1 Einleitung: Gesellschaftliche Teilhabe als forschungsethische Handlungsmaxime

2006 beschlossen die Vereinten Nationen die Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung (UN-BRK). Diese verpflichtet öffentliche Stellen, Menschen mit BehinderungFootnote 1 Teilhabe zu ermöglichen und Barrierefreiheit zu gewährleisten. Zu diesen Menschen zählen alle Menschen, „die langfristige körperliche, seelische, geistige oder Sinnesschädigungen haben, welche sie in der Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern können“ (UN-BRK 2006, Art. 1). Als Bekenntnis der Weltgemeinschaft wurde das Weltaktionsprogramm für Menschen mit Behinderungen 1982 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen angenommen (UN 1982). Als Vorläufer der UN-BRK formulierte es erstmals konkrete Maßnahmen und Anregungen, um die volle Teilhabe und Gleichbehandlung aller Menschen im gesellschaftlichen Leben zu fördern. Besonders prominent sind hier Gleichheit und Gerechtigkeit. Niemand darf wegen körperlicher, geistiger oder psychischer Einschränkungen vom gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen werden (GG 2022, Art. 3). Die Neufassung des Behindertengleichstellungsgesetzes (BGG) nahm 2001 hier eine Kehrtwende vor, wie dies zu erreichen ist. Die bis dato vorherrschende Sichtweise setzte nicht bei der Umwelt, sondern bei den Menschen mit Behinderungen an, die so mit Hilfsmitteln ausgestattet werden sollten, dass sie mit der Umwelt zurechtkommen konnten (Bundesfachstelle 2024). Leitgedanke des BGG ist es nun, dass die Inklusion der Betroffenen nur gelingen kann, wenn die Umwelt barrierefrei ist (Deutscher Bundestag 2001). Um Gleichheit und Gerechtigkeit zu erreichen, geht es im Sinne eines ‚universal design‘ um eine allgemeine barrierefreie Gestaltung des Lebensumfeldes für alle Menschen, die möglichst niemanden ausschließt und von allen gleichermaßen genutzt werden kann (Bundesfachstelle 2024).

Aspekte von Inklusion und Barrierefreiheit wurden jedoch bislang in der kommunikationswissenschaftlichen Forschung kaum diskutiert. Beide Aspekte sind Teil der Forschungsethik und können nicht isoliert betrachtet werden. Die in den vergangenen Jahren begonnene Reflexion forschungsethischer Fragen in der Kommunikationswissenschaft (vgl. Roehse et al. 2023; Schlütz und Zillich 2023; Kunzelmann 2019; RatSWD 2017) bietet aus unserer Sicht einen geeigneten Ausgangspunkt, Fragen von Inklusion und Barrierefreiheit in der kommunikationswissenschaftlichen Forschung zu thematisieren. Um einen ersten Überblick zur Problemstellung zu schaffen, folgt der Beitrag nicht dem üblichen Prinzip einer wissenschaftlichen Studie, sondern nähert sich dem Themenfeld aus unterschiedlichen Perspektiven an.

Die Relevanz ergibt sich auch aus der Anzahl der Betroffenen. In Europa sind mehr als 87 Mio. Menschen von Behinderungen betroffen. Diese Menschen haben ein 50 % höheres Risiko des sozialen Ausschlusses (vgl. Eurostat 2019). Allein in Deutschland leben derzeit etwa 8 Mio. schwerbehinderte Menschen, darunter rund 350.000 Blinde oder Sehbehinderte, mehr als 320.000 Menschen mit Sprach- oder Sprechstörungen, weitere 1,7 Mio. Schwerbehinderte sind querschnittsgelähmt, haben zerebrale Störungen, geistig-seelische Behinderungen oder sind aufgrund von Suchtkrankheiten schwerbehindert (vgl. Statistisches Bundesamt 2020). Weitere 1,5 Mio. Erwachsene sind demenzkrank (vgl. Statistisches Bundesamt 2020). Etwa 40 % der Erwachsenen besitzen defizitäre Lese- und Schreibkompetenzen, das sind immerhin etwa 21 Mio. Menschen (vgl. Rink 2018, S. 36). Mehr als ein Viertel der deutschen Bevölkerung verfügt über einen Migrationshintergrund im engeren Sinn. Das bedeutet, dass diese Menschen keine Muttersprachler sind (vgl. Statistisches Bundesamt 2023).

Je nach Betrachtungsweise werden somit mindestens ein Fünftel der in Deutschland lebenden Menschen im Alltag durch Barrieren behindert oder sind in vom gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen. Auch diese Menschen sollten möglichst gleichberechtigt an öffentlicher Kommunikation teilhaben können (vgl. Haage 2021). Sie sollten aber auch in der Forschung angemessen berücksichtigt werden. Zumal wenn gesellschaftspolitische Entscheidungen evidenzbasiert sein sollen. Sonst würden die Meinungen und Bedürfnisse von Menschen mit Einschränkungen bei solchen Entscheidungen nicht oder nicht angemessen berücksichtigt. Deshalb befasst sich der vorliegende Beitrag mit der Frage, wie kommunikationswissenschaftliche Forschung Menschen mit Einschränkungen berücksichtigt. Der Begriff Einschränkungen wird im vorliegenden Beitrag bewusst verwendet. Es geht nicht nur um Menschen mit anerkannten Behinderungen. Es geht um alle Menschen, die aufgrund unterschiedlicher Barrieren von der Forschung ausgeschlossen werden.

Im Vordergrund einer Forschungsethik steht die Reflexion der eigenen Handlungsentscheidungen und die Abwägung unterschiedlicher Interessen und Rechte (Schlütz und Möhring 2016, S. 484). In diesem „Orientierungsrahmen für Forschende zur Reflexion ihrer Praxis“ (RatSWD 2017, S. 15) bildet die Forderung nach Gerechtigkeit den Ausgangspunkt unserer Darstellung. Der Beitrag diskutiert hier die Schnittmenge mit Inklusion und Barrierefreiheit und berücksichtigt rechtliche Anforderungen an deren Umsetzung. Die Frage nach der Inklusion in der kommunikationswissenschaftlichen Forschung wird im Beitrag gleichgesetzt mit der Frage, wie Menschen mit Einschränkungen in der kommunikationswissenschaftlichen Forschung berücksichtigt werden (vgl. Edler 2020). Inklusive Forschung wird hier nicht als spezifische Methode, sondern als eine generelle Herangehensweise verstanden (vgl. Walmsley und Johnson 2003). Demgegenüber stehen bei der Frage nach Barrierefreiheit die verwendeten Mittel im Kontext der Durchführung kommunikationswissenschaftlicher Studien im Fokus. Im vorliegenden Beitrag wird daher der Begriff Barrierefreiheit analog des Behindertengleichstellungsgesetztes als ein allgemeines Gestaltungsprinzip der Umwelt verstanden (BGG 2002, § 4), was etwas anderes ist als eine individuelle Gestaltung für eine konkrete Person mit ihren Bedürfnissen (Bundesfachstelle 2024).

Inklusion und Barrierefreiheit haben viele Überschneidungen, sind aber nicht deckungsgleich. So gibt es beispielsweise Anforderungen an die technische Barrierefreiheit, die nicht oder allenfalls nur indirekt der Inklusion dienen. Und Fragen nach der Inklusion beispielsweise nicht binärer Menschen haben in der Regel nichts mit Barrierefreiheit zu tun. Im Weiteren werden deshalb nur die Bereiche betrachtet, die in den Schnittmengen zwischen den Anforderungen von Forschungsethik, Inklusion und Barrierefreiheit in Bezug auf die kommunikationswissenschaftliche Forschung und Lehre liegen (vgl. Abb. 1). Dabei richtet die Perspektive der Barrierefreiheit den Fokus auf die notwendigen Gestaltungsprinzipien der Forschung, also zum Beispiel die Gestaltung von Online-Fragebögen. Für diese Mittel gibt es unterschiedliche rechtliche Anforderungen. Die Inklusionsperspektive richtet demgegenüber normativ den Blick auf die Anlage und die Durchführung von Studien: welche Fragen werden von wem an welchen Objekten untersucht.

Abb. 1
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Grundlagen des Beitrags

Der vorliegende Beitrag ist folgendermaßen gegliedert. In Abschn. 2 werden Fragen der Forschungsethik mit dem Schwerpunkt auf die Forderung nach Gerechtigkeit vorgestellt und deren Verhältnis zu Aspekten von Inklusion und Barrierefreiheit diskutiert. In Abschn. 3 werden wichtige rechtliche Vorgaben in Bezug auf Inklusion und Barrierefreiheit aufgeführt, die in der Forschung zu berücksichtigen sind. Uns erscheint das wichtig, da es insbesondere für den Online-Bereich genaue Vorgaben gibt. In Abschn. 4 wird eine Befragung zur Forschungspraxis kommunikationswissenschaftlich Forschender vorgestellt. Die Ergebnisse geben Auskunft über die Bekanntheit der rechtlichen Vorgaben sowie dem status quo der praktischen Umsetzung von Barrierefreiheit in empirischen Forschungsprojekten. In Abschn. 5 richtet sich der Blick auf Inklusion in der kommunikationswissenschaftlichen Forschung. Dabei werden zunächst Ergebnisse einer Analyse kommunikationswissenschaftlicher Publikationen mit Inklusionsbezug vorgestellt. Im Zentrum steht die Frage, ob Inklusion nur Gegenstand der Forschung ist oder Personen mit Einschränkungen auch untersucht werden oder sogar in der Studienkonzeption und Durchführung mitgearbeitet haben. Dann wird exemplarisch eine inklusive Methodenstudie zu barrierefreien Online-Umfragen vorgestellt. In Abschn. 6 fassen wir die wichtigsten Ergebnisse des Beitrags zusammen und diskutieren die Implikationen für die kommunikationswissenschaftliche Forschung und Praxis.

2 Barrierefreiheit und inklusive Forschung aus Sicht der Forschungsethik

Forschungsethik ist zwischen den rechtlichen Fragen wie dem Datenschutz und methodischen beziehungsweise methodologischen Fragen angesiedelt (vgl. Unger et al. 2014, S. 2). Sich mit forschungsethischen Fragen auseinanderzusetzen und die eigene Forschung zu reflektieren, gehört mithin zur guten wissenschaftlichen Praxis. So bezeichnen Unger et al. (2014, S. 2) forschungsethische und methodische Fragen als „zwei Seiten einer Medaille“. Weil fast jede methodische Frage auch eine forschungsethische Komponente hat.

2.1 Forschungsethische Prinzipien

Die Anforderungen der Forschungsethischen Kodizes lassen sich in zwei Bereiche einordnen. Zum einen betreffen sie die Verhaltensweisen der Forschenden selbst (an den Forschenden orientiert), dazu gehören Wahrheit, Integrität und Erkenntnisgewinn (vgl. ALLEA 2023; DGPuK 2017; ICA 2019). Zum anderen geht es um spezifische Anforderungen, die die Beziehung zwischen den Forschenden untereinander, zwischen Forschenden und Teilnehmenden sowie die Rechte der Teilnehmenden regeln. Die Prinzipien, welche die Teilnehmerinnen und Teilnehmer betreffen, lassen sich im Überschneidungsbereich zwischen Forschungsethik, Barrierefreiheit und Inklusion (vgl. Abb. 1) verorten und sind daher Gegenstand des Abschnitts.

