1 Einleitung

Der Aufstieg der digitalen Kommunikationsmedien hat das Verhalten der Akteure in allen Lebensbereichen verändert. Kommunikation funktioniert zeitversetzt und ortsunabhängig, der Austausch von Informationen und Artefakten gelingt jederzeit und ohne merkliche Hürden und auch im Berufsalltag, sowie in der Freizeit finden sich neue Formen des Miteinanders. Viele der digitalen Kommunikationsmedien suggerieren zunächst eine Vereinfachung von Prozessen, die gleichzeitig Geld und Zeit ersparen und damit das Leben erleichtern. Die frei gewordenen Kapazitäten werden jedoch weniger für kontemplative Handlungen genutzt, sondern um noch schneller und effizienter zu interagieren, zu handeln und zu arbeiten (vgl. Peters und Schulz 2017, S. 10–14). Dies zeigt sich zum einem in den stetig steigenden Nutzungszeiten der digitalen Medien (vgl. Beisch und Koch 2022, S. 461) und zum anderen in den empirisch messbaren Phänomenen der Überforderung, Zeitnot und des Stresses im Umgang mit digitalen Medien und Technologien (vgl. Hofmann 2018; Reinecke et al. 2017). Die ausgiebige Nutzung digitaler Angebote führt zunehmend zu digitalem Stress und hat weitreichende, negative Auswirkungen auf die Erholungsphasen und die subjektiven Erwartungen an sich selbst und seine Umwelt (vgl. Thomée 2018; Wannagat et al. 2024). So diagnostiziert Roitsch (2017) aus kommunikations- und mediensoziologischer Perspektive, dass die Gegenwart von vielfältigen Herausforderungen und einem damit verbundenen dauerhaften Handlungsdruck gekennzeichnet ist, deren Reduktion durch das Ziehen von kommunikativen Grenzen subjektiv angegangen werden kann und muss (vgl. Roitsch 2017, S. 207). Die Perspektive der „De-Mediatisierung“ fasst „ein Sichwidersetzen gegen den jüngsten Medienwandel bzw. gegen soziale und kulturelle Konsequenzen des informations- und kommunikationstechnischen Fortschritts“ (Pfadenhauer und Grenz 2017, S. 4) ins Auge. Auch Roitsch spricht mit ihrem Fokus auf Praktiken der Grenzziehung von einem „gegenläufigen Medienhandeln“ (Roitsch 2017, S. 207). Mit Blick auf den Anstieg digitaler Stressoren und dem subjektiv erlebten digitalen Stress wird in der diesem Beitrag zugrundeliegenden qualitativen Langzeitstudie untersucht, wie digitaler Stress im Medienalltag entsteht, welche subjektiven Abhängigkeitsfaktoren es gibt und wie mittels Praktiken der Grenzziehung Prozesse der De-Mediatisierung zur individuellen Stressreduktion stattfinden können. Hierzu möchten wir zunächst den Begriff des digitalen Stresses erläutern und die durchgeführte Studie kurz vorstellen. Anschließend gehen wir auf die Ergebnisse unseres Forschungsprojekts in Bezug auf die spezifischen Praktiken der Grenzziehung genauer ein und erweitern die von Roitsch (2020) erarbeiteten Dimensionen, besonders mit Blick auf ältere Mediennutzende.

2 Alltägliche Medienpraktiken und digitaler Stress

Der Umgang mit digitalen Medien manifestiert sich im Sinne der Praxistheorie in den alltäglichen Medienpraktiken. Praktiken können allgemein „als know-how-abhängige und von einem praktischen ‚Verstehen‘ zusammengehaltene Verhaltensroutinen, deren Wissen einerseits in den Körpern der handelnden Subjekte ‚inkorporiert‘ ist, die andererseits regelmäßig die Form von routinisierten Beziehungen zwischen Subjekten und von ihnen ‚verwendeten‘ materialen Artefakten annehmen“ (Reckwitz 2003, S. 289) verstanden werden. Reckwitz folgt weiter der Annahme, dass für die Mediennutzer:innen „Techniken des Mediengebrauchs zu ‚Techniken des Selbst‘ werden, so dass sich durch die medialen Praktiken bestimmte ‚innere‘ Kompetenzen und Dispositionen aufbauen“ und empirisch beobachten lassen (vgl. Reckwitz 2003, S. 286, Hervorhebung im Original). In diesem Sinne scheint es wesentlich zu untersuchen, welche alltäglichen Medienpraktiken sich im Umgang der Akteure mit digitalen Kommunikationsmedien beobachten lassen, um in der Folge die Kompetenzen und Herausforderungen mit den vielfältigen Möglichkeiten beschreiben zu können, besonders mit dem Blick auf einen gesunden Umgang mit diesen (vgl. Nassen et al. 2023).

Die digitalen Medien besitzen hierbei eine „dialektische Funktion“ (Waldenburger und Wimmer 2022, S. 304): Sie unterstützen die Mediennutzer:innen zum einen bei den diversen Anforderungen der Gegenwartsgesellschaft und erleichtern an verschiedensten Stellen deren Bewältigung (vgl. Vanden Abeele et al. 2018). Besonders das Smartphone leistet hier einen wesentlichen Beitrag, ermöglicht es schnelle und einfache Kommunikation, das Buchen von Tickets und Bestellen von Dingen, mediale Unterhaltung und digitale Weiterbildung, um nur ein paar Vorzüge zu nennen. Gleichwohl steigern die vielfältigen Möglichkeiten die Komplexität der gegenwärtigen Verhältnisse immens, die ihrerseits mit neuen Ansprüchen und Zwängen an das Individuum einhergehen. So wird erwartet, jederzeit erreichbar zu sein und auf Anfragen beruflicher oder privater Art in Kürze zu reagieren. Auch setzen viele Unternehmen den Smartphone-Besitz voraus, wenn beispielsweise Getränkekarten nur noch über einen QR-Code einsehbar sind oder das Zugticket lediglich als digitaler Download zur Verfügung gestellt wird. Diese Ansprüche und Anforderungen lösen bei den Mediennutzer:innen mehr und mehr digitalen Stress aus.

Allgemein wird Stress als ein subjektiv evaluiertes „Ungleichgewicht zwischen äußeren Anforderungen und den zur Verfügung stehenden Möglichkeiten, diese zu bewältigen“ (Lohmann-Haislah 2012, S. 14) gefasst. Der aus der Psychologie stammende Begriff fußt in seiner heutigen Verwendung auf den Überlegungen von Lazarus und dem von ihm entwickelten „Transaktionalen Stressmodell“ (Lazarus und Folkman 1984, S. 293–307). In einem mehrstufigen Prozess evaluiert die Person, die an sie gestellten Anforderungen mit den eigenen Kompetenzen und möglichen Bewältigungsstrategien (= Coping): „Stress existiert nicht per se – er ist das, was von einer Person als solcher wahrgenommen wird. […] Die Gefahr ist umso größer, je weniger Strategien und Ressourcen einer Person zur Verfügung stehen, da sie immer wieder Reize als Stressoren erlebt, die ihre Bewältigungsmöglichkeiten überfordern.“ (Ernst et al. 2022, o. S.). Das subjektive Moment, welches dem Erleben von Stress inhärent ist, verweist zugleich auf eine der wesentlichen Forschungslücken in diesem Feld – die qualitative Untersuchung der subjektiven Begründungszusammenhänge, warum spezifische Situationen als stressauslösend wahrgenommen werden und welche Faktoren dabei eine Rolle spielen.

