigen Progymnasiasten betrifft, die nach der Mittelstufe nicht in die gymnasiale Oberstufe wechselten. Diese Schülerinnen und Schüler wiesen am Ende der Grundschule teilweise (Mathematik-Leistung, kognitive Fähigkeit) ähnlich gute Leistungsmerkmale auf wie diejenigen Progymnasiasten, die später in die gymnasiale Oberstufe wechselten. Auffälliger noch ist ihr klarer Leistungsvorteil im Vergleich mit denjenigen Schülerinnen und Schülern der allgemeinen Sekundarabteilung, die später in die gymnasiale Oberstufe wechselten. Der Leistungsvorteil belief sich für die Mathematik- und Deutschleistung am Ende der Grundschule auf fast eine Standardabweichung. Was den sozioökonomischen Hintergrund betrifft, kehrte sich allerdings das Bild um: Hier fand sich für diejenigen Progymnasiasten, die nicht in die gymnasiale Oberstufe wechselten, ein niedrigerer Wert als für diejenigen Schülerinnen und Schüler der Sekundarabteilung, die in die gymnasiale Oberstufe wechselten.

Tab. 2 Leistungsmerkmale am Ende der Grundschule sowie sozioökonomischer Status der Eltern (ISEI-Wert) nach Bildungsbiografie (z-Werte)

Wie stark sagen nun die Schulleistung am Ende der Grundschule und der soziale Hintergrund den Übertritt in die gymnasiale Oberstufe vorher? Unsere weiteren Analysen gelten der Frage, wie stark der Übergang in bestimmte Bildungsgänge der Sekundarstufe bereits die Bildungsentscheidung nach dem Abschluss der Sekundarstufe I vorformt (unsere Bahnungshypothese) und wie stark die Vorhersagekraft des sozioökonomischen Hintergrunds dabei ist. Zu diesem Zwecke wurde eine Serie von logistischen Regressionsanalysen gerechnet, mit denen der Besuch der gymnasialen Oberstufe (ja vs. nein) vorhergesagt wurde. Die hierbei resultierenden Befunde werden in Tab. 3 berichtet. Im Modell 1 wurden Geschlecht, sozialer Hintergrund (ISEI-Wert) und die am Ende der Grundschule gezeigte Leistung im Mathematik- und Deutschtest herangezogen, um den Besuch der gymnasialen Oberstufe vorherzusagen. Alle vier Prädiktoren waren statistisch signifikant mit dem Gymnasialbesuch assoziiert. Je höher die Leistungen, desto größer war die Chance, die gymnasiale Oberstufe zu besuchen. Bei gleicher Leistung zeigte sich zudem erwartungsgemäß ein positiver Prädiktionseffekt des sozialen Hintergrunds. Darüber hinaus hatten Mädchen eine größere Chance auf den Besuch der gymnasialen Oberstufe. Nagelkerkes R 2 betrug .232.

Tab. 3 Vorhersage des Übertritts in die gymnasiale Oberstufe. Befunde aus logistischen Regressionsanalysen

In Modell 2 wurden als zwei weitere Indikatoren die Einschätzung der Lehrkräfte im Hinblick auf die kognitive Fähigkeit der Schülerinnen und Schüler sowie deren Motivation einbezogen. Es zeigte sich eine positive Prädiktionskraft für die Einschätzung der Motivation, während gleichzeitig das Geschlecht und die Mathematikleistung keine eigenständige Prädiktionsleistung mehr aufzuweisen hatten. Nagelkerkes R 2 stieg auf .259.