Im Ethik-Kodex der Deutschen Gesellschaft für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft (DGPuK) werden Forschende dazu aufgefordert, Persönlichkeitsrechte, Anonymität und Freiwilligkeit zu berücksichtigen und die Selbstbestimmung durch eine informierte Einwilligung zu gewährleisten (vgl. DGPuK 2017). Laut der European Communication Research and Education Association (ECREA) gehört die Forderung nach Werten wie Gerechtigkeit, Vielfalt und Inklusion zu einer guten wissenschaftlichen Praxis (vgl. ALLEA 2023). Die International Communication Association (ICA) erwartet, die forschungsethischen Prinzipien Autonomie, Wohltätigkeit und Gerechtigkeit in der Forschung zu wahren und zu fördern. „ICA expects researchers to take care to address the specific needs of vulnerable populations in their research, such as children, refugees, people who are mentally unwell, etc“ (ICA 2019).

In der Fachliteratur werden drei Leitprinzipien der Forschungsethik für die Forschung an Menschen genannt. Im englischsprachigen Raum sind diese als „respect for persons“, „beneficence“ und „justice“ (vgl. Fox et al. 2021, S. 765) bekannt. Im deutschsprachigen Raum werden die Prinzipien Selbstbestimmung, Nichtschaden und Gerechtigkeit hervorgehoben (vgl. Möhring und Schlütz 2019, S. 3). Das erste Prinzip, „respect for persons“ beziehungsweise Selbstbestimmung, bedeutet, dass Menschen nicht als Objekte gesehen werden dürfen, sondern als Subjekte. Sie sollen die Möglichkeit haben, selbst über die Teilnahme an der Forschung zu entscheiden (vgl. Fox et al. 2021, S. 766). Teilnehmerinnen und Teilnehmer müssen detailliert über eine Studie und deren Ziele sowie über die Veröffentlichung von Ergebnissen informiert werden. Sie sollen die Möglichkeit haben, der Teilnahme zuzustimmen oder diese abzulehnen. Die Zustimmung zu dieser Informierten Einwilligung (informed consent) muss wiederrufbar sein (vgl. Möhring und Schlütz 2019, S. 3). Die darin enthaltenen Informationen über die Studie und ihren Ablauf sollen vollständig und vor allem verständlich dargestellt werden (vgl. Möhring und Schlütz 2019, S. 7). Die Wissenschaft soll die Bedürfnisse unterschiedlicher Gruppen von Menschen berücksichtigen (vgl. Fox et al. 2021, S. 766).

Als zweites wichtige Prinzip wird „beneficence“ beziehungsweise Nichtschaden der Teilnehmerinnen und Teilnehmern genannt. Darunter wird die Minimierung von Schäden verstanden. Zusätzlich soll auch ein Nutzen für die Teilnehmerinnen und Teilnehmer durch die Forschung entstehen (vgl. Fox et al. 2021, S. 766). Der Nutzen kann unterschiedlich ausfallen. Schlütz und Zillich (2023, S. 8–9) verweisen auf finanzielle Incentives oder auf Creditpoints für teilnehmende Studierende. Anders als in medizinischen Studien werden in der sozialwissenschaftlichen Forschung allgemein geringere Schäden für die Teilnehmenden angenommen. Dazu gehört eine mögliche kognitive oder/und emotionale Belastung bei der Teilnahme an einem Experiment. Daher müssen mögliche Beeinträchtigungen sowie der erwartete Nutzen in einem angemessenen Verhältnis stehen. Im Falle eines sensiblen Themenbereiches, wie bei Fragen zur persönlichen Gesundheit oder bei belastenden Inhalten, sollen die Teilnehmenden im Vorfeld durch Vorab-Hinweise informiert werden (vgl. Schlütz und Zillich 2023, S. 8).

Beim Prinzip der Gerechtigkeit geht es um zwei relevante Punkte. Zum einen wird darunter eine „faire Teilhabe am wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn für alle Menschen“ (Möhring und Schlütz 2019, S. 9) verstanden. Alle Menschen sollen unabhängig von ihrem Gesundheitszustand, ihrem Bildungsniveau oder ihrem sozialen Status Teil an der Forschung haben können. Zum anderen geht es darum, die Belastung zwischen den Teilnehmenden fair zu verteilen. Beispielsweise sollte in einer Experimentalstudie die Zuteilung des Stimulus zu den einzelnen Versuchsgruppen randomisiert vorgenommen werden (vgl. Möhring und Schlütz 2019, S. 9). Fox et al. (2021, S. 775) plädieren für mehr Gerechtigkeit in allen Bereichen der Forschung. Kein Mensch oder Gruppen von Menschen sollen ausgeschlossen werden.

Wenn vulnerable oder marginalisierte Gruppen miteinbezogen werden, ist umso wichtiger, die ethischen Prinzipien in der Forschung zu beachten. Unter vulnerablen Gruppen versteht man Menschen, die nicht in der Lage sind, Herausforderungen aus eigener Kraft zu bewältigen und daher unter Krisen besonders leiden (vgl. BMZ 2023; Dederich 2017). So werden beispielsweise Menschen, die selbst Gewalt erfahren haben, in der Forschung als vulnerable Gruppe verstanden, wenn der Gegenstand der Untersuchung sich explizit mit dem Thema Gewalt beschäftigt. Unter marginalisierten Gruppen werden Menschen verstanden, die aufgrund externer Faktoren vernachlässigt werden und nicht die gleichen Chancen im Leben bekommen wie andere. Dazu gehören beispielsweise Arbeitslose, Menschen mit Migrationshintergrund, ältere Menschen oder sozial ausgeschlossene Gruppen (vgl. Soros Foundations Network 2010, S. 19).

Die drei genannten Prinzipien sind nicht hierarchisch, sondern auf einer Ebene zu betrachten. Sie beeinflussen sich gegenseitig und es ist nicht möglich, sie voneinander abzugrenzen oder sie zu priorisieren. Dennoch kann das Prinzip der Gerechtigkeit als das Hauptprinzip bzw. das Hauptziel betrachtet werden, welche die zwei anderen Prinzipien verbindet. Im Idealfall würde die Umsetzung des Gerechtigkeitsprinzips bedeuten, dass die Forschung zielgruppengerecht zu gestalten ist. Das bedeutet, dass Zugänglichkeit, Lesbarkeit und Verständlichkeit für alle potenziellen Teilnehmerinnen und Teilnehmer gewährleistet sind. Bei einer heterogenen Gruppe, wie der deutschen Bevölkerung in einer repräsentativen Befragungsstudie, würde Gerechtigkeit erreicht werden können, indem man unterschiedliche Fragebogenversionen erstellt. Eine Fragebogenversion könnte beispielsweise für Menschen mit kognitiven Einschränkungen darauf ausgerichtet sein, den Informationsgehalt in möglichst einfacher Sprache zu verdichten. Die kognitive Belastung der Teilnehmenden wäre geringer, so dass teilweise auch das Nichtschadensprinzip eingehalten werden könnte.

Eine andere Möglichkeit bietet die Umsetzung entsprechend des „Designs für alle“-Ansatzes. „Universal design means the design of products, environments, programmes and services to be usable by all people, to the greatest extent possible, without the need for adaptation or specialized design. „Universal design“ shall not exclude assistive devices for particular groups of persons with disabilities where this is needed.“ (UN-BRK 2006, Art. 2) Dieses Konzept kann als das Bindeglied zwischen dem forschungsethischen Prinzip Gerechtigkeit sowie der forschungspraktischen Umsetzung gesehen werden.

2.2 Bezüge zu Barrierefreiheit und inklusiver Forschung

Das obengenannte Beispiel verdeutlicht zwei wichtige Aspekte: Gerechtigkeit ist nicht nur aus forschungsethischen Gründen wichtig, sondern auch im Sinne von Inklusion und Teilhabe (UN-BRK 2006). Es ist allerdings aufwendig, Gerechtigkeit in der alltäglichen Forschungspraxis umzusetzen, da dies zeitliche und finanzielle Ressourcen beanspruchtFootnote 2.

Forschungsethische Überlegungen fordern die Forschenden daher in erster Linie dazu auf, ihre Forschungsmethoden sowie ihr Forschungshandeln zu überdenken und auf das Gerechtigkeitsprinzip auszurichten. Zugang, Zugänglichkeit und Verständlichkeit sind einerseits Anforderungen der Forschungsethik, welche direkt auf Barrierefreiheit verweisen und diese fordern. Barrierefreiheit trägt andererseits zur Förderung der Inklusion der von einem Ausschluss Betroffenen bei.

Betrachtet man Belastung als eine Barriere für die Teilnahme an einer Befragung, wurde dies früher als statische Eigenschaft überwiegend des Instruments betrachtet (vgl. Read 2019). Die Länge der Erhebung, der Aufwand, der für die Durchführung erforderlich ist, das Ausmaß der emotionalen Belastung und die Häufigkeit der Befragung galten als wichtigste Faktoren, die für die Belastung ausschlaggebend sind (vgl. Bradburn 1978). Da die Belastungsgrenzen, wie zum Beispiel bei der Aufmerksamkeit (vgl. Crawford et al. 2001, S. 161), jedoch für alle Menschen individuell sind, können weitere Barrieren im Verlauf der Forschung entstehen. Subjektive und objektive Belastungen können zudem getrennt voneinander auftreten und werden daher heute als dynamisch betrachtet (vgl. Read 2019, S. 62).

Unter Berücksichtigung dieser Überlegungen muss eine Befragung für Kinder und Jugendliche anders gestaltet werden als für Erwachsene (vgl. Walther et al. 2010). Aber auch zwischen Erwachsenen bestehen Unterschiede. Eine Person mit geistigen Einschränkungen kann kognitiv nicht so hoch beansprucht werden, wie eine Person ohne geistige Einschränkungen (vgl. Coons und Watson 2013). Ebenso unterscheiden sich die sprachlichen Fähigkeiten sowie der Wortschatz zwischen Erwachsenen abhängig von ihrem Bildungsniveau (vgl. Conrad et al. 2006). Sehr wissenschaftlich geprägte Texte oder bestimmte Fragen einer Befragung können für Menschen mit niedrigerer Bildung oder für Menschen mit Migrationshintergrund und damit geringeren Sprachkenntnissen eine unüberwindbare Barriere sein (vgl. Lange und Bock 2016). Eine erste Barriere kann bereits die Lesbarkeit und Verständlichkeit der Informationen zu Studien darstellen. Unabhängig von rechtlichen Anforderungen zum Datenschutz ist aus der Sicht der Forschungsethik daher eine informierte Einwilligung unverzichtbar. Diese ist jedoch wiederum nicht barrierefrei, wenn sie ausschließlich in Wissenschaftssprache verfasst ist. Zu kleine Schriften innerhalb von Befragungen können dazu beitragen, dass ältere Menschen mit schwächerer Sehkraft nicht mehr in der Lage sind, diese zu lesen. Auch Antwortskalen können Menschen mit Einschränkungen belasten, da die Bedeutung unbeschrifteter Abstufungen interpretiert werden muss. Vollverbalisierte Ratingskalen mit einer moderaten Anzahl an Kategorien können insbesondere die befragten Personen mit geringer formaler Bildung unterstützen (vgl. Menold und Bogner 2014). Für Menschen mit eingeschränkten Möglichkeiten, die Hand zu bewegen, ist es hingegen schwer oder unmöglich einen Schieberegler zu betätigen, wenn dieser mit der Maus eingestellt werden muss. Eine Befragung für blinde Menschen barrierefrei zu gestalten, erfordert die Berücksichtigung weiterer Merkmale (Dobroschke und Kahlisch 2018).