Der Begriff „digitaler Stress“ wurde bereits in mehreren Studien verwendet und diskutiert (vgl. Hefner und Vorderer 2017; Reinecke et al. 2017; Weinstein und Selman 2016; Weinstein et al. 2016). Die meisten Autor:innen stützen sich dabei auf das Konzept des „Technostress“ von Brod (1982), das die wahrgenommene Unfähigkeit der Nutzer:innen beschreibt, mit Technologien gesund umzugehen (vgl. dazu Dragano und Lunau 2020). Wesentlich ist in der Erweiterung zum Begriff des digitalen Stresses, dass dieser durch die subjektive Nutzung der digitalen Medien und Technologien selbst, durch deren zeitweisen Verzicht aber auch durch die Nutzung Dritter ausgelöst werden kann. Damit werden sowohl die Entstehung von Stress durch die Nutzung technischer Geräte selbst als auch die Stressoren, wie die Angst, etwas zu verpassen (FOMO) oder die ständige Erreichbarkeit, berücksichtigt. Deutlich wird hier, dass digitaler Stress sich nicht immer eindeutig vom „nicht-digitalen“ Stress der Akteure abgrenzen lässt, die Digitalisierung aber einen wesentlichen Anteil an der Steigerung subjektiver Stresslevel besitzt. Die Untersuchung von digitalem Stress mittels eines lebensweltlichen Ansatzes hilft folglich, die verschiedenen, miteinander verwobenen Formen (analogen und digitalen) Stresses differenziert erheben zu können (vgl. Waldenburger und Wimmer 2023).

3 Grenzziehungen gegen digitalen Stress

Die gesellschaftlichen Folgen einer durch die Digitalisierung um sich greifenden Mediatisierung können als „Entgrenzung“ gefasst werden (vgl. Krotz 2007). Diese findet entlang der Ausführungen von Krotz über mindestens drei Dimensionen hinweg statt: der zeitlichen, der räumlichen und der sozialen/situativen (vgl. Krotz 2007, S. 96). Ermöglicht die Entgrenzung auf der einen Seite beispielsweise die zügigere Kommunikation und Interaktion über zeitliche wie räumliche Barrieren hinweg, überfordern sozial die ständige Erreichbarkeit und die Multioptionalität als Folgen der Mediatisierung zunehmend. Das Medienhandeln selbst wird im Sinne der Mediatisierung von einem optionalen Angebot in der Gegenwart zu einer obligatorischen Verpflichtung und die Akteure müssen selbst aktiv werden, um die vielfältigen Herausforderungen und den damit verbundenen Handlungsdruck zu meistern. So lassen sich in der Empirie Praktiken des Abgrenzens identifizieren, die als Formen einer „De-Mediatisierung“ (Pfadenhauer und Grenz 2017, S. 4) verstanden werden können. Roitsch beschreibt dieses „gegenläufige“ Medienhandeln entlang der Konzeption kommunikativer Grenzziehungen (vgl. Roitsch 2017, S. 207). Kommunikative Grenzziehung ist die „medienbezogene Praxis des Abgrenzens unterschiedlicher Sinn- und Handlungsbereiche im mediatisierten Alltag“ (Roitsch 2020, S. 13). Im Ergebnis zielen die verschiedenen Praktiken auf eine Begrenzung der fortschreitenden Mediatisierung und der damit kontinuierlich steigenden Anforderungen an den Akteur und fokussieren im Kern auf die Reduzierung von digitalem Stress.

Roitsch bleibt damit nicht dem zumeist undifferenzierten Zugriff auf die Nichtnutzung verhaftet (vgl. dazu beispielsweise Cachelin 2015). So kann der differenzierte Blick der Studien aus dem Forschungsbereich der „digital disconnection“ zeigen, dass Nicht-Nutzung verschiedene Nuancen kennt (vgl. Hesselberth 2018) und an situative und sozio-ökonomische Bedingungen gekoppelt ist (vgl. Jorge 2019). Klingelhöfer et al. (2023) definieren „digital disconnection“ als „(a) the voluntary reduction in usage of one or more aspects of digital media, (b) across one or more digital devices, apps, features, (types of) interactions, and messages, (c) over a certain period of time“ (Klingelhöfer et al. 2023, S. 5) und fokussieren in ihrer Forschung auf den situativen Verzicht und den jeweiligen subjektiven Motiven. Mit Bezug auf die teils differenten Forschungsbefunde verweisen Nassen et al. (2023) auf die analytische Begrenzung auf spezifische Ebenen des Verzichts und der fehlenden Differenzierung zwischen Verzichtsabsichten und Umsetzung. Auch Vanden Abeele et al. (2022) kritisieren die Studien aufgrund des fehlenden Einbezugs situativer und persönlicher Merkmale. Beschreibt die Praktik der „digital disconnection“ die Reduzierung digitaler Mediennutzung kann „digital detox“ als radikalste Spielart verstanden werden. Syvertsen (2020) rekonstruiert anschaulich die Entwicklung dieser gesellschaftlichen Bewegung und deren Praktiken. Die Forschung zu „digital detox“ steht dabei vor einem ähnlichen Problem wie die „disconnection“-Studien, wie Radtke et al. (2022) zeigen. So ist der Erfolg der digital detox-Praktiken bisher nicht empirisch belegt (vgl. auch Hall et al. 2019), da auch hier die alltäglichen Medienpraktiken der Nutzer:innen nur bedingt berücksichtigt werden. Besonders die Vielfalt der Medienrepertoires gerät aus dem Blick, wenn allein auf einzelne Geräte fokussiert wird.

Eine qualitative Auseinandersetzung mit den alltäglichen Nutzungsgewohnheiten über alle Mediengeräte hinweg, den hinter der Einschränkung der Mediennutzung stehenden subjektiven Motive und Strategien sowie den Differenzen zwischen den Nutzer:innen stellt demnach eine Forschungslücke dar (vgl. auch Nguyen 2023). Einen ersten Versuch der Annäherung stellt die Arbeit von Roitsch (2020) dar. Sie untersucht entlang qualitativer Leitfadeninterviews (N = 60) mit jungen Erwachsenen (16–30 Jahre) deren Praktiken kommunikativer Grenzziehungen (Roitsch 2020, S. 94). Im Ergebnis identifiziert Roitsch drei Dimensionen der Grenzziehung – die Beschleunigung, die Mittelbarkeit und die Differenzierung – und innerhalb dieser verschiedene alltägliche Medienpraktiken (vgl. Tab. 1).

Tab. 1 Grenzziehungen nach Roitsch (2020, S. 103–104) (vereinfachte Darstellung)

Das Reduzieren von potenziellen Optionen zielt auf die zeitliche Knappheit der Befragten, das Einteilen im Sinne einer Begrenzung der verschiedenen Medienkommunikationen auf die zeitliche Überforderung und das Zurückziehen auf die ständige Erreichbarkeit ab (Dimension der Beschleunigung). Die Praktiken der Dimension der Mittelbarkeit setzen sich aus dem Fokussieren auf soziale Beziehungen in der Face-to-Face-Kommunikation, dem Zurückhalten von spezifischen Informationen, um auf die räumliche Ko-Präsenz zu antworten und dem Abschirmen im Sinne eines Ausschlusses von Dritten aus der Kommunikation zusammen. Das Befolgen von Regeln stellt die Strategie der Vielfalt der Regeln dar, das Verlagern auf andere Medien die der sozialen Sanktionierung, das Separieren von sozialen Beziehungen nach Kommunikationsmedien und das Verbergen die des Umgangs mit biografischen Umbrüchen (Dimension der Differenzierung) (vgl. Roitsch 2020, S. 103 ff.).

Ausgehend von den Ergebnissen von Roitsch, die auf empirischen Daten von 2010/11 beruhen, sollen die Praktiken der Grenzziehung in der Gegenwart genauer untersucht und mit Blick auf das Erleben von digitalem Stress als akute Folge einer fortschreitenden Mediatisierung konkretisiert werden. Digitaler Stress als Folge eines ungesunden Umgangs mit digitalen Kommunikationsmedien hat Auswirkungen auf die physische wie psychische Gesundheit der Akteure (vgl. Wannagat et al. 2024). Beschränken sich die empirischen Befunde von Roitsch auf junge Erwachsene, möchten wir besonders auf die generationalen Unterschiede in den Praktiken der Grenzziehung fokussieren (vgl. Nguyen et al. 2021).