Im abschließenden dritten Modell wurde zusätzlich berücksichtigt, ob die Schülerinnen und Schüler in der Mittelstufe ein Progymnasium besucht hatten. Die Odds Ratios für diesen Prädiktor geben an, um wie viel höher – bei ansonsten gleichen Voraussetzungen – die Chancen für einen Schüler/eine Schülerin auf den Besuch der gymnasialen Oberstufe waren, wenn dieser Schüler/diese Schülerin in der Mittelstufe das Progymnasium (und nicht die allgemeine Sekundarschule) besuchte. Wie zu erkennen ist, hatte dieser Schüler/diese Schülerin eine ungefähr doppelt so hohe Chance auf den Besuch der gymnasialen Oberstufe wie der Vergleichsschüler/die Vergleichsschülerin. Weiterhin als statistisch signifikant erwies sich die Vorhersagekraft des sozialen Hintergrunds, der Deutschleistung und der Motivation. Nagelkerkes R 2 betrug für dieses Modell .271.

Abb. 1 veranschaulicht nochmals in grafischer Form die Bedeutung von Bahnungseffekten (Besuch des Progymnasiums) und Effekten des sozialen Hintergrunds (ISEI-Wert) im Hinblick auf den Übertritt in die gymnasiale Oberstufe. Die beiden Linien symbolisieren die durch die logistische Regression vorhergesagte Wahrscheinlichkeit, die gymnasiale Oberstufe zu besuchen, in Abhängigkeit von Schulformbesuch und sozialem Hintergrund und bei Kontrolle der Mathematik- und Deutschleistung zum Ende der Grundschule. Wie sich leicht erkennen lässt, stieg die Wahrscheinlichkeit auf den Besuch der Oberstufe sowohl bei dem Besuch eines Progymnasiums als auch mit höherem sozialem Hintergrund.

Abb. 1
figure 1

Durch logistische Regression vorhergesagte Wahrscheinlichkeit, die gymnasiale Oberstufe zu besuchen

Die Wahrscheinlichkeit ist in Abhängigkeit des sozioökonomischen Hintergrunds (SES) sowie der besuchten Schulform in der Sekundarstufe I (Progym = Progymnasium) dargestellt. Die Deutsch- und Mathematiktestleistung wurden konstant gehalten. Zur besseren Erkennbarkeit wurde zu den einzelnen beobachteten Datenpunkten an den 0-Prozent- und 100-Prozent-Balken in der Grafik ein zufälliger Wert hinzugefügt (sogenanntes „jittering“).

5. Diskussion

In der vorliegenden Studie, in der über 500 Schülerinnen und Schüler aus Deutschfreiburger Schulen zwischen dem Ende der Grundschule und dem Übergang in die gymnasiale Oberstufe bzw. einer alternativen Ausbildung begleitet wurden, fanden sich Belege für eine substanziell ausfallende Entkopplung zwischen dem in der Mittelstufe besuchten Bildungsgang und der Entscheidung für eine Ausbildungsoption in der Oberstufe. Diese Entkopplung drückte sich vor allem darin aus, dass immerhin fast die Hälfte der Gymnasiasten in der Mittelstufe die allgemeine Sekundarschule (und nicht das Progymnasium) besucht hatten. Weiterhin konnte gezeigt werden, dass auch bei vergleichsweise schwachen Schulleistungen am Ende der Grundschule noch der Sprung in die gymnasiale Oberstufe gelingen kann. Trotz der Belege für die Öffnung von Bildungswegen fanden sich gleichzeitig auch Hinweise darauf, dass der Besuch des Progymnasiums durchaus eine bahnende Wirkung in der Schulbiografie besitzt. Die Chance, auf die gymnasiale Oberstufe zu wechseln, war bei Absolventen des Progymnasiums etwa doppelt so hoch wie bei ansonsten vergleichbaren Schülerinnen und Schülern. Deutlich wurde zudem, dass ein günstiger sozialer Hintergrund mit einer höheren Chance auf den Übertritt in die Oberstufe einherging.