Diese Beispiele zeigen, dass es für die Forschenden einen Mehraufwand bedeuten kann, schwer befragbare Gruppen (vgl. Wist et al. 2021) mit zu berücksichtigen. Im Einzelfall kann dieser Mehraufwand auch von den Forschenden als Belastung wahrgenommen werden. Aber diese Belastung wäre im Sinne der Forschungsethik aus Sicht der Autoren unvermeidbar, um Gerechtigkeit sicherzustellen und um alle Menschen zu erreichen.

Bei der Barrierefreiheit von Forschung ist auch die Maxime des Abwendens von Schaden relevant. Hier geht es darum, ob den Teilnehmerinnen und Teilnehmern ein Schaden entstehen könnte. Aus Sicht der Barrierefreiheit stellt sich aber auch die Frage des Schadens durch eine Nicht-Teilnahme an Studien, wenn es um evidenzbasierte politische Entscheidungen geht. Ein weiterer Schaden entsteht, wenn Menschen gern teilnehmen möchten, sie aber bei dem Versuch scheitern, weil die Erhebung nicht barrierefrei ist. Das ist individuell frustrierend. Ethisch bedenklich wären auch Untersuchungen in einer sozialen Situation, wenn ein Schaden durch Bloßstellung oder Diskriminierung entsteht.

Die konsequent barrierefreie Gestaltung von Befragungen, beginnend bei der Konzeption bis hin zur Feldphase, stellt daher Herausforderungen an die Forschenden. Dazu müssen zunächst alle denkbaren Barrieren und mögliche Hilfsmittel zur Behebung für diese Barrieren identifiziert werden. Als methodische Vorgehensweise bieten sich hier Strategien der inklusiven Forschung an. In der Literatur gibt es keine einheitliche Definition oder Einordnung des Begriffs „Inklusive Forschung“. Einige Autorinnen und Autoren betrachten inklusive Forschung als Teil der partizipativen Forschung (vgl. Hauser 2020; Unger et al. 2014), während andere sie als Oberbegriff für alle partizipativen Ansätze verwenden (vgl. Nind 2014; Walmsley und Johnson 2003). Teilweise werden die Begriffe gleichwertig oder synonym verwendet (vgl. Dederich 2017). Für die weitere Betrachtung orientieren wir uns an Walmsley und Johnson (2003):

“Such research involves people who may otherwise be seen as subjects for the research as instigators of ideas, research designers, interviewers, data analysts, authors, disseminators, and users. Each of these forms of research has specific meanings for those who espouse it; each is privileged territory for certain groups of researchers. It is for these reasons that we have decided to use the term inclusive research” (Walmsley und Johnson 2003, S. 10)

Inklusive Forschung soll demnach die Interessen von Menschen mit Einschränkungen fördern und auch für den Forschungsprozess Gerechtigkeit herstellen, indem Personen mit körperlichen und geistigen Einschränkungen angemessen an der Forschung beteiligt werden (vgl. Edler 2020, S. 51). Menschen mit körperlichen oder geistigen Einschränkungen werden daher in der inklusiven Forschung als Co-Forschende in den Forschungsprozess integriert (vgl. Walmsley und Johnson 2003, S. 64). Dafür wird auch der Begriff Co-Creation verwendet (vgl. Dreyer et al. 2018; Konrad et al. 2019). Forschungsfragen, Aufbau und Ablauf des Forschungsprojekts werden dann mit diesem Personenkreis zusammen bearbeitet. In der Darstellung der Ergebnisse wird darauf geachtet, dass diese entsprechend den Anforderungen an Barrierefreiheit für alle Menschen auffindbar, zugänglich und verständlich sind (vgl. Rink 2018; Schubert 2016; Walmsley und Johnson 2003). Inklusive Forschungsstrategien können auch als wichtiger Beitrag zur Ermächtigung von Menschen mit geistigen Einschränkungen gesehen werden, wodurch deren Möglichkeiten zur Selbstbestimmung und Teilhabe gestärkt werden (vgl. Dederich 2017). Auch neue Technologien können hier einen wichtigen Beitrag leisten, jedoch können sich aus einer forschungsethischen Perspektive daraus wiederum weitere Herausforderungen ergeben (vgl. Kunzelmann 2019).

Die ersten inklusiven Studien stammen aus England, Australien und den USA (vgl. Buchner et al. 2011). Im deutschsprachigen Raum ist die Entwicklung der inklusiven Forschung erst ab dem Jahr 2000 zu beobachten (vgl. Edler 2020, S. 29). Im Bereich der kommunikationswissenschaftlichen Methodenforschung kann das Prinzip der inklusiven Forschung genutzt werden, um zunächst Barrieren für Menschen mit Einschränkungen zu identifizieren und mögliche Hilfsmittel zur Überwindung dieser Barrieren zu ermitteln (siehe 5.2). Diese Vorgehensweise ist gleichermaßen auf andere Fragestellungen anwendbar.

3 Anforderungen an barrierefreie Forschung

Gerecht ist es, wenn alle Menschen barrierefrei an der Forschung teilnehmen können. Die Anforderungen zur Umsetzung von Barrierefreiheit in der Forschung sind auf globaler, europäischer und auf einer nationalen Ebene angesiedelt. Rechtlich verbindliche Regelungen werden durch Empfehlungen von Interessenverbänden oder von Normungsinstitutionen ergänzt. Das folgende Kapitel gibt hierzu einen ersten Überblick für das Fach.

3.1 Hintergrund

Auf einer globalen Ebene verpflichtet die UN-BRK (2006) öffentliche Stellen, Menschen mit Behinderung Teilhabe zu ermöglichen und Barrierefreiheit in allen Bereichen zu gewährleisten. Die Web Accessibility-Richtlinie der Europäischen Union über den barrierefreien Zugang zu Websites und mobilen Anwendungen öffentlicher Stellen griff bereits 2016 diese Verpflichtung auf (EU-RL 2016/2102). Von der Bundesrepublik und anderen Mitgliedsstaaten der EU wurde diese wichtigste europäische Rahmenregelung zur Barrierefreiheit dann in nationale Gesetze und Verordnungen überführt, welche deren Umsetzung präzisieren.

Vor allem Paragraph 4 des Behindertengleichstellungsgesetzes (Behindertengleichstellungsgesetz 2022) regelt die allgemeinen Grundsätze der Barrierefreiheit. Auf Ebene der Bundesländer setzen Landesgesetze den Ordnungsrahmen, um Benachteiligungen zu beseitigen sowie eine gleichberechtigte Teilhabe aller Menschen zu ermöglichen. Dort, wo es keine entsprechenden Landesgesetze gibt, findet das BGG Anwendung. Zu den öffentlichen Einrichtungen, welche von den Regelungen erfasst sind, zählen alle Organisationen und Körperschaften des Öffentlichen Rechts. Dazu zählen neben Kommunalverwaltungen, Behörden oder staatlichen Schulen auch Universitäten, Fachhochschulen und andere öffentliche Forschungseinrichtungen wie die Akademien der Wissenschaften. Das BGG und die Landesgesetze erstrecken sich aber auch auf Organisationen, Vereinigungen und juristische Personen des Privatrechts, an denen öffentliche Stellen überwiegend beteiligt sind. Dazu können Stiftungen und außeruniversitäre Forschungseinrichtungen zählen, die mit Hochschulen kooperieren. Dies wird dann relevant, wenn diese Einrichtungen an Forschungsprojekten beteiligt sind, diese finanziell maßgeblich unterstützen oder Mitarbeitende oder Promovierende finanzieren oder mit Stipendien fördern.

Öffentliche Stellen des Bundes sowie der Bundesländer sind verpflichtet, ihre Websites und mobilen Anwendungen barrierefrei zu gestalten (vgl. BGG 2022, § 12a, Absatz 1, Satz 1)Footnote 3. Die Barrierefreie-Informationstechnik-Verordnung des Bundes (BITV 2.0) regelt die konkrete Umsetzung (vgl. ITZ Bund 2023). Websites und mobile Web-Anwendungen sind hier definiert als „Auftritte, die mit Webtechnologien, beispielsweise HTML, erstellt sind, über eine individuelle Webadresse erreichbar sind und mit einem Nutzeragenten, beispielsweise Browser, wiedergegeben werden können“ (BITV 2.0 2023, § 2a). Die Verordnung erstreckt sich demnach auch auf alle online-basierten Forschungsinstrumente, auf Forschungssoftware sowie auf elektronische Dokumente.

Die technischen Grundlagen der Barrierefreiheit, welche den gerechten Zugang zur Forschung für alle regeln, sind auf den Ebenen von Standards und Normen angesiedelt. Standards bilden die Grundlagen der Programmierung von Websites wie auch von webbasierten Befragungstools und werden durch einen Zusammenschluss von Organisationen, Unternehmen und Experten entwickelt, dem so genannten World Wide Web Consortium (vgl. W3C 2023). Die technischen Spezifikationen von Webtechnologien des W3C sind in den Web Content Accessibility Guidelines (WCAG) in der Version 2.1 dokumentiert. Die wichtigsten beiden sind die textbasierte Auszeichnungssprache zur Strukturierung elektronischer Dokumente (u. a. Texte, Hyperlinks, Bilder), Hypertext Markup Language (HTML) sowie als Erweiterung die Extensible Markup Language (XML). Darüber hinaus regelt als Teil der WCAG 2.1 die Accessible-Rich-Internet-Applications-(WAI-ARIA)-Richtlinie die Anforderungen an die Bereitstellung von Audio- und Videomaterial sowie von elektronischen Dokumenten.

Europäische und nationale Normungsinstitute wie das Deutsche Institut für Normung e. V. (DIN) greifen diese technischen Standards auf. Normen beschreiben Anforderungen an Produkte, Dienstleistungen oder Verfahren, um deren universelle Verwendung sicherzustellen (vgl. DIN 2023). Gerechtigkeit als forschungsethisch relevanter Aspekt ist somit elementarer Bestandteil der Arbeit von Normungsinstituten, noch bevor diese Normen in das Gesetzgebungsverfahren einfließen. Normen sollen ein für alle faires Verfahren garantieren, dessen Kern die ausgewogene Berücksichtigung ihrer Interessen ist. „Der Inhalt einer Norm wird dabei mit dem Bemühen festgelegt, eine gemeinsame Auffassung zu erreichen, die allgemeine Zustimmung findet.“ (DIN 2023) Im Sinne des Ansatzes einer gerechten Teilhabe an der Forschung für alle Menschen erstrecken sich die technischen Normen somit auch auf Fragen des Gemeinwohls und spiegeln deshalb nicht nur das technisch Machbare, sondern auch das gesellschaftlich Akzeptierte wider (vgl. DIN 2023).