Gleichwohl ermöglicht die zugrundeliegende Studie, die Praktiken der Grenzziehung als aktive Bewältigungsmaßnahmen gegen digitalen Stress beziehungsweise Praktiken des Vorbeugens zu lesen und in diesem Kontext spezifisch die subjektiven Folgen der Mediatisierung zu identifizieren. So wird im Sinne des Mediatisierungsansatzes vermutet, dass die besonders altersspezifischen Differenzen im Hinblick auf die subjektive Medienkompetenz und die erlebte Mediensozialisation, sowie die vorhandenen Medienrepertoires eine Rolle auf die bewussten und unbewussten Grenzziehungsbemühungen der Akteure haben. So leiten folgende Forschungsfragen die Studie:

  1. 1.

    Gibt es generationale Unterschiede, wie digitaler Stress entsteht und wie mit digitalen Kommunikationsmedien umgegangen wird?

  2. 2.

    Welche Praktiken der Abgrenzung und Einschränkung des alltäglichen Medienhandelns lassen sich (in beiden Gruppen) identifizieren?

4 Forschungsdesign und Sample

Die vorliegenden Ergebnisse beruhen auf einem qualitativen Langzeitpanel (2020–2022) mit insgesamt 21 Personen im Alter von 20 bis 83 Jahren, davon sechs Männer und 15 Frauen, die innerhalb eines Zeitraums von 18 Monaten an der Studie teilgenommen haben. Die Auswahl der Studienteilnehmer:innen erfolgte anhand eines theoretischen Samplings entlang der Indikatoren Medienrepertoire, Selbsteinschätzung des subjektiven digitalen Stresslevels und demographische Merkmale (vgl. Dimbath et al. 2018). Inhaltlich fokussierte die Erhebung im Kern auf die Frage: „Was ist digitaler Stress?“ und die damit verbundenen Erfahrungen der Akteure im Rahmen ihres individuellen Medienhandelns. Neben den Quellen für und dem Erleben und Verhindern von digitalem Stress wurde auf die Mediensozialisation (vgl. Hofmann 2018), die Medienkompetenz (vgl. Baacke 1996; Waldenburger und Wimmer 2022) und die vorhandenen Bewältigungsstrategien zur Reduzierung von durch Medien und Technologien initiierten Stress (vgl. Waldenburger et al. 2023) abgezielt.

Das iterative Studiendesign (vgl. Strübing 2014) baute auf verschiedenen zyklischen, wie offenen Erhebungsphasen auf und bestand methodisch aus leitfadengestützten Interviews (vgl. Kruse und Schmieder 2014), Gruppendiskussionen mit je fünf der Studienteilnehmenden (vgl. Bohnsack und Przyborski 2007; Kühn und Koschel 2017; Sander und Schulz 2015) und der Erhebung von Medien- sowie Stresstagebüchern während der zweiwöchigen Nutzung von spezifischen Apps zur Reduzierung von digitalem Stress (vgl. Abb. 1). Die Begleitung der Studienteilnehmer:innen über bis zu 18 Monate hinweg, ermöglichte eine umfangreiche Erhebung der individuellen Medienpraktiken, der inhärenten Wandlungsprozesse und die über diesen Zeitraum erlebten digitalen Stressoren. Gleichzeitig hat die thematische Fokussierung auf einen gesunden Umgang mit digitalen Kommunikationsmedien bei den Befragten selbst reflexive Prozesse ausgelöst, sodass Wandlungsprozesse im Nutzungsverhalten aufgezeichnet werden konnten. Hierbei waren die diversen methodischen Zugänge sehr hilfreich, um immer wieder aus neuen Betrachtungswinkeln auf das eigene Medienverhalten blicken zu können. So wurde beispielsweise erst ein Medientagebuch ausgefüllt und der eigene Medienkonsum visualisiert, anschließend wurde dieses im leitfadengestützten Interview diskutiert und die Ergebnisse in Rahmen von Gruppendiskussionen mit den Erfahrungen und Gewohnheiten anderer kontrastiert. Das gesamte Datenmaterial, welches im Rahmen der Langzeitstudie erhoben wurde, stellt folglich ein sehr umfangreiches Wissen über die alltäglichen Medienpraktiken der Studienteilnehmer:innen dar.

Abb. 1
figure 1

Studiendesign der Langzeiterhebung (inneres Rechteck – einbezogenes Datenmaterial, schwarz umrandet – Material der qualitativen Inhaltsanalyse)

Zur Analyse der Praktiken der Grenzziehung wurde mittels einer qualitativen Inhaltsanalyse (vgl. Mayring 2010) auf die leitfadengestützten Interviews der Phasen eins, drei und fünf aller Studienteilnehmer:innen fokussiert. Durch die Bezugnahme auf die erstellten Medientagebücher und später auf die erlebten Gruppendiskussionen finden auch diese Erhebungen und die individuellen Reflexionen Eingang in das ausgewählte Datenmaterial. In den späteren Interviews wurde dies durch den Rekurs auf die bisherigen Gespräche ergänzt. Mit Blick auf den Umgang mit digitalem Stress standen in der Auswertung die Praktiken des Vorbeugens oder der spezifischen Bewältigungsstrategien im Fokus. Dazu wurden die von Roitsch vorgeschlagenen Dimensionen und Praktiken als Codes vergeben, sowie Raum für Anpassungen und Abweichungen eingeräumt. Hier wird bereits deutlich, dass ergänzend zur Studie von Roitsch (2020) nicht nur die Medienpraktiken der Befragten und die damit verbundenen latenten Grenzziehungspraktiken identifiziert werden, sondern durch den Fokus auf Bewältigungsstrategien spezifische Praktiken und deren Evaluation codiert werden konnten. Die größten Unterschiede zwischen den Studienteilnehmer:innen und den codierten Praktiken der Grenzziehung zeigten sich recht schnell mit Blick auf das Alter dieser. So wurde in einem weiteren Analyseschritt hinsichtlich des Alters differenziert – unter 40 Jahre (N = 11) und über 40 Jahre (N = 10) – und die Gruppen zunächst einzeln interpretiert und anschließend gegeneinander kontrastiert. Im Ergebnis konnten für die jüngeren Befragten einige der von Roitsch etablierten Praktiken bestätigt und durch wenige neue ergänzt werden. Besonders bei den Älteren finden sich gänzlich neue Praktiken der Grenzziehung mit Blick auf den Umgang mit Medien. Die Ergebnisse sollen im Folgenden entlang der Differenz in die beiden Gruppen dargestellt werden.

5 Ergebnisse – Differenzierung entlang der Generationen

In der Auswertung des Datenmaterials wird deutlich, dass es wesentliche Unterschiede in den Praktiken der Grenzziehung in Bezug auf das Alter der Studienteilnehmer:innen gibt. Andere sozio-ökonomische Daten zeigen dagegen keine solch auffälligen Unterschiede auf. Es lassen sich zwei Gruppen voneinander unterscheiden: die über 40-Jährigen und die Gruppe der unter 40-Jährigen. Mit dem Indikator des Alters gehen weitere Differenzen im Hinblick auf die erlebte Mediensozialisation und die vorhandene Medienkompetenz einher. So sind die über 40-Jährigen erst spät mit den digitalen Kommunikationsmedien konfrontiert wurden und nicht bereits mit diesen aufgewachsen, wie viele der Jüngeren. Auch die Notwendigkeit, sich mit den Medien auseinanderzusetzen, war zunächst nicht vorhanden und hat sich erst im Laufe der Verbreitung dieser entwickelt.

