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Konfuzianismus im pädagogischen Alltag Südkoreas – Aus kulturvergleichender und autobiographischer Sicht1

Confucianism in Everyday Educational Life in South Korea – From a culture-comparative and autobiographical perspective.

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Zusammenfassung

In diesem Artikel wird der Versuch unternommen, die Bildungs- und Erziehungskultur Südkoreas anhand der Bildinterpretation aus kulturvergleichender und autobiographischer Sicht darzustellen. Der Schwerpunkt liegt zunächst in der Schilderung der quasi-konfuzianischen Tradition, die in den letzten 500 Jahren bis Anfang des 20. Jahrhunderts den pädagogischen Alltag Südkoreas geprägt hat und deren Spuren heute noch zu finden sind, und darüber hinaus in der kritischen Auseinandersetzung mit der Schlüsselfigur des „leidenden Individuums“ in der gemeinschaftszentrierten Bildungsatmosphäre des konfuzianischen Kulturkreises. Darüber hinaus wird die neuzeitlich-globale Tendenz der Leistungsorientierung und Humankapitalisierung von Bildung kritisch betrachtet.

Abstract

This article will attempt to present the educational culture in South Korea by interpreting central historical pictures from a culture-comparative and autobiographical perspective. The analysis will, firstly, describe the quasi-Confucianist tradition, which heavily influenced daily educational life in the 500 years leading up to the start of the 20th century, traces of which can still be found today. We will, secondly, critically analyze the central figure of the “suffering individual” in the community-centered educational atmosphere of Confucianist cultures. Finally, the modern global tendency towards performance orientation and the view of education as human capital will be analyzed within this context.

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Abbildung 1:
Abbildung 2:
Abbildung 3
Abbildung 4
Abbildung 5-6
Abbildung 7-8
Abbildung 9-10

Notes

  1. Dass dieses ostasiatische Welt- und Selbstverständnis von einigen Philosophen des Abendlandes wie G. W. F. Hegel oder K. Marx nicht als Philosophie gewertet wurde, ist nur dann nachvollziehbar, wenn man am imperialen Anspruch einer „richtigen Philosophie“, nämlich der des Abendlandes, festhält. Somit ist dieser europäische „Orientalismus“ eine Art von Kultur- und Ethnozentrismus (Chae 2004, S. 19ff.; vgl. Waldenfels 1999, S. 48f.).

  2. Bedauerlicherweise ist die Quelle des Zitats nicht angegeben.

  3. Die Tugenden wie Tapferkeit (용/勇), Toleranz (관/寬), Vertrauen (신/信) gehören zu den weiteren Eigenschaften von 인/仁/Yin. Letztendlich lassen sich die verschiedenen Unterbegriffe von 인/仁/Yin auf das metaphysische Konzept der Menschenliebe reduzieren (vgl. Shin 2004, S. 193f).

  4. Der koreanische Spielfilm „DuSaBuIlTsche“ (2001) ist ein Beispiel dafür, wie tief diese Vorstellung im kollektiven Bewusstsein ausgeprägt ist. Der Titel ist nämlich eine Parodie von GunSaBuIlTsche und „두/頭/Du“ und bezeichnet den Kopf des Menschen oder den Leiter einer Gruppe. Es handelt sich in dem Film um eine fiktive Episode: Ein junger Mafiaboss muss für seine Qualifikation in die Schule gehen, und der Film zeigt, wie er und seine Mitschüler mit den zwei ganz unterschiedlichen Welten der Schule und der Kriminalität umgehen müssen. Die traditionelle Trinität von König, Lehrer und Vater wird im Film verwandelt in eine neue: in die Trinität von Boss, Lehrer und Vater. Auf das soziopädagogische Motiv, warum ein erfolgreicher Mafiaboss unbedingt einen Schulabschluss benötigt, kann hier nicht weiter eingegangen werden. Angemerkt sei nur, dass das Bildungsmotiv der so genannten Zeugnis-Gesellschaft die Erklärung für das heutige Phänomen der extrem hohen Bildungs-aspiration Koreas darstellt. Allein die Tatsache, dass dieser Film ca. 3.500.000 Kinobesucher im Jahr 2001 und 6.105.431 Kinobesucher im Jahr 2006 mit einem Fortsetzungsfilm erreicht hat, zeigt, wie tief und breit der GunSaBuIlTsche-Gedanke im kollektiven Bewusstsein des Landes verankert ist. Die Einwohnerzahl der Bevölkerung Südkoreas im Jahr 2007 beträgt 50.087.307 (Ministry of Government Administration and Home Affair, Pressebericht, 16. Okt. 2007).