3.2 Rechtliche Anforderungen

Bei den rechtlichen Anforderungen an Forscherinnen und Forscher gilt es zwischen verpflichtenden Aspekten und Maßnahmen mit empfehlendem Charakter zu unterscheiden. Alle Online-AngeboteFootnote 4 müssen zunächst in technischer Hinsicht der Norm EN 301 549 (V2.1.2) entsprechen (vgl. ITZ Bund 2023). Das BGG (2022) sieht keine Ausnahmen von der Verpflichtung zur Barrierefreiheit für die Forschung vor. DIN EN ISO 9241-171 enthält ergänzende Vorgaben für die Zugänglichkeit von (Forschungs‑) Software (DIN 2008). Weitere Normen tragen empfehlenden Charakter. Von Bedeutung ist hier die ISO-Norm ISO/CD 6273 der International Organization for Standardization (ISO), welche Leitlinien für die Befragung von Personen mit eingeschränkten Seh- und Hörfunktionen formuliert (DIN 2024).

Wesentliche Merkmale, welche alle Online-Angebote erfüllen müssen, sind u. a. die uneingeschränkte Zugänglichkeit, die Bedienbarkeit mit der Tastatur sowie die uneingeschränkte Interoperabilität mit assistiven Technologien. Zu diesen zählen (vgl. Hellbusch und Probiesch 2011, S. 9–10):

  • Vergrößerungssysteme und Anwendungen zur Darstellung von Text sowie zur Synchronisierung mit synthetischer Sprache,

  • Screenreader zur Darstellung von Inhalten,

  • Sprachausgaben und Text-to-Speech-Systeme,

  • Spracherkennungssoftware zur Umwandlung von gesprochener Sprache in Text,

  • alternative Tastaturen (Bildschirmtastaturen) und

  • alternative Steuerungsmöglichkeiten.

Die Bewertung des Grades der Barrierefreiheit von Online-Angeboten erfolgt anhand festgelegter, standardisierter und messbarer so genannter Erfolgskriterien. Diese wurden ebenfalls vom W3C-Konsortium entwickelt und in WCAG 2.1 dokumentiert. Zu den Kriterien gehören die vier zentralen Kernprinzipien von Barrierefreiheit Wahrnehmbarkeit, Bedienbarkeit, Verständlichkeit und Robustheit, die somit ebenfalls in einem engen Zusammenhang mit dem Prinzip Gerechtigkeit stehen. Die WCAG 2.1 enthält insgesamt 78 prüfbare Kriterien, welche diesen Kernprinzipien zugeordnet sind. 30 davon umfassen die Konformitätsstufe A, 20 die Konformitätsstufe AA und 28 die höchste Konformitätsstufe AAA. Mit Inkrafttreten der Web Accessibility-Richtlinie im Jahr 2016 ist die Konformität von Online-Angeboten in Stufe AA für Websites und mobile Anwendungen für bestehende Angebote öffentlicher Einrichtungen seit September 2019 und für neue Angebote seit September 2020 verpflichtend (vgl. EU 2016/2102). Insbesondere für Startseiten, Navigationsmöglichkeiten und für alle Funktionen von Websites, die eine Interaktion ermöglichen, sollen nach technischer Möglichkeit auch die Kriterien mit der Konformitätsstufe AAA beachtet werden (vgl. ITZ Bund 2023). Dazu zählen auch Identifizierungs- oder Zahlungsprozesse. Die Umsetzung der technischen Kriterien der HTML-Auszeichnung soll sicherstellen, dass Menschen mit Einschränkungen uneingeschränkten Zugang zu diesen Angeboten haben und diese vollumfänglich von allen genutzt werden können.

Die technischen Spezifikationen der WCAG 2.1 sehen vor, dass alle Online-Angebote ausschließlich entsprechend den HTML-Spezifikationen programmiert und ohne externe Plugins in allen Browsern lauffähig sein müssen. Diese Anforderung gilt auch für Online-Befragungen. Weitere verbindliche Kriterien betreffen vor allem die Struktur des Angebots, die eine Navigation mit Tastatur oder alternativen Eingabemöglichkeiten gewährleisten muss. Alle Überschriften und Absätze sind mit HTML-Attributen und Sprungmarken auszuzeichnen. Werden Grafiken oder Bilder verwendet, sind diese mit Alternativtexten zu hinterlegen, so dass Screenreader diese vorlesen können. Auch alle elektronischen Dokumente wie PDF-Dokumente sind anlog der HTML-Regeln zu gestalten. Ist die Verwendung von Videos vorgesehen, so ist sicherzustellen, dass dieses barrierefrei erreichbar- und bedienbar sind. Dies kann ohne externe Plugins mit dem HTML 5‑Standard erreicht werden. Werden Videoclips verwendet, soll eine Untertitelung sowie eine Audiodeskription bereitgestellt werden. Von beiden Anforderungen profitieren auch Menschen ohne Einschränkungen, nicht-muttersprachliche Personen oder Menschen, die mit ihrem mobilen Endgerät keinen Kopfhörer dabeihaben (vgl. DIAS 2018).

Auf einer inhaltlichen Ebene müssen alle Online-Angebote bestimmte Inhalte verpflichtend auch in Leichter Sprache sowie in Deutscher Gebärdensprache bereitstellen (vgl. BITV 2.0 2023, Anhang 2, Teil 2). Diese Anforderung greift sowohl das Kernprinzip Verständlichkeit von Barrierefreiheit als auch das Prinzip Gerechtigkeit aus der Forschungsethik auf, um sicherzustellen, dass die wesentlichen Inhalte des Angebots von allen verstanden werden können. Verpflichtend in Leichter Sprache zu formulieren sind generell

  • die Home- bzw. Landingpage der Website,

  • die Hinweise zur Navigation,

  • die Einwilligungs- und Datenschutzerklärungen,

  • eine Erläuterung der wesentlichen Inhalte der Erklärung zur Barrierefreiheit sowie

  • eine Erklärung zur Barrierefreiheit.

Die Leichte Sprache ist eine Varietät der deutschen Sprache und hat ihren Ursprung in der US-amerikanischen Empowerment-Bewegung. Sie beansprucht für sich eine erhöhte Wahrnehmbarkeit und Verständlichkeit für Personen mit Leseeinschränkungen (vgl. Bredel und Maaß 2018, S. 251–253). Die BITV 2.0 empfiehlt die Übersetzung von allen Seiten eines Online-Angebots in Leichter Sprache (vgl. ITZ Bund 2023).

Mit der so genannten „Erklärung zur Barrierefreiheit“ sowie mit dem Feedbackmechanismus sollen an dieser Stelle zwei verpflichtende Maßnahmen besonders hervorgehoben werden. Beide Elemente haben ebenfalls einen direkten Bezug zum forschungsethischen Prinzip der Gerechtigkeit. Die Erklärung zur Barrierefreiheit enthält umfassende, detaillierte und klar verständliche Angaben zur Vereinbarkeit mit den Anforderungen zur Barrierefreiheit, so dass die Nutzerinnen und Nutzer schon vorab informiert werden, welchen Stand der Barrierefreiheit das Angebot aufweist (vgl. ITZ Bund 2023). Die Erklärung muss von jeder Seite des Angebots erreichbar sein. Für die Erstellung dieser Erklärung steht ein Muster zur Verfügung (vgl. Europäische Kommission 2018). Weiterhin muss die Erklärung zur Barrierefreiheit auch in Leichter Sprache verfasst sein. Diese Anforderung betont in besonderer Weise das Kernprinzip Verständlichkeit von Barrierefreiheit.

Der so genannte Feedback-Mechanismus ist in erster Linie eine elektronische Kontaktmöglichkeit, über welche Nutzerinnen und Nutzer, die sich von dem entsprechenden Angebot ausgeschlossen fühlen, Barrieren melden können. Auch hier liegt ein direkter Bezug zum forschungsethischen Prinzip der Gerechtigkeit vor. Diese Kontaktmöglichkeit muss ebenfalls von allen Unterseiten sowie von allen Menüs erreichbar sein. Einerseits soll darüber der Kontakt zu den inhaltlich Verantwortlichen des Angebots hergestellt werden können. Andererseits sollen Betroffene eines ungerechtfertigten Ausschlusses von diesem Angebot sich mit einer Beschwerde an die jeweils zuständige Überwachungsstelle wenden können. Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales hat dazu eine Überwachungsstelle des Bundes für Barrierefreiheit von Informationstechnik als eine unabhängige Abteilung der Deutschen Rentenversicherung Knappschaft-Bahn-See eingerichtet (vgl. KBS 2023). Diese ist für Online-Angebote zuständig, welche in den Zuständigkeitsbereich des Bundes fallen. Dazu zählt auch die Website der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Darüber hinaus besitzt jedes Bundesland eine eigene Überwachungsstelle für Online-Angebote im jeweiligen Bundesland. Die Überwachungsstellen des Bundes und der Länder überwachen die Einhaltung der Vorgaben zur Barrierefreiheit durch regelmäßige Stichproben und melden den Stand der Umsetzung an die EU-Kommission. Über das Beschwerderecht der Betroffenen hinaus sieht das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG) ab 2025 ferner ein Klagerecht zur Durchsetzung von Schadensersatzansprüchen vor. Für Universitäten kann dies dann relevant werden, wenn mit Stiftungen oder privatwirtschaftlichen Unternehmen kooperiert wird.

3.3 Umsetzung von Barrierefreiheit in Forschung und Lehre

Die genannten rechtlichen Anforderungen betreffen Forscherinnen und Forscher, Dozentinnen und Dozenten sowie Studentinnen und Studenten der Kommunikationswissenschaft gleichermaßen. Ausnahmen gibt es lediglich für vorhandenes Archivmaterial. Setzt man die rechtlichen Anforderungen zur Barrierefreiheit in Beziehung zur Forschungsethik, erscheint es den Autoren und der Autorin des Beitrages als gerecht, dass keine Hochschule, kein Mitglied der Scientific Community und keine Forschungsmethode von der Verpflichtung zur Barrierefreiheit ausgenommen ist. In dieser Argumentation verwundert es, dass Barrierefreiheit weder in der Satzung der DGPuK noch in den Satzungen der Schwestergesellschaften angrenzender Fächer wie bspw. Soziologie (Deutsche Gesellschaft für Soziologie, DGS), Erziehungswissenschaft (Deutsche Gesellschaft für Erziehungswissenschaft, DGfE) oder Psychologie (Deutsche Gesellschaft für Psychologie, DGPs) weder explizit noch implizit genannt wird.

International hingegen hat der barrierefreie Zugang zu sowie die barrierefreie Teilhabe an der Forschung einen deutlich prominenteren Stellenwert (vgl. ICA 2021a). Selbstkritisch geht die International Communication Association (ICA) mit Versäumnissen der Vergangenheit um: „Though these efforts do not yet reflect the full range of possible interventions, we strive to find solutions that increase access and inclusion for those who have not been served well in the past by our field.“ (ICA 2021b) Auch die International Association of Media and Communication Research (IAMCR) ist hier weiter. Ziele der „Disability and Accessibility Task Force“ der IAMCR sind unter anderem neben Beratungs- und Unterstützungsangeboten ihrer Mitglieder auch „to keep a watching brief on indicators, figures, evaluations, and developments monitoring, benchmarking and evaluating disability inclusion and accessibility in the communications and media field“ (IAMCR 2024).

Barrierefreiheit in der Forschung kann und soll demnach über rechtliche Anforderungen und technische Normierungen hinausgehen, um Teilhabe an der Forschung für alle Menschen zu ermöglichen. Barrierefreiheit in der Forschung erstreckt sich auch auf die Gegenstände der Forschung, ihre Inhalte und Durchführung sowie auf die Forschungsinstrumente selbst. Barrierefreiheit verändert damit Kommunikation, ihre Wirkung, ihre Erforschung und die dazu notwendigen Forschungsmethoden. Barrierefrei sind diese dann, wenn sie „in der allgemein üblichen Weise, ohne besondere Erschwernis und grundsätzlich ohne fremde Hilfe auffindbar, zugänglich und nutzbar sind. Hierbei ist die Nutzung behinderungsbedingt notwendiger Hilfsmittel zulässig“ (BGG 2022, § 4).