Die Gruppe der über 40-Jährigen zeichnet sich durch eine auffällige Gelassenheit im Umgang mit digitalen Medien aus, vor allem im Hinblick auf die Erwartungen anderer oder die Angst, etwas zu verpassen. Wie Susanne es ausdrückt:

„Breche ich definitiv ab, wenn ich das Gefühl habe, jemand fängt mit mir an, über WhatsApp zu diskutieren, höre ich sofort auf, weil das … entweder schreib ich ‚du, können wir mal telefonieren?‘, oder so, oder ich […] hör auf.“ (Susanne (59 Jahre): 19)

In den Interviews mit über 40-Jährigen zeigt sich diese selbstbestimmte Haltung gegenüber digitalen Medien auch in der Nutzung von Apps und Anwendungen. Digitale Kommunikationsmedien werden als sogenannte Add-Ons verstanden, die bisherige Interaktions- und Unterhaltungsangebote ersetzen, beschleunigen oder verbessern können, auch wenn sie nicht zwingend notwendig sind. Die Grundhaltung, dass digitale Medien eine Ergänzung zu allem bisherigen darstellen, scheint einen entspannteren Umgang zu ermöglichen und verhindert die Entgrenzung des alltäglichen Medienhandelns wesentlich. Dies heißt in der Folge nicht, dass die über 40-Jährigen keinen digitalen Stress erleben, sie stresst zumeist der Umgang mit den Medien selbst, beziehungsweise das Aneignen neuer Medienkompetenzen. Um den digitalen Stress zu reduzieren, finden sich demnach auch in dieser Gruppe Praktiken der Grenzziehung.

Im Kontrast dazu stehen die unter 40-Jährigen in der vorliegenden Studie. Sie sind mit den neuen Medien und Technologien sozialisiert worden und es wird qua Alter zunächst davon ausgegangen, dass sie kompetent mit digitalen Medien umgehen können (vgl. Waldenburger und Wimmer 2022). Digitale Medien sind ein wesentlicher Bestandteil der Kommunikation, Interaktion und Unterhaltung junger Erwachsener:

„[Ich] bin jetzt vielleicht auch einfach nicht dran gewöhnt, ohne Handy klarzukommen und dann alleine diese Sachen, wann fährt der nächste Zug? Wann fährt der nächste Bus? Oder wie komm ich von da dahin? Was kann man hier in der Nähe noch so Cooles machen? […] Ich denke, das ist ein bisschen schwierig und auch Familie, die wollen natürlich wissen, dass man gut angekommen ist. […] Also ich denke, so ohne alles, wäre schon schwierig umsetzbar.“ (Lea (22 Jahre): 182)

Die Allgegenwärtigkeit der Digitalisierung führt bei jüngeren Menschen zu mehr digitalen Stressoren, wie die Angst, etwas zu verpassen oder die Erwartungen anderer nicht zu erfüllen. Auch wird die Mediennutzung retrospektiv häufig als Zeitverschwendung wahrgenommen:

„[…] dann sitze ich vorm Fernseher oder mache am Laptop irgendwas … also es ist schon sehr viel Zeit, die man mit sowas verbringt, irgendwie und quasi auch verschwendet …“ (Lea (22 Jahre): 2)

Weitere digitale Stressoren sind der ständige Vergleich mit anderen und das Ausblenden der Umwelt durch das andauernde „Mehr“ an oberflächlicher Kommunikation und die Konzentration auf digitale Medien.

So zeigt sich in den Gesprächen mit den Jüngeren zumeist eine eher negative Einstellung zur eigenen Mediennutzung, welche durch die kritische Haltung in den Medien und spezifischer Bezugspersonen, wie die Eltern, aber auch Lehrer:innen verstärkt wird. Diese und der erhöhte digitale Stress führen dazu, dass junge Erwachsene Praktiken der Grenzziehung ergreifen, indem sie Prämissen formulieren und für sich selbst Regeln aufstellen, die die Mediennutzung einschränken.

Zusammenfassend lassen sich große Unterschiede sowohl in der Einstellung zu digitalen Kommunikationsmedien als auch in den digitalen Auslösern von Stress zwischen den Generationen feststellen. Dies wirkt sich auf die angewendeten Praktiken der Grenzziehung aus, welche im Folgenden genauer beschrieben werden sollen und die generationalen Unterschiede tiefergehend verdeutlichen.

6 Praktiken der Grenzziehung der Jüngeren

Insgesamt konnten in der Analyse acht differente Praktiken der Grenzziehung identifiziert werden. Dabei können die von Roitsch (2020) erörterten Praktiken (vgl. Tab. 1) um eine weitere inhaltliche Dimension – die Selbstoptimierung – ergänzt werden (vgl. Tab. 2).

Tab. 2 Praktiken der Grenzziehung Jüngerer

Für die Mehrheit der jüngeren Studienteilnehmer:innen ist die Mediennutzung fester Bestandteil ihres Alltags, mit der Folge, dass ein Verzicht nicht ohne Rechtfertigung und strikte Abgrenzung möglich ist. Es besteht ein Bedürfnis nach kommunikativer Abgrenzung, die sowohl für sich selbst als auch für die Umwelt eine Rechtfertigung impliziert. Die von Roitsch erörterten Praktiken der Grenzziehung werden von den Jüngeren aktiv angesprochen und mit Argumenten für einen (teilweisen) Verzicht bestimmter Anwendungen versehen. Eindrücklicher als in den Beschreibungen von Roitsch (2020), wird hier auf die Notwendigkeit der aktiven Grenzziehung verwiesen und das eigene Handeln legitimiert. Die Nutzung von digitalen Kommunikationsmedien wird von den Jüngeren als Normalzustand und die Ausnahme davon in der Folge als begründungspflichtig wahrgenommen. Dies stärker die Beschreibung der Nicht-Nutzung als aktive Grenzziehung eines „Opt-Out“, wie ihn auch Nassen et al. (2023) verwenden.

6.1 Beschleunigung

Die erlebte Beschleunigung äußert sich, analog zu den Ergebnissen von Roitsch, im vorliegenden Sample in den drei Praktiken des Reduzierens, Einteilens und Zurückziehens.

Das Reduzieren als Praktik des aktiven Grenzziehens wird besonders deutlich in der Auswahl spezifischer Medienanwendungen und dem damit verbundenen Verzicht auf andere. So hat beispielsweise Sarah ihre Anwendungen auf die Nutzung von Instagram reduziert:

„Ich meine, Instagram hat ja inzwischen eigentlich fast alle Funktionen von den ganzen anderen Apps. Und auf Instagram gibt es schon genug Content und Informationen und das ist eh so viel, dass man es niemals alles so verwerten kann, da brauche ich jetzt nicht noch mehr.“ (Sarah (21 Jahre): 48)

Auch Stefanie beschreibt, dass ihr die zwei Plattformen, welche sie zum Kommunizieren mit Kontakten verwendet, vollkommen ausreichend sind:

„[…] und ich möchte tatsächlich nicht mehr Plattformen, auf denen ich dann noch irgendwie kommunizieren muss, das würde mich nämlich überfordern.“ (Stefanie (35 Jahre): 18)

Wesentlich ist hierbei, dass die Praktiken des Reduzierens besonders bei Kommunikationsmedien, wie WhatsApp, Threema oder Signal, immer auch in Auseinandersetzung mit den Nutzungsgewohnheiten des sozialen Umfelds erfolgt. So versuchen die Nutzer:innen eine Auswahl zu treffen, die digitale Kommunikation weiterhin ermöglicht, diese aber auf ausgewählte Anwendungen begrenzt.

Eine zweite Form der Praktik des Reduzierens beschreibt Julia anhand ihrer Instagram-Nutzungsgewohnheiten:

„Bei Instagram habe ich mittlerweile ein App-Limit von zwei Stunden für Arbeitstage drin. Das heißt, ich kriege dann nach zwei Stunden eine Meldung ‚du warst jetzt zwei Stunden drin‘ und wenn man nichts macht, dann hat man auch keinen Zugriff mehr, außer man gibt dann irgendwie einen komplizierten Code ein.“ (Julia (30 Jahre): 62)

Durch das App-Limit kann Julia den Umfang der Medieninhalte und der investierten Zeit reduzieren. Besonders Anwendungen mit einem Endlos-Feed oder auch die Autoplay-Funktion auf Streaming-Portalen verleiten die Nutzer:innen häufig dazu, mehr Zeit mit Medien zu verbringen als ursprünglich intendiert. Durch das Setzen von Grenzen in Bezug auf die Nutzungsdauer spezifischer Anwendungen wird aktiv digitaler Stress reduziert, da dieser häufig durch das retrospektive Gefühl der Zeitverschwendung ausgelöst wird.