5.1 Die Öffnung der gymnasialen Oberstufe, die Sicherung von Leistungsstandards und die Rolle des sozialen Hintergrunds

Die Entkopplung von Bildungsgang und Zugang zur gymnasialen Oberstufe ist ein erklärtes Ziel des Deutschfreiburger Modells. Ist dieses Ziel erreicht worden? Ein Vergleich mit anderen Kantonen oder Bundesländern, der zur Beantwortung einer solchen Frage üblicherweise herangezogen wird, ist leider nur beschränkt möglich, da es an geeigneten, längsschnittlich angelegten Vergleichsstudien mangelt. Trotzdem wird man die vorliegende Studie guten Gewissens als Beleg dafür heranziehen können, dass die Entkopplung an Deutschfreiburger Schulen weit vorangeschritten ist.

Wie verträgt sich dieses Resümee mit den empirischen Belegen für die Bahnungshypothese, die in der statistisch signifikanten Prädiktionskraft des Besuchs des Progymnasiums empirische Stützung findet? In der Tat wird man diesen Effekt zunächst als Hinweis darauf deuten müssen, dass die Entkopplung nicht komplett ist. Allerdings lässt sich einwenden, dass der resultierende Bahnungseffekt aus zweierlei Gründen eine Überschätzung des tatsächlichen Effekts darstellen könnte. Erstens kann argumentiert werden, dass die anderen Prädiktionsvariablen messfehlerbehaftet sind. Dies könnte dazu führen, dass ihre Prädiktionswirkung unterschätzt und die Prädiktionswirkung anderer Variablen (also beispielsweise der Bahnungseffekt) in dem verwendeten Regressionsmodell überschätzt wird. Zweitens muss berücksichtigt werden, dass natürlich nicht alle Variablen, die die Übergänge im Schulsystem vorhersagen, berücksichtigt werden konnten. In dem Maße, wie das vorliegende Modell ein „unterspezifiziertes Prädiktionsmodell“ darstellt, könnte es sein, dass bei Berücksichtigung weiterer Variablen (z.B. Schulleistung in weiteren Domänen, langfristige Pläne der Eltern) der Bahnungseffekt seine statistische Signifikanz verlieren würde.

Die Öffnung der gymnasialen Oberstufe wird häufig auch als die eine Seite einer Medaille bezeichnet, deren andere Seite die Aufgabe sei, sinnvoll begründbare Leistungsstandards – gerade in der gymnasialen Oberstufe – zu sichern (vgl. Baumert/Cortina/Leschinsky 2003). Konkret stellt sich die Frage, ob eine weitgehende Öffnung von Bildungswegen die Gefahr (zu stark) sinkender Leistungsstandards mit sich bringt. Im Deutschfreiburger Übertrittsmodell sollen die je nach Bildungsgang differenziell angesetzten Notenstandards dafür sorgen, dass zumindest annäherungsweise gemeinsame Mindeststandards befolgt werden. Inwieweit dies gelingt, lässt sich auf der Basis der vorliegenden Studie nicht abschließend klären, da der hier verwendete Leistungstest bereits am Ende der Grundschule eingesetzt wurde. Geht man lediglich von den am Ende der Grundschule gezeigten Leistungen aus und unterstellt, dass die Leistungsentwicklung an der Sekundarschule im Normalfall nicht positiver ausfällt als am Progymnasium (vgl. Neumann et al. 2007), wird man die Möglichkeit zumindest in Betracht ziehen müssen, dass der mittlere Leistungsstand der Schülerinnen und Schüler der gymnasialen Oberstufe ggf. dann positiver ausfiele, wenn es keine Öffnung der Oberstufe geben würde und stattdessen alle Progymnasiasten in die gymnasiale Oberstufe überwechseln würden. Andererseits ist die Annahme durchaus plausibel, dass gerade diejenigen Schülerinnen und Schüler der Sekundarschule, die später in die gymnasiale Oberstufe übergingen, besonders positive Lernraten vorzuweisen hatten, sodass sich die Leistungsschere im Vergleich zur Tab. 2 eher geschlossen haben könnte. Da es an geeigneten empirischen Daten fehlt, müssen diese Überlegungen jedoch Spekulationen bleiben.