Onlinegestützte Erhebungsmethoden, digitale Anwendungen wie Forschungssoftware, elektronische Dokumente wie Beobachtungs- oder Befragungsbögen, Websites, OPAC-Kataloge und Datenbankzugänge, aber auch Lehr- und Präsentationsmaterialien sind grundsätzlich barrierefrei zu gestalten. Diese zentrale Anforderung an die Forschungs- und Lehrpraxis gilt unabhängig davon, ob sich das Angebot an einen internen, einen externen, einen offenen oder an einen abgeschlossenen Personenkreis richtet. Auch elektronisch erstellte Paper-and-Pencil-Fragebögen sowie anderes Material zur Datenerhebung fallen unter die Verpflichtung zur Barrierefreiheit. Diese Verpflichtung gilt unabhängig davon, ob tatsächlich Menschen mit Einschränkungen Teil der jeweiligen Erhebung sind.

Anregungen zur barrierefreien Gestaltung von Forschungsinstrumenten können nur bedingt gegeben werden. Noch liegt für die Kommunikationswissenschaft lediglich eine Handreichung mit den wichtigsten allgemeinen Empfehlungen zur Barrierefreiheit von Online-Inhalten vor (vgl. Gehrau et al. 2024). Basierend auf den WCAG 2.1-Guidelines trifft diese Handreichung Empfehlungen hinsichtlich

  • allgemeiner Anforderungen an die Gestaltung von Online-Inhalten,

  • deren Struktur und Navigation,

  • für die Sicherstellung der Kompatibilität mit verschiedenen Endgeräten,

  • die Gestaltung, Lesbarkeit und Verständlichkeit von Texten,

  • den Aufbau und das Layout von Texten sowie

  • der Verwendung von Bildern und Tabellen.

Diese allgemeinen Empfehlungen können auch auf die Gestaltung von elektronischen Dokumenten angewendet werden, mit denen in Forschung und Lehre gearbeitet wird. Bei online-basierten Forschungsinstrumenten müssen alle funktionellen Komponenten wie Navigation, Buttons, Checkboxen, Skalen oder Eingabefelder mit haptischen und auditiven assistiven Technologien erreichbar und bedienbar sein. Dazu zählen Braille-Tastaturen und Screenreader. Es empfiehlt sich daher, Online-Angebote ausschließlich mit der maschinenlesbaren Auszeichnungssprache HTML zu programmieren. Die Formatierung und Textstrukturierung kann für das Angebot entsprechend den in den WCAG 2.1 formulierten Regeln erfolgen. Das bedeutet auch, dass alle in Online-Befragungen implementierten Interaktionselemente deutlich lesbar und beschriftet sein müssen. Für eingebundene Bilder sind Alternativtexte zu hinterlegen. Diese können von Screenreadern erfasst und wiedergegeben werden. Nur endpunktbenannte, quasi-metrische Antwortformate und Skalen sind dementsprechend nicht barrierefrei und nicht zulässig. Für die Umsetzung von digitalen barrierefreien Angeboten stellt das Bundesministerium des Innern und für Heimat online ein interaktives Tool zur Verfügung, mit welchem sich schon für die Planung ein individueller Anforderungskatalog erstellen lässt (vgl. BMI 2024).

Über diese eher technischen Anforderungen hinaus sind die inhaltlichen sowie sprachlichen Anforderungen an die Forschung die größere Herausforderung. Werden bei experimentellen Befragungen Audio- oder Videodateien verwendet, so sind diese mit einer Audiotranskription zu versehen und in Deutscher Gebärdensprache (DGS) zu übersetzen. Die Verwendung von Leichter Sprache wird generell für Beschriftungen und Alternativtexte empfohlen. Die Startseiten von Befragungen, deren Datenschutzerklärung, die Hinweise zur Navigation, die Einwilligung in die Teilnahme sowie die Erklärung zur Barrierefreiheit sind generell verpflichtend in Leichter Sprache und in DGS zu verfassen (vgl. BITV 2.0 2023, § 4). Dabei gibt es für Videoclips in DGS folgende Mindestanforderungen (vgl. BITV 2.0 2023, Anlage 2, Teil 1):

  • Schatten auf dem Körper der Darstellerin oder des Darstellers sind zu vermeiden. Die Mimik und das Mundbild müssen gut sichtbar sein.

  • Der Hintergrund ist statisch zu gestalten. Ein schwarzer oder weißer Hintergrund ist zu vermeiden.

  • Der Hintergrund sowie die Kleidung und die Hände der Darstellerin oder des Darstellers stehen im Kontrast zueinander. Dabei soll die Kleidung dunkel und einfarbig sein.

  • Das Video ist durch das Logo für die Deutsche Gebärdensprache gekennzeichnet. Die farbliche Gestaltung des Logos kann dem jeweiligen Design des Auftritts angepasst werden.

  • Die Auflösung beträgt mindestens 320 × 240 Pixel.

  • Die Bildfolge beträgt mindestens 25 Bilder je Sekunde.

  • Der Gebärdensprach-Film ist darüber hinaus als Datei zum Herunterladen verfügbar. Es sind Angaben zur Größe der Datei sowie zur Abspieldauer verfügbar.

In Bezug auf die Verwendung von Forschungssoftware wie Facepager gelten die genannten Regelungen entsprechend. Wichtigstes Merkmal ist hier sicherlich der Aspekt der Bedienbarkeit über die Tastatur. Bei webbasierten Browseranwendungen des Fachs wie MeTag oder MeSort gelten analog die Anforderungen, welche an die Startseiten von Websites oder Onlinebefragungen gestellt werden. Das heißt, dass auch diese Online-Angebote ihre Startseiten, die Datenschutzerklärung sowie die Erklärung zur Barrierefreiheit in Leichter Sprache sowie mit einem Video in DGS anbieten müssen.

Die Umsetzung dieser Regelungen wird das Fach auf mehreren Ebenen vor Herausforderungen stellen. Dies wird an anderer Stelle zu diskutieren sein. Über die bereits jetzt gültige Verpflichtung zur Barrierefreiheit hinaus werden mit dem Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (vgl. BFSG 2021) ab Juni 2025 auch private Unternehmen zur Umsetzung von digitaler Barrierefreiheit in die Pflicht genommen werden. Auch hier erscheint es den Autoren und der Autorin aus einer forschungsethischen Perspektive heraus betrachtet gerecht, dass spätestens ab diesem Zeitpunkt die gleichen Anforderungen an die privatwirtschaftliche wie auch an die akademisch organisierte Forschung gestellt werden. Nicht nur in praktischer, sondern vor allem in methodischer und methodologischer Hinsicht werfen die Anforderungen Fragen zur Umsetzung auf. Für die Sensibilisierung und zur zukünftigen Anwendung barrierefreier und inklusiver Forschungsansätze erscheint daher an dieser Stelle auch eine Bestandsaufnahme der Forschungspraxis wichtig.

4 Barrierefreiheit in der kommunikationswissenschaftlichen Forschung

Der folgende Abschnitt beschäftigt sich mit der Frage nach der Barrierefreiheit von empirischer Forschung und deren Umsetzung. Mit Barrierefreiheit steht die Gestaltung der eingesetzten Mittel in Forschungsprojekten im Fokus sowie diejenigen, die über Einsatz und Gestaltung dieser Mittel entscheiden. Dabei werden drei wesentliche Aspekte betrachtet: Welche Anforderungen an Barrierefreiheit kennen die Forscherinnen und Forscher? Wie wichtig sind ihnen die Anforderungen an Barrierefreiheit im Vergleich zu anderen Anforderungen? Welche Mittel für Barrierefreiheit werden in empirischen Studien tatsächlich eingesetzt? Beispielhaft werden hierfür Online-Befragungen herangezogen, weil es für den Online-Bereich konkrete Vorgaben und die meisten Tools zur Umsetzung von Barrierefreiheit gibt. Um die genannten Fragen zu untersuchen, haben wir eine Befragung der Scientific Community unterschiedlicher sozialwissenschaftlicher Disziplinen durchgeführt.

4.1 Ziel und Anlage der Community-Befragung

Die Community-Befragung wurde als vollstandardisierte Online-Befragung über die Plattform SoSci Survey realisiert. Die Befragung wurde Anfang April 2023 gestartet und war bis Ende September 2023 im Feld. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer wurden zum Teil über Einladungsmails der Fachgesellschaften, über E‑Mails an die großen deutschsprachigen Institute sowie über persönliche E‑Mails an Kolleginnen und Kollegen mit der Bitte um Teilnahme und Weitergabe rekrutiert.

Insgesamt haben 352 Personen die Umfrage angemessen bearbeitet. Davon waren gut 60 % Frauen, knapp 40 % Männer und gut 1 % bezeichneten sich als divers. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer waren im Durchschnitt etwa 40 Jahre alt (SD = 11,5; Median = 36) und hatten 11 Jahre Erfahrung mit empirischer Forschung (SD = 10,4; Median = 8). 154 Personen oder gut 40 % stammen aus der Kommunikationswissenschaft. 198 Personen ordneten sich anderen Fächern zu: 18 % der Erziehungswissenschaft, 17 % der Soziologie, 7 % der Psychologie, 6 % der Politikwissenschaft und 9 % anderen Fächern. 85 % der Befragten arbeiteten zum Zeitpunkt der Befragung an Universitäten oder Fachhochschulen, 10 % in Unternehmen. Von den Erstgenannten waren rund die Hälfte auf Promotionsstellen angestellt. Die andere Hälfte hatte PostDoc-Stellen oder Professuren inne. 95 Personen oder 27 % der Befragten geben an, selbst oder im nahen Umfeld von Barrieren betroffen zu sein. Dieser Anteil entspricht etwa der Verteilung innerhalb der Gesamtbevölkerung. 212 Personen oder 60 % der Befragten waren nach eigenen Angaben nicht betroffen. 45 Personen oder 13 % machten dazu keine Angaben.

Die Stichprobe ist nicht repräsentativ. Deshalb wird bei der Auswertung auf die Verwendung von Schätz- oder Testverfahren verzichtet. Die Stichprobe ist aber innerhalb der sozialwissenschaftlichen Fächer breit gestreut und damit zur Erstellung eines ersten Überblicks des Problemfeldes geeignet. In der Auswertung werden jeweils die Angaben von Personen aus der Kommunikationswissenschaft allen anderen Personen gegenübergestellt, um mögliche Besonderheiten der Kommunikationswissenschaft zu identifizieren. Zudem werden Personen mit eigenen Erfahrungen mit Einschränkungen oder solchen im unmittelbarem sozialen Umfeld gegenüber Nicht-Betroffenen kontrastiert. Wir nehmen an, dass die Betroffenheit zu einer erhöhten Sensibilität für Fragen der Barrierefreiheit führt. Das eröffnet auch die Möglichkeit, eventuelle Fächerunterschiede vom Betrag her an den Unterschieden nach Betroffenheit zu relativieren.