Mit der Praktik des Einteilens beschreibt Roitsch die „Praktiken der Taktung von Medientechnologien und -inhalten im Tages- und Wochenverlauf“ (Roitsch 2020, S. 103). Mit Blick auf die Reduzierung von digitalem Stress finden sich im Sample zumeist Praktiken, die sich auf generelle Zeiten ohne Medien im Tagesverlauf beziehen. So beschreibt Sarah die Strategie, das Handy nicht direkt nach dem Aufwachen am Morgen in die Hand zu nehmen, um entspannter in den Tag starten zu können:

„[…] also ich stehe momentan so um acht auf und habe mir abgewöhnt, morgens gleich aufs Handy zu schauen, sondern mache das eher nach eineinhalb bis drei Stunden, weil ich nicht mehr mit diesem Blick aufs Handy in den Tag starten möchte.“ (Sarah (21 Jahre): 24)

Hierbei lassen sich auch einige der Befragten in ihren Praktiken der Grenzziehung durch das Smartphone selbst und den „Nicht stören“- oder auch „bedtime“-Modus unterstützen (vgl. Julia (30 Jahre): 140).

Auch eine räumliche Trennung vom Handy kann als eine Praktik des Einteilens identifiziert werden. So beschreibt Julia:

„[…] also ich versuche eigentlich mein Handy jetzt zumindest unter der Woche nicht am Bett zu haben, damit ich morgens schneller aufstehe.“ (Julia (30 Jahre): 8)

Als eine Steigerungsform des Einteilens kann die Praktik des Zurückziehens verstanden werden. Hierbei ziehen sich die Nutzer:innen zeitweise aus spezifischen Medien oder ihrer gesamten Mediennutzung im Sinne eines „Digital Detox“ zurück (vgl. Goodin 2017; Syvertsen 2020; Beisch und Koch 2022).

Darunter zählt beispielsweise das vorübergehende Deinstallieren spezifischer Anwendungen, wie es Lea mit Verweis auf Instagram beschreibt:

„[…] ich habe jetzt Insta vor zwei Tagen deinstalliert, weil ich dachte, jetzt mal eine Woche ohne wäre vielleicht nicht schlecht. Weil ich gemerkt habe, jetzt besonders mit diesem Online-Unterricht, ich bin da nicht so gut mit dem selbst strukturieren und mir selbst einteilen, wann ich was mache und ich merke schon, dass ich jetzt öfter mal eine Stunde lang nur rumgescrollt habe. Und ja, das war ein bisschen viel.“ (Lea (22 Jahre): 38)

Ähnliche Praktiken beschreiben auch Julia mit Verweis auf TikTok (vgl. Julia (30 Jahre): 62) und Michelle auf Twitter (vgl. Michelle (20 Jahre): 10). Hierbei unterscheiden sich die Nutzer:innen in ihrer Intention, ob das Deinstallieren der Anwendung als Pause oder als dauerhafter Verzicht initiiert wird. Andere versuchen mit einer ähnlichen Strategie die Hürden der Nutzung zu erhöhen und deinstallieren Anwendungen auf ihrem Telefon, ohne den Account an sich zu löschen. Die Anwendung kann dann beispielsweise noch über den Computer verwendet werden, aber ist nicht mehr so schnell und einfach zugänglich wie direkt in der App auf dem Smartphone (vgl. Michelle (20 Jahre): 14).

Das Zurückziehen als Praktik wird auch durch die zeitweise räumliche Trennung zu den Mediengeräten selbst angewendet. So beschreibt Anna, dass sie während der Arbeit am Schreibtisch das Handy in der Küche liegen lässt, „weil ich nicht drauf schauen möchte“ (Anna (22 Jahre): 54) oder Sarah, die es in eine andere Ecke des Zimmers legt (vgl. Sarah (21 Jahre): 24).

Längere Phasen des Verzichts, besonders wenn diese alle Mediengeräte einschließen, können als Digital Detox bezeichnet werden (vgl. Goodin 2017; Syvertsen 2020). Tim spricht in diesem Zusammenhang von sogenannten „Timeouts“:

„Also Timeouts im Sinne von […] also wirklich Handy weglegen, Fernseher aus und ein Buch lesen, zum Beispiel. Oder rausgehen für eine halbe Stunde, spazieren, wenn einfach alles zu viel ist. […] bis ich gut gelaunt bin und dann wieder die Zeit und Kraft dafür habe, das zu machen.“ (Tim (24 Jahre): 134)

In den Beschreibungen der Mediennutzer:innen wird deutlich, dass das Zurückziehen zumeist als Coping-Strategie bei digitalem Stress Anwendung findet und als Ausweg aus der Überforderung anzusehen ist. So beschreibt auch Sarah, dass sie ihr Handy mehrere Tage in den Flugmodus gesetzt hat, „weil es mich einfach nur noch genervt hat“ (Sarah (21 Jahre): 54). Als wesentlich ist hier anzumerken, dass das situative Stresslevel dadurch zunächst reduziert wird, es aber in der Folge zu „Switching Stress“ kommen kann (vgl. Maier et al. 2015): „Switching-stress creators are stressors associated with switching from using one technology to others“ (Maier et al. 2015, S. 283). Darunter zählen beispielsweise die Notwendigkeit der Etablierung neuer Kommunikationswege, das Brechen mit gewohnten Routinen, der Verzicht auf spezifische Funktionen und die Ungewissheit, ob die neuen Formen der Kommunikation besser funktionieren als die Alten.

6.2 Mittelbarkeit

In der zweiten von Roitsch vorgeschlagenen Dimension – der Mittelbarkeit – wird auf die „zunehmende räumliche Erstreckung von Handeln im Kontext medienvermittelter Kommunikation“ (Roitsch 2020, S. 161) fokussiert. Hierbei lehnt sich Roitsch an die Überlegungen von Schütz (2004) an, der die Bedeutung der physischen Nähe für die Sozialbeziehungen betont und das Erleben von Unmittelbarkeit unter der Vergrößerung der räumlichen Erstreckung in der Moderne problematisiert (vgl. Schütz 2004, S. 331).

Differenziert Roitsch in ihrer Untersuchung drei Praktiken der Mittelbarkeit (vgl. Roitsch 2020, S. 160–212), findet sich im vorliegenden Sample der Jüngeren lediglich die Praktik des Fokussierens, welche sich auf das bewusste Lenken der Aufmerksamkeit weg von Medien hin zu anderen Menschen oder Tätigkeiten bezieht. In den Gesprächen zu den Nutzungsgewohnheiten der Befragten beschreiben sie diese Situationen, in denen sie ihre Mediengeräte bewusst ausschalten oder ausblenden. Hierunter fallen zum einen Situationen, die eine erhöhte Konzentration erfordern, wie beim Arbeiten oder Lernen, und zum anderen soziale Interaktionen wie beispielsweise der Kaffee mit Freunden. So beschreibt Julia:

„Ich versuche, wenn wir essen gehen mit Familie oder auch zu zweit, es möglichst in der Tasche zu lassen. Einfach, damit man nicht abgelenkt wird.“ (Julia (30 Jahre): 12)

Mit Verweis auf die Praktiken der Grenzziehung der Jüngeren wird wiederholt deutlich, dass der Verzicht begründungspflichtig ist, da von einer dauerhaften Erreichbarkeit ausgegangen wird und die Fokussierung auf die situativen Gegebenheiten für die Jüngeren eine Herausforderung darstellen. So wird in der Aussage von Julia augenscheinlich, dass sie „versucht“, das Handy in der Tasche zu lassen. Die Fokussierung auf nicht digitale Interaktionen scheint den Jüngeren mehr und mehr schwer zu fallen und die aktive Grenzziehung wird zur Herausforderung.