Bei der Sicherung von hohen Leistungsstandards ist zudem zu bedenken, dass eine allein an den Bedürfnissen der gymnasialen Oberstufe ausgerichtete Argumentation zu kurz greift. Gerade in der Schweiz gibt es eine Reihe von hoch attraktiven Ausbildungsrichtungen im beruflichen Sektor, die sich an leistungsstarke Absolventen des Sekundarbereichs wenden. Namentlich die Einführung der Berufsmatura, deren Abschluss den freien Zugang zu Fachhochschulen garantiert, dürfte diese „Umbahnung“ begünstigt haben. Viele – auch leistungsstarke – Jugendliche sehen in diesen Ausbildungen offenbar gleichwertige Alternativen zum Besuch der gymnasialen Oberstufe, während es für die Ausbildungsbetriebe von großer Bedeutung ist, gerade auch die leistungsstarken Jugendlichen zu gewinnen. Entsprechend lässt sich trefflich darüber streiten, inwieweit es überhaupt das Ziel eines Bildungssystems sein sollte, eine möglichste homogene Gruppe der leistungsstärksten Jugendlichen für die gymnasiale Oberstufe zu gewinnen.

Weniger diskussionswürdig dürfte dagegen die problematische Natur der dokumentierten Effekte des sozialen Hintergrunds sein. Es ist bekannt (Maaz et al. 2006), dass der soziale Hintergrund gerade an den Gelenkstellen des Bildungssystems seine Kraft entfaltet. Die vorliegende Studie bestätigt diese Muster für den bislang vergleichsweise wenig untersuchten Übergang von der Sekundarstufe I in die Sekundarstufe II. Je günstiger der soziale Hintergrund, desto höher war – bei Kontrolle der Leistungsmerkmale – die Chance auf den Besuch der gymnasialen Oberstufe. Auffällig ist dabei unter anderem, dass die Vorhersagekraft des sozialen Hintergrunds auch bei Berücksichtigung der Schulformzugehörigkeit in der Sekundarstufe I kaum zurückging. Das bedeutet, dass es sich um Effekte am Ende der Sekundarstufe I handelt, die nur zu einem kleinen Teil durch den Progymnasialbesuch kanalisiert wurden (vgl. Baeriswyl et al. 2006). Wie bereits in Tab. 2 auf deskriptiver Ebene angedeutet, entfaltete der soziale Hintergrund vielmehr eine originäre Kraft am Ende der Sekundarstufe I. Diese Prädiktionskraft könnte sogar noch unterschätzt sein, da der verwendete Indikator für den sozialen Hintergrund (ISEI-Wert) nicht perfekt reliabel ist (vgl. Maaz et al. 2007).

5.2 Ausblick

Die Öffnung des Bildungssystems hat – wie auch die vorliegende Studie untermauert – dazu geführt, dass es inzwischen weniger „Sackgassen“ (Deutscher Bildungsrat 1970) im Bildungssystem gibt und Bildungsziele korrigiert werden können. Zweifellos ist dies eine wichtige Errungenschaft. Gleichwohl darf nicht übersehen werden, dass nach wie vor für die meisten Bundesländer und Kantone unbekannt ist, wie stark die Bahnungseffekte im Vergleich zu den Öffnungsoptionen sind und welche Konsequenzen die Öffnung für das Erreichen von Leistungsstandards hat. Auch ist weitgehend ungeklärt, in welchem Ausmaß diejenigen Schülerinnen und Schüler, die beispielsweise mit einem mittleren Abschluss in die gymnasiale Oberstufe überwechseln, diese auch tatsächlich erfolgreich beenden und welche Faktoren besonders entscheidend für den Erfolg sind. Darüber hinaus ist zu wenig bekannt, wie Eltern und potenzielle Arbeitgeber mit der Öffnung von Bildungswegen umgehen (Schuchart 2006, 2007). Es ist zu hoffen, dass die Zukunft eine größere Zahl von längsschnittlich angelegten Forschungsprojekten mit sich bringt, die diese wichtigen Fragen empirisch klären.