4.2 Ergebnisse und Fazit der Community-Befragung

Die erste Frage der Befragung zielte auf die Kenntnis der rechtlichen Anforderungen ab (vgl. Tab. 1). Solche Kenntnisse waren bei den Forschenden kaum vorhanden. Auf einer Skala von 1 (unbekannt) bis 5 (vollständig bekannt) kamen sie auf Mittelwerte zwischen 1,3 und 1,7, also nahe dem Minimum. Einzig die UN-BRK und das BGG kamen auf einen Mittelwert über 1,5. Werte nahe bei 1 waren bei der BITV-Verordnung, den WCAG und den EU-Richtlinien zur Barrierefreiheit festzustellen.

Bei den letzten drei zeigten sich in der Stichprobe kaum Unterschiede zwischen Kommunikationswissenschaft und anderen Fächern. Im Gegensatz dazu waren die UN-Konvention und das Behindertengleichstellungsgesetz in den anderen Fächern um knapp einen halben Skalenpunkt bekannter als in der Kommunikationswissenschaft. Interessanterweise war die Bekanntheit der gesetzlichen Regelungen unter betroffenen Personen nicht größer als unter Nicht-Betroffenen. Und auch hier zeigten sich nur Differenzen bei der UN-Konvention sowie dem Behindertengleichstellungsgesetz zwischen Betroffenen und Nicht-Betroffenen. Allerdings waren diese Differenzen deutlich geringer als zwischen den Fächern.

Die zweite Frage ermittelte die Wichtigkeit unterschiedlicher Anforderungen bei der Konzeption von empirischen Befragungsstudien (vgl. Tab. 2). Dabei fielen die Mittelwerte auf einer Skala von 1 (sehr unwichtig) bis 5 (sehr wichtig) deutlich höher aus. Die höchsten Werte von rund 4,6 wurden für Datenschutz und Anonymität vergeben. Mit Werten über 4 folgten alltagsnahe Formulierungen und allgemeine ethische Anforderungen. Dann kamen methodische Anforderungen wie alltagsnaher Pretest, exakte Formulierungen, umfassende Abdeckung der Population und die Verwendung validierter Skalen mit Mittelwerten knapp unter 4. Die barrierefreie Gestaltung der Erhebung und validierte Skalen rangierten am Ende der Liste vor der kostengünstigen Studienanlage.

Bemerkenswerterweise trat in der Stichprobe nur bei der Barrierefreiheit ein nennenswerter Unterschied zwischen den Fächern auf: Andere Fächer stuften die Wichtigkeit der Barrierefreiheit mit einem Mittelwert von rund 4 wichtiger ein als die Kommunikationswissenschaft mit rund 3,6. Diese Differenz war größer als die entsprechende Differenz zwischen Personen mit versus ohne Betroffenheit einer Barriere-Erfahrung oder Einschränkungen.

Tab. 1 Kenntnis rechtlicher Vorgaben nach Fach und Betroffenheit
Tab. 2 Wichtigkeit von Anforderungen nach Fach und Betroffenheit

Die letzte Frage thematisierte die tatsächliche Umsetzung der hier im Beitrag skizzierten Anforderungen in eigenen Online-Befragungen (vgl. Tab. 3). Da nicht alle Befragten selbst Online-Befragungen durchgeführt haben, reduzierte sich die Anzahl der Antwortenden auf 130 in der Kommunikationswissenschaft sowie auf 140 in den anderen Fächern. Mit einem Mittelwert von deutlich über 4 auf einer Skala von 1 (nie) bis 5 (immer) war die Verwendung möglichst verständlicher Sprache die am häufigsten umgesetzte Anforderung. Danach folgten typische Anforderungen zur methodischen Optimierung wie die Benutzung validierter Skalen, die Möglichkeit, keine Angaben anzukreuzen und die Lesbarkeit auf verschiedenen Endgeräten. Die Angaben unterschieden sich kaum zwischen den Disziplinen.

Systematische Unterschiede von rund einem halben Skalenpunkt traten hingegen in der Stichprobe beim Einsatz Barrieren reduzierender Mittel auf. Diese fanden sich mit Mittelwerten zwischen 2 und 3 am Ende der Liste. Sie wurden deutlich seltener umgesetzt als die anderen Anforderungen. Die Möglichkeit zur Anpassung der Schriftgröße wurde mit einem Mittelwert von rund 2,5 vergleichsweise häufig umgesetzt, dicht gefolgt von der Bedienbarkeit mittels Tastatur. Selten umgesetzt wurde die Umsetzung für Screenreader sowie die Anpassbarkeit des Kontrastes. Bei allen Angaben in der Stichprobe lagen die Werte für die Kommunikationswissenschaft einen halben Skalenpunkt niedriger als bei den anderen Fächern. Das war nicht nur bemerkenswert, weil es konsistent bei allen Hilfen für die Barrierefreiheit auftrat. Es war auch bemerkenswert, weil die Differenz zwischen Kommunikationswissenschaft und den anderen Fächern fast doppelt so groß ausfiel als zwischen Betroffenen und Nicht-Betroffenen von Barrieren und Einschränkungen.

Tab. 3 Eingesetzte Mittel nach Fach und Betroffenheit

Die Ergebnisse der Community-Befragung sind insgesamt eher ernüchternd. Nur wenige Befragte kennen die gesetzlichen Grundlagen und kaum jemand kennt die konkreten Anforderungen an barrierefreie Online-Angebote. Insofern wird kaum jemand bei der Konzeption von Studien auf Fragen der Barrierefreiheit achten. Zwar werden rechtlichen Anforderungen wie dem Datenschutz oder ethische Anforderungen hohe Wichtigkeit bei der Konzeption zugeschrieben. Anforderungen der Barrierefreiheit haben demgegenüber neben niedrigen Kosten die geringste Wichtigkeit. Dementsprechend rangieren Mittel der Barrierefreiheit am Ende der Liste von Mitteln, die bei der eigenen Durchführung von Online-Befragungen tatsächlich eingesetzt wurden. Barrierefreiheit scheint bei den meisten nicht im Relevant-Set der zu beachtenden Anforderungen bei empirischen Studien zu sein. In der Forschungspraxis werden zunächst rechtliche und methodische Anforderungen erfüllt, bevor Anforderungen der Barrierefreiheit zum Tragen kommen.

5 Inklusion in der kommunikationswissenschaftlichen Forschung

In diesem Abschnitt liegt der Fokus auf dem Stellenwert von Inklusion in der kommunikationswissenschaftlichen Forschungspraxis. Damit steht die Frage im Zentrum, auf welche Weise Menschen mit Einschränkungen in der kommunikationswissenschaftlichen Forschung berücksichtigt werden. In Anlehnung an die Disability-Studies (vgl. Nind 2016; Smith-Merry 2019) lassen sich drei Typen unterscheiden: Eine geringe Inklusion weisen Studien auf, bei denen Inklusion nur der Gegenstand der Forschung ist. Bei diesen geht es um Fragen, die Menschen mit Einschränkungen betreffen, ohne dass diese selbst untersucht oder an der Studie beteiligt werden. Eine mittlere Inklusion weisen Studien auf, in denen Menschen mit Einschränkungen untersucht werden. Den höchsten Grad an Inklusion weisen Studien auf, bei denen Menschen mit Einschränkungen an der Konzeption und Durchführung beteiligt sind.

Die Frage, welche Rolle Inklusion in der kommunikationswissenschaftlichen Forschung spielt, lässt sich im Rahmen dieses Beitrags nicht umfassend klären. Stattdessen nähert sich der folgende Abschnitt der Frage aus zwei Perspektiven an. Zunächst wird das Ergebnis einer systematischen Analyse kommunikationswissenschaftlicher Publikationen mit Bezug zur Inklusion vorgestellt. Anschließend wird als Beispiel aus der Forschungspraxis eine kommunikationswissenschaftliche Studie zu Barrierefreiheit vorgestellt, die mit Menschen mit Einschränkungen konzipiert und durchgeführt wurde.

5.1 Inklusion in kommunikationswissenschaftlichen Publikationen

Um einen Überblick zu erhalten, in welcher Art und Weise kommunikationswissenschaftliche Studien Aspekte der Inklusion berücksichtigen, wurde eine systematische Literaturanalyse durchgeführt. Die Recherche relevanter Studien zum Themenfeld orientierte sich am PRISMA-Prinzip (vgl. Moher et al. 2009) und wurde im September 2023 von sechs Codiererinnen und CodierernFootnote 5 durchgeführt. Übergeordnetes Ziel der Methode ist es, die Reproduzierbarkeit der Suche sowie Transparenz und Vollständigkeit für die Dokumentation der gefundenen Quellen zu gewährleisten (vgl. Page et al. 2021).

Die Suchstrategie (vgl. Abb. 2) bestand aus einer Keyword-basierten Suche nach genuin kommunikationswissenschaftlichen Beiträgen auf Deutsch oder Englisch in fünf Fachdatenbanken für den Zeitraum 2000–2023. Zu den Datenbanken gehörten EBSCO – Mass Media Complete, ISI – Web of Knowledge, JSTOR, DOAJ – Database of Open Access Journals sowie SSOAR – Social Science Open Access Repository. Die Suche bestand aus der Kombination von Sachbegriffen zum Thema Inklusion und Einschränkungen (Inklusion, inklusive Forschung, Co-Creation, Behinderung, Beeinträchtigung, Barriere, blind, taub, Handicap) mit jeweils gegenstandsbezogenen Fachbegriffen (Nachrichten, Zeitung, Internet, Social Media, Videospiel, Computerspiel, Film, Radio, Fernsehen, Hörfunk, Rundfunk etc.). Bei den englischsprachigen Datenbanken wurden die englischsprachigen Äquivalente verwendet.

Abb. 2
figure 2

Flow-Chart der Literaturanalyse nach PRISMA

In einem Screening wurden von der Artikel-Basis n = 8052 zunächst alle Artikel ausgeschlossen, die keinen der genannten Begriffe in der jeweiligen Zusammenfassung der Beiträge enthielten. In einer ersten Reduktion des Materials wurden Artikel ausgeschlossen, die nicht im Themenfeld der inklusiven Forschung lagen. In einer weiteren Reduktion wurden Artikel ausgeschlossen, die keinen direkten Bezug zur massenmedialen Kommunikation aufwiesen. Das der Analyse zugrunde liegende Sample bestand abschließend aus n = 171 Artikeln.

Die Analyse zeigt eine deutliche Zunahme an Veröffentlichungen mit Inklusionsbezug im Zeitverlauf. Zwischen 2000 und 2010 sind 32, zwischen 2010 und 2020 72 und in den gut drei Jahren zwischen 2020 und 2023 schon 66 Artikel erschienen. Es wurde codiert, in welchem Verhältnis die Studien zu Menschen mit Einschränkungen stehen. Rund 40 % der Beiträge wiesen eine geringe Inklusion, gut 35 % eine mittlere und gut 15 % einen hohen Grad auf. Dabei war im Zeitverlauf eine leichte Verschiebung von Studien mit geringer Inklusion hin zu Studien mit mittlerer Inklusion zu verzeichnen. Vor 2005 hatten knapp 60 % der Studien eine geringe und 40 % eine mittlere und hohe Inklusion. Nach 2020 hatten nur noch rund 40 % der Studien eine geringe, 40 % hingegen eine mittlere und gut 20 % einen hohen Grad an Inklusion.