Die beiden weiteren von Roitsch genannten Praktiken des Zurückhaltens und des Abschirmens konnten in ihrer spezifischen Definition nicht im Material identifiziert werden. Dies mag zum einen an der thematischen Ausrichtung des Forschungsdesigns am digitalen Stress liegen, zum anderen aber auch in den Wandlungsprozessen der Mediennutzung selbst und den neuen Formen kommunikativer Möglichkeiten und Gewohnheiten begründet sein.

6.3 Differenzierung

Auf die zunehmende Komplexität des eigenen Handelns und der Notwendigkeit zu differenzieren, um handlungsfähig zu bleiben, zielt die dritte Dimension der Praktiken der Grenzziehung ab. Roitsch fokussiert sich dabei auf den Umgang mit der Vielfalt verschiedener Regeln, mit Regelverstößen und der Herausforderung sich ständig ändernder Regeln (vgl. Roitsch 2020, S. 104).

Mit der Praktik des Unterlassens wird der vorübergehende oder dauerhafte Verzicht von Medienkommunikation im Kontext der Vielfalt verschiedener Regeln und Anforderungen an die Mediennutzer:innen beschrieben. So erklärt beispielsweise Jan, dass er sich an der impliziten Regel „ständig erreichbar zu sein“ stößt und dies als Belastung empfindet:

„Es ist sehr selbstverständlich geworden, dass man immer am Kommunizieren ist … also, dass man jetzt nicht wie damals, als es noch kein Handy gab, mal eine, zwei, drei Wochen nix von jemanden hört, einfach weil es sich nicht ergibt, das ist nur selten so und ja, dadurch weiß man es vielleicht nicht mehr wertzuschätzen. Also ich kommuniziere auch gern mit den Leuten, aber es ist dann schon auch irgendwie eine Belastung.“ (Jan (22 Jahre): 54)

In der Konsequenz versucht er dann beispielsweise, extra nicht im Messenger online zu gehen und die Illusion, dass er die Nachrichten schlicht noch nicht gesehen hat, aufrechtzuerhalten. Besonders mit Blick auf die Entstehung von digitalem Stress spielt die ständige Erreichbarkeit und die impliziten Erwartungen an eine zügige Reaktion eine wesentliche Rolle. So verweisen einige der Jüngeren auf diese implizite Erwartungshaltung und dass, ohne genau zu wissen, ob das Gegenüber wirklich auf eine Antwort wartet oder der Stress selbst kreiert ist.

Auf einen weiteren Aspekt des Unterlassens verweist Karl, wenn er über die ständig neu entstehenden Angebote und Anwendungen spricht:

„Aber ich muss jetzt nicht auf jeden neuen Zug, der da kommt, wieder aufspringen, weil auch das, sag ich mir, ich habe gar keine Lust so viel Zeit am Tag damit zu verbringen. Da ist mir einfach – Anderes ist mir dann wichtiger.“ (Karl (28 Jahre): 50)

Auch hier zeigt sich, dass die Jüngeren der impliziten Regel, immer up-to-date zu sein und an allen neuen Formen der Interaktion teilhaben zu müssen, anheimfallen. Wer nicht „auf jeden neuen Zug aufspringt“ und sich aktiv abgrenzt, hat in den Interviews auch jeweils eine Rechtfertigung parat, warum diese oder jene Anwendung nicht mehr genutzt wird oder man neue Möglichkeiten bisher nicht ausprobiert hat.

Eine zweite Praktik im Umgang mit der zunehmenden Differenzierung kann mit dem Verlagern von Medienkommunikation beschrieben werden. Stefanie macht diese Praktik recht anschaulich deutlich, wenn sie erklärt, warum ihr Handy stumm geschaltet ist:

„Also das ist ein Punkt, dass nicht klar ist, welches Medium ist jetzt noch der Transporteur für dringliche Nachrichten. Das ist vielleicht ganz gut, das in seinem sozialen Umfeld abzuklären, denn sonst gibt es viele Missverständnisse. Aber wenn jetzt jemand mich kennt und weiß, wie ich mein Handy handhabe und dass ich halt WhatsApp kein Ton habe und ab und zu gucke, aber nicht jedes Mal den Kopf herumdrehe, weil es Ping macht, dann weiß derjenige auch, wenn es dringend ist, muss er mich anrufen.“ (Stefanie (35 Jahre): 64)

So wird die wichtige Kommunikation auf spezifische Medien verlagert, deren implizite Hürde zugleich sicherstellt, dass diese Form der Kommunikation nicht missbraucht wird. Wer anruft, muss etwas zu sagen haben und weiß, dass er die angerufene Person womöglich gerade stört.

Eine weitere Form des Verlagerns beschreibt Julia, die zwischen sich und ihrem Handy eine Smartwatch geschaltet hat und so die Nachrichten vorfiltern kann. Auch hier ist das Ziel, die Hürden der direkten Reaktion zu erhöhen, weniger von den verschiedenen Anwendungen gestresst zu werden und gegen die Zeitverschwendung durch die Nutzung von Apps anzugehen.

„Meine Apple Watch finde ich ganz cool, ich habe eine Smartwatch, weil ich die tatsächlich auch nutze, das klingt jetzt lustig, um bisschen weniger aufs Handy zu gucken, gerade was Benachrichtigungen angeht, ist das jetzt wichtig oder nicht, also da kann man ein bisschen auch sortieren …“ (Julia (30 Jahre): 78)

Die weiteren von Roitsch dargestellten Praktiken des Separierens und Verbergens konnten im Datenmaterial nicht eineindeutig identifiziert werden. Ergänzend zeigte sich im Datenmaterial eine weitere Dimension der aktiven Grenzziehung im Umgang mit digitalem Stress, die mit neuen Praktiken einhergeht.

6.4 Selbstoptimierung

Das Gespräch über die eigene Mediennutzung und die Entstehung von digitalem Stress hat Reflexionsprozesse bei den Befragten ausgelöst, die auf eine inhaltliche Dimension der Selbstoptimierung verweisen. Hier werden bisherige Medienpraktiken kritisch hinterfragt und neue Formen der Grenzziehung entwickelt, von denen sich die Mediennutzer:innen einen gesünderen, weil stressfreieren Medienkonsum erhoffen. Wesentlich ist, dass diese auf eine Verbesserung der eigenen Nutzungsgewohnheiten und Medienhandlungen abzielen.

So lässt sich die Praktik des kritischen Distanzierens erkennen. Hierbei versuchen die Mediennutzer:innen sich selbst von den Erwartungshaltungen und Nutzungsgewohnheiten ihres sozialen Umfelds zu distanzieren und sich selbst weniger digitalem Stress auszusetzen. Stefanie beschreibt beispielsweise ihren Reflexionsprozess, in dem sie die Strategie entwickelt, das eigene Handeln weniger von den (imaginierten) Erwartungshaltungen der anderen bestimmen zu lassen:

„Es ist meine Entscheidung, wann ich erreichbar sein möchte. Es fühlt sich manchmal nicht ganz, wie meine Entscheidung an, weil ich dann den Erwartungen anderer zu viel Gewicht gebe und das erzeugt den Stress, erreichbar sein zu müssen. Das ist ein anderer Punkt, zu lernen, das aushalten zu können, dass man die Erwartungen dann nicht erfüllt. Aber es ist für einen selbst vielleicht auch besser, diese Erwartungen jetzt gerade nicht zu erfüllen und dass eigentlich gar nichts Schlimmes passiert in der Regel.“ (Stefanie (35 Jahre): 52)

Die Praktik des Distanzierens kann als subjektiver Lernprozess aus den erkannten Herausforderungen im Umgang mit digitalen Kommunikationsmedien verstanden werden. Die Mediennutzer:innen hinterfragen bisher existierende Medienpraktiken, distanzieren sich von diesen und setzen neue Grenzen. So reflektiert auch Jan seine eigenen Erwartungen und versucht diese nicht auf sein soziales Umfeld zu projizieren:

„Ich versuche, keine solche Erwartungen an irgendjemanden zu stellen und ich will auch selbst nicht der Stressfaktor für andere Leute werden. […] Ich habe das schon noch immer so ein bisschen im Hinterkopf, ich versuche mich eigentlich davon freizumachen und ich weiß auch, wenn mir jemand mal drei Tage nicht antwortet, sag ich mal, ist das mir relativ wurscht, weil es mich jetzt nicht wirklich tangiert, und ich denke mir, irgendwann kommt die Antwort schon oder man fragt dann mal nach.“ (Jan (22 Jahre): 56)

Eine zweite Praktik im Kontext der Selbstoptimierung stellt das Selektieren dar. Auch hier werden die alltäglichen Medienpraktiken kritisch hinterfragt und mit Blick auf die Funktionalität und den subjektiven Bedarf ausgewählt. So beschreibt beispielsweise Jennifer, dass sie und ihr Mann relativ viel Zeit im Internet verbringen, diese aber zumeist zur persönlichen Weiterbildung verwendet wird und dadurch keinen Stressor darstellt (vgl. Jennifer (30 Jahre): 37). Hier findet eine Selektion in Bezug auf die subjektiven Bedürfnisse statt und ermöglichen eine stressreduzierte Mediennutzung. Auch Jessica sagt über sich, „dass ich schon viele Medien nutze, aber halt nur ausgewählte Medien“ (Jessica (25 Jahre): 90). Im Anschluss spricht sie einen Messenger-Dienst an, den sie gerne zur Kommunikation mit Freunden verwendet und andere Anwendungen, wie TikTok, die sie nicht verwendet. Hierbei lässt sich ein Wandlungsprozess beobachten, der weg vom Rechtfertigungsdruck hinsichtlich der Nicht-Nutzung von Anwendungen hin zur bedarfsorientierten Begründung der Nutzung führt. Die Praktiken der Grenzziehung wandeln sich so von einer Abgrenzung aus Überforderung hin zur selbstreflektierten, aktiven Entscheidung, welche Medien und Anwendungen einen subjektiven Mehrwert generieren.

7 Praktiken der Grenzziehung Älterer

Im Rahmen der Langzeitstudie wurden in regelmäßigen Abständen zehn Personen befragt, die über 40 Jahre alt sind und der Gruppe der Älteren zugeordnet wurden. Diese zeichnen sich durch eine deutlich geringere Mediennutzung als die Jüngeren aus, sowohl was die Menge an verschiedenen Technologien und Anwendungen betrifft wie auch deren quantitativen Mediennutzungszeiten, wie sich besonders gut in den geführten Medientagebüchern erkennen lässt. Insgesamt zeigt die Auswertung der qualitativen Interviews, dass sich zwölf Praktiken der Grenzziehung bei den Älteren finden lassen. Die drei von Roitsch vorgeschlagenen Dimensionen konnten durch einzelne Praktiken identifiziert und die Dimension der Medienoptimierung in Bezug auf körperliche und individuelle Einschränkungen ergänzt werden (vgl. Tab. 3).

Tab. 3 Praktiken der Grenzziehung Älterer

7.1 Beschleunigung

Auch die Älteren sprechen Momente der zeitlichen Überforderung an und verweisen im Anschluss auf zwei ähnliche Praktiken. So findet sich das Einteilen als Praktik, damit konkrete Zeiten existieren, die ohne Medien gestaltet werden. So beschreibt beispielsweise Nicole, dass sie ihr Handy über Nacht ganz ausschaltet und besonders am Wochenende erst spät einschaltet:

„Ich würde sagen, am Wochenende ist es so, dass ich vielleicht, Samstag irgendwann mittags, manchmal sogar am Sonntag erst am Nachmittag das Handy einschalte.“ (Nicole (50 Jahre): 10)

Bereits hier wird deutlich, dass die Praktiken der Älteren deutlich intuitiver gehandhabt und weniger als aktive Maßnahmen zur Reduzierung von digitalem Stress gebraucht werden. So beschreiben auch andere Befragte, dass sie ihr Handy zwar überall mit hinnehmen, allerdings keine mobilen Daten auf diesem besitzen und so zwangsläufig unterwegs nicht über Messenger-Dienste erreichbar sind (vgl. Helga (83 Jahre): 104; Nicole (50 Jahre): 117).

Aufgrund der freien Zeiteinteilung besitzen die bereits in das Rentenalter eingetretenen Personen feste Tagesroutinen, die durch die Nutzung von digitalen Medien und Anwendungen bestimmt werden. Am Abend die Nachrichten zu schauen, wie Helga beschreibt, ist obligatorisch:

„Der Fernseher, da ist abends um 19:30 Uhr das Schleswig-Holstein-Magazin, das ist heilig. Selbst im Urlaub, wenn ich mit den Enkeln auf Amrum bin, dann sagen die schon ‚Oma, es ist 19:30 Uhr‘, da muss ich also Schleswig-Holstein. Das ist eine sehr feste Größe.“ (Helga (83 Jahre): 32)

Da Multitasking beziehungsweise das Verwenden zweier Mediengeräte zeitgleich in dieser Altersgruppe kaum vorhanden ist, entsteht weniger das Gefühl der Zeitverschwendung und der damit verbundenen zeitlichen Not mit Blick auf die eigene Mediennutzung. So zeigt sich auch bei den Berufstätigen der Gruppe, dass das retrospektive Gefühl der Zeitverschwendung deutlich unterrepräsentierter ist, als bei den Jüngeren, da die Praktik des Einteilens deutlich strukturierter und minimierter stattfindet.

Neben der Praktik des Einteilens findet sich Sequenzen, die auf das Verschieben von Medienpraktiken auf einen späteren Zeitpunkt verweisen. So beschreibt Christian, wie er mit neuen Nachrichten auf seinem Handy umgeht:

„Das ist der Vorteil, dass man irgendeine Nachricht bekommt und nachmittags schaut und dann sind dann irgendwie drei neue Nachrichten und die kann ich dann irgendwann mal beantworten, wenn ich dazu komme.“ (Christian (48 Jahre): 96)

Die Praktik des Verschiebens macht eindrücklich deutlich, dass das Ziehen von Grenzen den Älteren deutlich leichter fällt als den Jüngeren. Hier schwingt eher ein gesundes Maß an Gelassenheit mit:

„Aber oft lasse ich das auch liegen. Und das macht auch meine Familie […]. Man kann immer sehen, ob sie es gelesen haben, dann hat es die zwei Häkchen und dann weiß ich ‚ach, er weiß Bescheid‘ und dann ist es ja gut, nicht. Und dann kommt die Antwort, wann es richtig ist.“ (Helga (83 Jahre): 40)

Die dauerhafte Erreichbarkeit und sofortige Reaktion, die als Erwartungshaltung des Gegenübers bei den Jüngeren allgegenwärtig ist, scheinen die Älteren nicht erfasst zu haben. Damit lässt sich der weniger gestresste und reduziertere Umgang mit digitalen Medien beschreiben. Hierbei spielt die erlebte Mediensozialisation eine Rolle, in der Kommunikation ebenfalls funktional, aber deutlich verlangsamter war. Ein eindrückliches Beispiel davon beschreibt Monika:

„Also, wenn dann irgendwelche Nachrichten kamen von Verwandten […], da ist man dann zum Telefon zum Bäcker gerufen worden. […] Also man kann es sich auch nicht vorstellen. Da haben die angerufen und gesagt, ja, die Schwester, die sollte da kommen und sollte zurückrufen und dann ist man zum Nachbarn, das war der Bäcker, das war so die Institution und der hatte ein Telefon. Und da ist man dahin und hat zurückgerufen, also schon krass …“ (Monika (69 Jahre): 58)

Am Beispiel von Monika wird deutlich, dass sie die Vorzüge der neuen Medien zwar befürwortet, aber versucht den mitschwingenden Anforderungen und Nachteilen nicht zu viel Raum zu geben. Die Praktik des Verschiebens hilft dabei, sowohl das situative Stresslevel, als auch die Erwartungshaltung der Kommunikationspartner:innen zu reduzieren. In diesem Sinne kann die bereits vorhandene Praktik des Einteilens in der Gruppe der Älteren um die des Verschiebens ergänzt werden, die Praktiken des Reduzierens und des Zurückziehens konnten dagegen nicht identifiziert werden.