  5. Dieses Bild habe ich vor einigen Jahren im Internet ausfindig gemacht. Wann und von wem es stammt, ist mir unbekannt. Obwohl die Kleidermode zur selben Zeit wie der im ersten Bild [Abbildung 1: SeoDang] gehört, kann man nicht feststellen, ob dieses Bild aus derselben Zeit stammt. Eher unüblich sind die bunten Farben des (Original-)Bildes. Sie sind untypisch für die damalige Volkskunst, genauso wie das Malinstrument (d.h. nicht ein Pinsel, sondern eine Art von modernem Stift). Vermutlich diente das Bild dem Zweck, die traditionelle pädagogische Körperstrafe zu illustrieren. Wie auch immer, diese bildhafte Szene ist nicht antiquiert. Zumindest den zeitgenössischen Koreaner befremdet sie nicht. Unabhängig von der Mode und der konkreten Prügelszene, sind die erzieherische Haltung der Strenge, die Erwartung von Gehorsam seitens des zu Erziehenden und die Notwendigkeit der Disziplinierung bis heute selten gebrochen und ungenügend hinterfragt. Dass sie als körperliche Züchtigung erfolgt, wird heute nicht selten als Verstoß gegen das Menschenrecht auf Unverletzbarkeit und Würde kritisiert.

  6. Zur gleichen Formel des pädagogischen Paradoxes von Freiheit und Zwang in der abendländischen Tradition der Pädagogik u.a. „Über Pädagogik“ von Kant 1998; dazu kritisch u.a. Masschelein 1991, S. 5f.; Ricken 1999, S. 94-104.

  7. Bei PISA (Programme for International Student Assessment) 2000 und 2003 belegte Südkorea neben Finnland zweimal hintereinander den zweiten Platz (vgl. Focus, 05.01.05). Japan gehörte ebenfalls zur Führungsgruppe. Dieses Ergebnis verursachte bekannterweise viel Unruhe in der bildungspolitischen Debatte und Reformüberlegungen des Bildungssystems in manchen OECD-Ländern, wie Deutschland und Österreich. Interessanterweise hat die österreichische Zeitung „Der Standard“ einen Artikel mit dem Titel „Schielen zu den Pisa-Strebern“ veröffentlicht (10.12.2004). Darin wird vor allem die landesweit verbreitete Leistungsorientiertheit und Disziplinierung in der koreanischen Schulbildung vorwiegend positiv dargestellt, indem zugleich auf das schulische Förderungssystem und die gesellschaftliche Förderungsstruktur für hohe Leistung verwiesen wird. Bemerkenswert in diesem Artikel ist die Behauptung, dass die konfuzianische Idee von GunSaBuIlTsche (Trinität von König, Lehrer und Eltern) eine der wichtigsten Begründungen für die strenge Disziplinierung in der Erziehung und somit für die bessere Schulleistung darstelle. Ich stimme mit dieser Behauptung, wie oben dargestellt, überein. Allerdings darf nicht unerwähnt bleiben, dass die Kombination von gemeinschaftszentrierter, traditionell-konfuzianischer Vorstellung über Bildung mit der neoliberalen Marktorientierung der Bildung, in der Konkurrenzfähigkeit und die Ideologie der sogenannten HRD (Human Ressource Development) viele unmenschliche Lebensumstände verursacht hat. Die unkontrollierbare Expansion der privaten Bildungsindustrie und ihre dysfunktionalen Effekte auf die öffentliche Schulbildung sind längst zu einem ernsthaften Gesellschaftsproblem geworden, ganz zu schweigen von dem immer noch gravierenden Problem der ungleichen Bildungschancen aufgrund der unterschiedlichen sozio-ökonomischen Hintergründe der Eltern. Nicht zuletzt ist die hohe Selbstmordquote bei Jugendlichen alarmierend. Die Rede von der „Krise des konfuzianischen Kapitalismus“ (vgl. Rhee 1999) kennzeichnet mit Recht die unerfreuliche Wirklichkeit der neuzeitlichen Bildungskultur Koreas. Alle diese Faktoren sind Indizien und Symptome für den mangelnden Respekt vor der Individualität und erweisen sich als unerwünschte Nebenwirkungen der Bildungsinflation, die die Schattenseite der international hohen Anerkennung durch den PISA-Erfolg bilden und viel zu selten bekannt werden.