Bei kommunikationswissenschaftlichen Studien mit geringer Inklusion handelt es sich weitgehend um Inhaltsanalysen zur medialen Darstellung einzelner Einschränkungen bzw. von Menschen mit Einschränkungen in den Medien. Im Zentrum stand die Darstellung von psychischen Krankheiten. Nachrangig ging es auch um konkrete Einschränkungen wie Taubheit oder Blindheit. Analysiert wurden hauptsächlich die Darstellungen im Film oder in Fernsehangeboten, in Internetangeboten oder in den Printmedien. Gut die Hälfte dieser Studien betrachtete alltägliche Medienangebote. Rund 40 % der Studien nahmen auch Medienangebote in den Blick, die speziell für Menschen mit Einschränkungen konzipiert wurden. Solche Studien sind aus einer übergeordneten ethischen Perspektive dann problematisch, wenn Menschen mit Einschränkungen bloßgestellt werden beziehungsweise ihr spezieller Blickwinkel in der Darstellung unberücksichtigt bleibt.

Studien mit mittlerer Inklusion waren in der Regel als Befragungen von Menschen mit Einschränkungen angelegt. Die Mehrzahl dieser Befragungen fand standardisiert statt. Gegenstand der Befragung waren unterschiedliche Medien, am häufigsten Soziale Netze, das Fernsehen oder Internetangebote. Knapp die Hälfte dieser Studien interessierte sich für Menschen mit Hör-Einschränkungen, knapp ein Viertel für Menschen mit Seh-Einschränkungen. Diese Studien waren weitgehend als Mediennutzungsstudien angelegt. Ähnlich wie bei klassischen Mediennutzungsbefragungen wurde von Menschen mit Einschränkungen erhoben, wie oft sie welche allgemeinen Medienangebote nutzten. Zum einen ging es um die Verbreitung bestimmter Medienangebote unter Menschen mit Einschränkungen, zum anderen um Fragen der Zugänglichkeit und Exklusion. Etliche Untersuchungen waren auch als Rezeptionsstudien angelegt, um die Besonderheiten der kognitiven und emotionalen Verarbeitung von Medienangeboten durch Menschen mit Einschränkungen zu untersuchen. Ethisch betrachtet sind Studien mit mittlerer Inklusion besser als die mit geringer Inklusion, da sie die Besonderheiten von Menschen mit Einschränkungen zu erkennen und verstehen versuchen. Forschungsethisch sind solche Studien aber gegebenenfalls problematisch. Bei einigen Menschen mit Einschränkungen ist das Einholen der informierten Einwilligung ebenso schwer wie das Sicherstellen, dass die Untersuchten ohne unangemessene Belastung an der Studie teilnehmen können und durch die Studie nicht frustriert werden.

Es wurden 28 Studien mit hoher Inklusion identifiziert, bei denen Menschen mit Einschränkungen über das Untersuchtwerden hinaus an der Forschung beteiligt waren oder durch ihre Auskünfte die Art der Forschung mitbestimmt haben. In der Regel handelte es sich dabei um Menschen mit Seh‑, Hör- oder kognitiven Einschränkungen. Oft wurden dabei Fernseh- oder Filmangebote untersucht, vielfach aber auch Angebote im Internet oder in sozialen Netzwerken. Methodisch wurde das fast ausnahmslos über Befragungen meist in nicht-standardisierter Form mit Menschen mit Einschränkungen realisiert, zum Teil kombiniert mit Befragungen von Menschen ohne Einschränkungen oder mit Inhaltsanalysen von Medienangeboten für Menschen mit Einschränkungen. Zwar waren die Studien sehr unterschiedlich, sie ließen sich aber inhaltlich gruppieren:

  • Sechs Studien untersuchten die Rezeption und Aneignung von Medienangeboten durch taube Menschen oder Menschen mit erheblichen Hörbeeinträchtigungen. Vielfach ging es um die Frage, wie hilfreich Untertitel oder Gebärdensprache für die Nutzung und das Verständnis medialer Angebote waren.

  • Weitere sechs Publikationen befassten sich mit blinden Menschen oder Menschen mit starken Sehbeeinträchtigungen. Dabei standen zum einen Audiodeskriptionen und Soundeffekte im Zentrum; zum anderen ging es um die Besonderheiten des Zugangs zu kulturellen Angeboten, ohne diese sehen zu können.

  • Menschen mit starken kognitiven Einschränkungen waren die Untersuchten in vier Studien. Bei diesen stand vielfach die Frage im Zentrum, welchen Zugang solche Personen zu Medienangeboten haben und welchen speziellen Barrieren sie dabei begegnen.

  • Verschiedene Studien untersuchten unterschiedliche Fragen von Intersektionalität, also dem Zusammenspiel mehrerer Einschränkungen bei derselben Person oder um Vergleiche zwischen Personen mit unterschiedlichen Einschränkungen. Oft wurde dabei betrachtet, wie spezielle Medienangebote und assistierende mediale Technologien solchen Menschen helfen, ihren Alltag zu bewältigen.

  • Hinzu kamen Studien zu speziellen Menschen und ihrer Situation wie behinderten Schauspielern und Schauspielerinnen oder der Mediennutzung von Menschen mit ADHS oder schweren Depressionen.

Aus ethischer und forschungsethischer Sicht sind diese Studien am besten umgesetzt. Sie befassen sich mit Problemen von Menschen mit Einschränkungen auch aus der Perspektive von Menschen mit Einschränkungen und gehen auf deren besondere Bedürfnisse bei der Untersuchung ein. Forschungsethisch ist aber zu beachten, die Untersuchten dabei nicht zu überfordern oder zu frustrieren. Da bei diesen Studien aber die Art der Erhebung den Besonderheiten der Untersuchten weitgehend angepasst wurde, sind Probleme durch Überforderung und Frustration der Untersuchten eher unwahrscheinlich.

5.2 Anwendungsbeispiel inklusiver Forschung

In jüngerer Zeit wurden auch im deutschsprachigen Raum einige Studien durchgeführt, die den Merkmalen und Anforderungen inklusiver Forschung weitgehend entsprechen. Dazu zählen zum Beispiel die Studien von Zaynel (2017) zur Internetnutzung von Menschen mit Down-Syndrom, von Adrian et al. (2017) zur Mediennutzung von Menschen mit Einschränkungen sowie von Haage (2021) zu Medienrepertoires und gesellschaftlicher Teilhabe von Menschen mit Einschränkungen. Zur Konkretisierung der Anforderungen an eine barrierefreie und inklusive Forschung wird im Folgenden ein Anwendungsbeispiel für einen inklusiven Forschungsansatz in der Kommunikationswissenschaft vorgestellt.

Es handelt sich um eine Teilstudie im Forschungsprojekt „Kommunikative Mittel für eine barrierefreie Umfrageforschung“. Ziel des Projektes ist es zu erforschen, welche kommunikativen Mittel, wie das Vorlesen von Texten, die Visualisierung von Skalen oder die Vereinfachung komplexer Sprache, Menschen mit und ohne Einschränkungen die Teilnahme an Befragungen erleichtern können. Durch eine Literaturrecherche, Gespräche mit Experten und Expertinnen und Betroffenen wurden zunächst typische Barrieren bei Online-Befragungen für Menschen mit Einschränkungen identifiziert und im Anschluss kommunikative Mittel für ihre mögliche Behebung diskutiert.

In Kooperation mit dem PIKSL-Labor in Düsseldorf wurde im Rahmen des Projektes die Teilstudie durchgeführt. PIKSL steht für Personenzentrierte Interaktion und Kommunikation für mehr Selbstbestimmung im Leben. Bei PIKSL arbeiten Menschen mit und ohne Einschränkungen zusammen und beraten Organisationen und Einrichtungen, wie Produkte und Dienstleistungen für alle Menschen entwickelt und barrierefrei gestaltet werden können. Ziel dieser Teilstudie war es, einen ersten Überblick über mögliche Barrieren bei Online-Befragungen zu gewinnen und Möglichkeiten zu ihrer Reduzierung herauszuarbeiten. Entsprechend eines angestrebten hohen Grades an Inklusion wurden die Mitarbeitenden vom PIKSL-Labor aufgrund ihrer Erfahrung als Expertinnen und Experten bereits in die Entwicklung des zu testenden Fragebogens einbezogen.

Methodisch wurde die Teilstudie als eine Kombination aus Fokusgruppendiskussionen (vgl. Tausch und Menold 2015) und problemzentrierten Interviews konzipiert. Insgesamt wurden zehn Menschen mit Einschränkungen in die Studienabschnitte eingebunden. Die Personen waren zwischen 37 und 61 Jahre alt. Alle Teilnehmenden haben Lernschwierigkeiten. Zusätzlich waren zwei Personen körperlich behindert und hatten sowohl motorische Einschränkungen in Bezug auf die Bedienung mit der Maus als auch eine Seheinschränkung. Insgesamt hatten vier Personen eine Seheinschränkung und drei Personen motorische Einschränkungen.

Die Fokusgruppendiskussion fand in zwei Gruppen mit jeweils fünf Personen statt. Die Ziele der Fokusgruppendiskussionen waren, erste Eindrücke des Test-Fragebogens zu sammeln und Ideen zur Verbesserung des Instruments zu generieren (vgl. Stewart et al. 2008). Zum Einstieg wurde gemeinsam darüber gesprochen, was eine wissenschaftliche Befragung ist. Alle Personen hatten die Möglichkeit, ihr Wissen über Befragungen und ihre Teilnahmeerfahrungen zu teilen. Dieser Schritt war aus der Perspektive des forschungsethischen Prinzips Gerechtigkeit notwendig, um Wissensunterschiede abzubauen und eine gleichberechtigte Mitwirkung als Co-Forschende zu ermöglichen.

Im Zentrum der eigentlichen Gruppendiskussion standen unterschiedliche Möglichkeiten, wie in Online-Befragungen Visualisierungen zur Vereinfachung eingesetzt werden könnten. Mit den Co-Forschenden wurde eine mehrstufige Antwortskala mit Smileys, Daumen und Sternen sowie Kombinationen dieser Darstellungsmöglichkeiten sowohl in Farbe als auch schwarz-weiß diskutiert. Dafür wurden Beispiele nacheinander gezeigt. Die Co-Forschenden mit Einschränkungen gaben an, wie sie die Visualisierungen interpretieren und ob sie diese als Umsetzung einer Skala für hilfreich einschätzen.

In der zweiten Hälfte der Teilstudie wurde ein problemzentriertes Interview durchgeführt. Die Methode eignet sich in einem inklusiven Forschungsansatz gut, da die „[…] subjektive Sicht der Befragten in gesellschaftlich relevanten Problembereichen erfasst werden soll“ (Hölzl 1994, S. 64). Eine Erweiterung des methodischen Ansatzes bestand darin, dass die Co-Forschenden in diesem Fall einen vorbereiteten Fragebogen als Stimulus erhalten haben. In diesem waren verschiedene kommunikative Mittel zur Reduktion von Barrieren integriert. Gemeinsam mit den Co-Forschenden mit Einschränkungen wurde dann eine von den Autoren und der Autorin vorbereitete Online-Befragung bearbeitet. In dieser waren verschiedene kommunikative Mittel zur Reduktion von Barrieren integriert:

  • Eingangstext in Einfacher Sprache

  • informierte Einwilligung in Einfacher Sprache

  • „weiter“ – „zurück“-Buttons visualisiert mit Pfeilen

  • vergrößerte Schrift

  • Items von Standardskalen in Einfacher Sprache

  • Darstellung von Items und Skalen linksbündig oder zentriert

  • unterschiedliche Visualisierungen von Skalen

  • Kombinationen von Verbalisierungen und Visualisierungen von Skalen

  • farblich hinterlegte Schieberegler

Zusätzlich enthielt die Befragung eine Vorlesefunktion, so dass sich die Co-Forschenden die Inhalte der Befragung auch vorlesen lassen und dazu eine Rückmeldung geben konnten. Um den Fragebogen zu bearbeiten, wurden Zweierteams bestehend aus jeweils einer Person mit und einer Person ohne Einschränkung gebildet. An einem Laptop konnten die Co-Forschenden mit Einschränkungen den Fragebogen durchgehen und zu jeder Seite eine Rückmeldung geben. Die Gespräche wurden aufgenommen und im Nachhinein transkribiert und systematisch ausgewertet. Abschließend hat das PIKSL-Labor mit den Co-Forschenden Empfehlungen für barrierefreie Befragungen formuliert. Diese Empfehlungen wurden als Grundlage für die Konstruktion unterschiedlich barrierefreier Varianten einer Online-Befragung herangezogen. Diese Fragebogen-Varianten waren dann Gegenstand einer Befragung von Schülerinnen und Schülern unterschiedlicher Schulniveaus und unterschiedlicher Lesefähigkeit und Lesemotivation.

Aus forschungsethischer Perspektive ist die Teilstudie in mehrerlei Hinsicht interessant. Die Anlage als inklusive Studie sollte das Prinzip der Gerechtigkeit verwirklichen. Die Belange von Menschen mit Einschränkungen wurden im gesamten Forschungsprozess berücksichtigt, da sie nicht Objekt oder Gegenstand der Forschung waren, sondern als Co-Forschende an der Forschung mitwirkten. Da die Menschen mit Einschränkungen bei PIKSL angestellt sind und Tests auf Barrierefreiheit und Usability zu ihren Arbeitsaufgaben gehören, waren mögliche forschungsethische oder rechtliche Probleme der Aufklärung und Einwilligung schon vorab mit der Anstellung bei PIKSL gelöst. Zudem waren neben Personen aus dem eigentlichen Forschungsteam immer auch Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ohne Einschränkungen von PIKSL vor Ort, um bei Problemen mit ihrer Expertise zu helfen. So war weitgehend sichergestellt, dass bei den Teilnehmerinnen und Teilnehmern kein Schaden entstanden ist. Nicht zuletzt fließen die Ergebnisse der Teilstudie in die Entwicklung oder Weiterentwicklung barrierefreier Forschungsmethoden ein, was allen Menschen und nicht nur Menschen mit Einschränkungen zugutekommt.

6 Fazit

Im Beitrag wurden unterschiedliche Aspekte von barrierefreier und inklusiver Forschung in der Kommunikationswissenschaft diskutiert, die in einer direkten Beziehung mit dem forschungsethischen Prinzip der Gerechtigkeit stehen. Die Überlegungen zu Forschungsethik und Forschungsmethodik einerseits sowie Barrierefreiheit und Inklusion andererseits sind in der Kommunikationswissenschaft noch nicht weit fortgeschritten. Der Überblicksbeitrag ist eine erste systematische Annäherung an das Problemfeld.

In der praktischen Forschung treffen viele Menschen auf unterschiedliche Barrieren. Diese betreffen zumeist die Aspekte Zugänglichkeit, Bedienbarkeit und Verständlichkeit. Barrierefreie Forschung soll diese Barrieren durch Regeln bei der Anlage der Studie sowie durch den Einsatz von technischen Hilfsmitteln reduzieren. Eine vollständige Beseitigung aller Barrieren wird nicht möglich sein. Trotzdem sollte die Vermeidung aller unnötigen Barrieren und die Absenkung aller reduzierbaren Barrieren das Ziel bei allen empirischen Studien sein. Um hier einen Überblick zu vermitteln, werden abschließend wichtige Punkte noch einmal kurz unter ethischen und methodischen Gesichtspunkten zusammengefasst:

In der Forschungsethik gilt es insbesondere die drei Prinzipien Selbstbestimmung, Schadensvermeidung und Gerechtigkeit zu berücksichtigen.

  • Selbstbestimmung setzt auf die Aufklärung der Teilnehmenden und deren Einverständnis. Nach den Anforderungen der Barrierefreiheit ist durch die Forschenden sicherzustellen, dass alle Menschen die dazugehörigen Informationen einfach erhalten und verstehen können, um das Einverständnis informiert geben oder verweigern zu können. Hier sind in der Regel kurze und einfache Informationen zielführender als detaillierte Informationen zur Studie. Inklusive Forschung umgeht die Probleme dadurch, dass von Barrieren betroffene Menschen in die Studien integriert und damit auch umfassend informiert sind.

  • Schadensvermeidung will verhindern, dass den an der Studie Beteiligten durch die Studiendurchführung Schaden entsteht. Über die allgemeinen Regeln der Schadensvermeidung hinaus fordert Barrierefreiheit erstens eine gute und einfache Bedienbarkeit aller für die Studie nötigen Geräte und Anwendungen. Zweitens müssen alle gesprochenen und geschriebenen Texte einfach und verständlich sein. Drittens muss es alternative Angebote für auditive und visuelle Darstellungen geben. Bei der inklusiven Forschung werden diese Angebote gemeinsam mit Menschen entwickelt, die üblicherweise entsprechenden Barrieren ausgesetzt sind. So kann auch für Menschen mit Einschränkungen weitgehend sichergestellt werden, dass sie nicht durch die Studie frustriert und damit diskriminiert werden. Schaden kann aber auch dann eintreten, wenn Menschen wegen hoher Barrieren erst gar nicht teilnehmen können, obwohl sie eigentlich gern teilnehmen würden.

  • Gerechtigkeit erfordert, Studien so anzulegen, dass auch Menschen mit Einschränkungen an diesen teilnehmen können. Das ist insbesondere unter der Prämisse evidenzbasierter Entscheidungen wichtig. Die spezielle Perspektive von diesen Menschen würde sonst bei entsprechenden Entscheidungen nicht berücksichtigt.

Bei der methodischen Konzeption empirischer Studien sind zwei Bereiche wichtig: die Stichprobe der zu untersuchenden Personen sowie die Art der Erhebung.

  • Alle Studien müssen barrierefrei konzipiert sein, unabhängig von der Art oder Größe der Stichprobe. Sonst werden automatisch bestimmte Bevölkerungsgruppen von der Studie ausgeschlossen. Dazu könnten auch Ältere oder Menschen mit geringen Sprachkenntnissen zählen. Möglichst viele barrierefreie oder zumindest barrierearme Studien sind wichtig, um diesen Menschen zu signalisieren, dass ihre Teilnahme gewünscht ist. Bislang lernen sie aus dem Versuch teilzunehmen meist, dass ihnen die Teilnahme eher erschwert als erleichtert wird. Das Vertrauen in ein Bemühen um Barrierefreiheit bei Untersuchungen ist aber nötig, um zur Teilnahme an Studien zu motivieren. Hier geht es auch um Vertrauen in die Wissenschaft insgesamt sowie in ihre Institutionen.

  • In Bezug auf die Art der Erhebung dürfte Einigkeit über die einfache Bedienbarkeit herrschen. Wenn Erhebungen online oder apparativ stattfinden, muss die Technik für alle einfach und zuverlässig bedienbar sein. Kontroverser wird die Forderung nach einfacher barrierefreier Sprache sein. Insbesondere dann, wenn es sich um eingeführte Formulierungen von Items oder um etablierte Standardskalen handelt. Oft sollen die Formulierungen möglichst eindeutig sein. Dieses Ziel macht die Wissenschaftssprache oft kompliziert. Aus ethischer Perspektive wiegt hier die Barrierefreiheit höher als die Vergleichbarkeit mit eingeführten Skalen. Zumal bei diesen oft fraglich ist, ob die verwendeten Formulierungen zeitgemäß und verständlich sind. Nur dann sind diese auch valide.

Das forschungsethische Gebot, barrierefrei und inklusiv zu forschen, wird in der konkreten Umsetzung für die Forschung erhebliche Konsequenzen haben. Für die Hochschulen bedeuten die rechtlichen Anforderungen der Barrierefreiheit zunächst eine enorme konzeptionelle Herausforderung. Zumal trotz expliziter Formulierungen der Anforderungen oft unklar bleibt, wie diese praktisch umgesetzt werden sollen. Außerdem treten mit den Landes- oder Bundesüberwachungsstellen neue Aufsichtsbehörden in den Prozess der Organisation von Forschung hinzu. In den rechtlichen Vorgaben bleibt es bislang unklar, wer institutionell in drittmittelfinanzierten Projekten zuständig ist. Personalrechtlich ist es unklar, wie mit Widersprüchen und Beschwerden umzugehen ist.

Ende 2023 wurde an der Bundesüberwachungsstelle ein Ausschuss für barrierefreie Informationstechnik eingerichtet, in welchem zukünftig auch Vertreter der Wissenschaft mitwirken sollen (vgl. BITV 2.0 2023, § 5). Es muss sich zeigen, inwieweit hier auch die Kommunikationswissenschaft eine Stimme bekommt. Denn aus den Vorgaben ergeben sich auch viele konkrete Fragen für die Forschungs- und Lehrpraxis, welche innerhalb der Fachgesellschaft und ihrer Fachgruppen diskutiert werden sollten. Wer informiert Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, Studentinnen und Studenten sowie Doktorandinnen und Doktoranden über die Vorgaben zur barrierefreien Gestaltung? In welchem Format kann das sinnvollerweise geschehen? Wer schult diese Personen in der Umsetzung von Barrierefreiheit? Wer ist verantwortlich für die Einhaltung der Regeln? Wie übt man inklusive Forschung in Seminaren? Und ist dies ethisch überhaupt vertretbar?

Das forschungsethische Recht auf Teilhabe kann sogar der Freiheit von Wissenschaft, Forschung und Lehre entgegenstehen, da die Verpflichtung zur Barrierefreiheit in die inhaltliche Ausgestaltung von Forschung eingreift. Hieraus ergeben sich neue Fragen. So müsste geprüft werden, ob barrierefrei gestaltete Fragebögen sowie die in Leichter Sprache oder Gebärdensprache übersetzten Skalen und Items zueinander messäquivalent sind und vergleichbare Qualitätsindikatoren wie Cronbachs Alpha erzeugen.

Damit ist klar: Das Streben nach Barrierefreiheit und Inklusion in der kommunikationswissenschaftlichen Forschung wird vielfältige neue Anforderungen und erhebliche Veränderungen für alle mit sich bringen. Allerdings verändert sich die Art der kommunikationswissenschaftlichen Forschung durch Online-Forschung und Computational-Methods sowieso derzeit stark. Und gerade die Online-Forschung und Techniken der Künstlichen Intelligenz bieten etliche Tools und Anwendungen, die durch Vorlesen, Sprachsteuerung, Übersetzung und anderes zur Barrierefreiheit beitragen können. Aber auch bei klassischer Forschung ist die Kommunikationswissenschaft gefragt, da sich etliche Barrieren bei der Durchführung von Studien mit kommunikativen Mitteln reduzieren lassen. Und letztendlich hilft die Reduktion von Barrieren allen, auch Untersuchten ohne Einschränkungen.