  8. Die besondere Akzentuierung der Individualität als das höchste Ziel von Bildung und Erziehung kann den falschen Eindruck erwecken, dass es sich um eine subjektmetaphysische Konstruktion, die seit der Aufklärung über die Philanthroposophie bis zur Reformpädagogik in der europäischen Tradition der Pädagogik eine wichtige Rolle gespielt hat, handle. Auf die kritische Revision der subjektmetaphysischen Position in der modernen Pädagogik und ein neuzeitlich-alternativer Rekonstruktionsversuch der Subjektivität, nämlich der Mensch als ein nicht-intentionales, intersubjektiv-leibliches und kontingentes Wesen, kann hier nicht eingegangen werden und es sei u.a. auf die folgenden Arbeiten verwiesen (vgl. Woo 2007; Lippitz 2008). Das Konzept der Individualität in dieser Arbeit hat mit der westlich-europäischen Subjektmetaphysik wenig zu tun. Dieses versteht sich eher als eine Konsequenz kritischer Reflexion des kosmologischen Systemgedankens von dem Quasi-Konfuzianismus, in dessen Geschichte Würde und Bedeutsamkeit einzelner Menschen ins Vergessen geraten sind und zum Opfer der pädagogisch wohl gemeinten gesellschaftsstrukturellen Gewalt gebracht wurden.

Literatur

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Weitere Quellen

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  • Ministerium für Government Administration und Haushalt, Südkorea, Pressebericht (16.10.2007).

Abbildungsverzeichnis

  • Abb. 1 „SeoDang“ von Hong-Do Kim (1745-1816)

  • Abb. 2 Körperstrafe (Quelle unbekannt)

  • Abb. 3 http://www.kyef.org/bbs/zboard.php?id=calrum&no=90)

  • Abb. 4 Schulversammlung beim Sportfest (HanGyoReh-Zeitung, 26.11.2006, Korea).

  • Abb. 5-6 Schule mit wechselseitigem Unterricht während der Schreibübung (Foucault „Überwachen und Strafen“, 1994)

  • Abb. 7-8 Schönschreiben, Korea (Schulbuch-Koreanisch, Grundschulklasse1-1, Schreiben. (Ministerium für Bildung und Human Ressource, 2007)

  • Abb. 9-10 Schönschreiben (Foucault „Überwachen und Strafen“, 1994)

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Correspondence to Jeong-Gil Woo.

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1Dieser Artikel ist eine überarbeitete Fassung des Vortrags „Erziehung und Bildung in Korea: Aspekte interkultureller Erziehung“, den ich im Rahmen der Vorlesung „Kulturelle Bedingtheit von Bildung und Erziehung“ von Prof. Wilfried Lippitz im Wintersemester (18.01.2006) an der Justus-Liebig Universität Gießen gehalten habe. Ich bedanke mich herzlich bei Prof. Lippitz für den Anlass und seine interkulturell-produktiven Vorschläge bezüglich der Veröffentlichung dieses Artikels.

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Woo, JG. Konfuzianismus im pädagogischen Alltag Südkoreas – Aus kulturvergleichender und autobiographischer Sicht1 . ZfE 11, 475–491 (2008). https://doi.org/10.1007/s11618-008-0035-1

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