7.2 Mittelbarkeit

Mit dem Blick auf das räumliche Expandieren der Medienhandlung beschreibt Roitsch drei Herausforderungen der Gegenwart: die Fragmentierung, die Ko-Präsenz und die Unbestimmbarkeit sowie die dazugehörigen Praktiken, um damit umgehen zu können. Zwei dieser Praktiken lassen sich auch im Datenmaterial der Älteren finden. Die Praktik des Zurückhaltens zielt auf den Schutz personensensibler Daten ab. Dies zeigt sich vor allem in der geringen Verwendung von sozialen Medien in der Untersuchungsgruppe, die mit einer vorsichtig-kritischen Haltung begründet wird.

„Und Facebook, Instagram und diese ganzen neueren Sachen, das reizt mich überhaupt nicht. Also ich verstehe gar nicht, was man da dran finden kann. Also, das ist einfach verschwendete Zeit, meines Erachtens. […] dieses Ausbreiten der eigenen Geschichte, finde ich abstoßend. […] Und da ich ein bisschen vom Fach bin, diese ganzen Privatsphäre-Verletzungen, die sich die großen Firmen da leisten, die unterstütze ich grundsätzlich nicht.“ (Michael (58 Jahre): 128)

Gleichzeitig kommt die Frage nach dem Schutz sensibler Daten deutlich weniger auf, da sich der Mehrwert der Nutzung der sozialen Anwendungen den Älteren gar nicht erst erschließt, wie Thomas beschreibt:

„[…] da muss ich nicht noch auf Facebook was von mir offenlegen, was dann nur Facebook nützt, um Werbung zu verkaufen …“ (Thomas (58 Jahre): 148)

In diesem Sinne ist die Praktik des Zurückhaltens vorhanden, besitzt aber eine andere Motivation als von Roitsch ursprünglich intendiert. Das Zurückhalten personenbezogener Daten ist in der Gruppe der Älteren teilweise aus Datenschutzbedenken und Unsicherheit über die Funktionsweisen der Anwendungen geprägt, vermehrt finden sich aber Beschreibungen der Nichtnutzung aufgrund fehlender Motive für eine Nutzung.

Anders gelagert ist dies bei Messenger-Diensten wie beispielsweise WhatsApp, welchen bis auf Helga alle Befragten verwenden. Doch auch hier werden Daten aus Bedenken hinsichtlich deren Schutzes zurückgehalten:

„Man muss schon sagen, man kann verschiedene Informationen schon auf die Schnelle weiterleiten, das ist das Schöne. Und es ist auch praktischer als eine E‑Mail. Also eine E‑Mail kriegt man heutzutage weniger. Natürlich, wenn es wichtige Sachen sind, die würde ich nicht per WhatsApp, sondern per E‑Mail versenden.“ (Nicole (50 Jahre): 69)

Ähnliche Argumentationen finden sich ebenso bei der Praktik des Abschirmens. So werden nicht alle Kommunikationskanäle mit allen Kontakten geteilt, zum einen aus Datenschutzgründen wie bei Tanja und zum anderen um potenzielle Überforderungen durch zu viele Nachrichten zu verhindern, wie Christian beschreibt.

„Weil das so private Sachen sind, die eigentlich nicht wichtig sind, … und wer mich wirklich erreichen will, weiß wie er mich erreichen kann.“ (Tanja (56 Jahre): 74)

„Dazu fällt mir ein, ich hab auch bei meinem Handy alle möglichen Klingeltöne und Einstellungen und Benachrichtigungen deaktiviert, das heißt, nur wenn man mich anrufen will, dann klingelt’s vielleicht, und ansonsten krieg ich nichts mit, also eben um da nicht dauernd draufschauen zu müssen oder mich dann irgendwie abzulenken.“ (Christian (48 Jahre): 136)

Anders als bei den Jüngeren verwendet die Gruppe der Älteren noch deutlich häufiger das Festnetztelefon, um den Kontakt zu Freunden und Familie aufrecht zu halten. Das Handy wird sowohl zeitlich wie auch mit Blick auf die verschiedenen Nutzungsmotive deutlich weniger als Allrounder gebraucht, wodurch das Abschirmen leichter gelingt. In der Folge konnte die Praktik des Fokussierens, anders als bei den Jüngeren nicht in den Interviews identifiziert werden. Insgesamt zeigt sich hier erneut, dass die Praktiken der Grenzziehung deutlich weniger mit Erklärungen und Rechtfertigungen durch die Befragten einhergehen, sondern als selbstbestimmte Entscheidungen für sich stehen.

7.3 Differenzierung

Mit der Differenzierung werden die Herausforderungen beschrieben, die durch eine zunehmende Komplexität des Handelns und der multiplen Handlungsoptionen entstehen. Insgesamt konnten zwei der von Roitsch (2020) vorgeschlagenen Praktiken sowie vier weitere identifiziert werden.

Im Anschluss an die Praktik des Abschirmens, die sich eher auf die räumliche Dimension bezieht, beschreibt die Praktik des Unterlassens den Umgang mit den vielfältigen Anforderungen und Regeln, sowie der Orientierung innerhalb dieser.

So beschreibt Helga die neuen Möglichkeiten der Medienrezeption, welche sich durch die Digitalisierung ergeben. Für sie ist eine positive Neuerung, die Tageszeitung auf den Tablet lesen zu können, da sie hier zum einen die Größe der Schrift individuell anpassen kann und zum anderen bereits am frühen Morgen Zugriff auf die aktuelle Ausgabe hat, falls sie wieder mal nachts nicht schlafen kann (vgl. Helga (83 Jahre): 64). Bücher dagegen auf dem Tablet zu lesen unterlässt sie:

„Also da bin ich noch altmodisch und lese Papierbücher. Da lese ich, … das mache ich nicht mit der Maschine. Ich liebe Bücher und … […] Man hat ja nur bestimmte Zeit für sowas und ich lese jetzt weniger Bücher, aber ich lese nicht über Maschinen Bücher.“ (Helga (83 Jahre): 76)

Trotz der Möglichkeit auch andere Gewohnheiten zu digitalisieren, unterlässt Helga bewusst diese Option. Ähnliches beschreiben Christian und Sabine in spezifischen Settings. Sabine geht auf die Situation des gleichzeitigen Filmschauens und etwas am Handymachens ein:

„Also, wenn ich tatsächlich was anderes mache, habe ich den Inhalt dann verpasst. Auch in einem Film, also selbst wenn es ein Spielfilm ist, wenn jetzt da nebenbei ein Anruf käme oder ich schreibe eine WhatsApp-Nachricht, also dann habe ich den entscheidenden Text vielleicht jetzt gerade verpasst.“ (Sabine (54 Jahre): 93)

Um ihre Aufmerksamkeit dem Film widmen zu können, verzichtet Sabine auf das Multitasking und zieht hier eine aktive Grenze in ihrer Mediennutzung. Ähnliches beschreibt Christian, wenn er sein Handy im Urlaub nicht ständig bei sich hat (vgl. Christian (48 Jahre): 68).

So entwickeln die Älteren aktive Praktiken des Unterlassens auf genereller und situativer Ebene, um digitalen Stress zu verhindern beziehungsweise dem spezifischen Handeln ihre volle Aufmerksamkeit zu widmen.

Das Verlagern der Medienkommunikation, um mit den Herausforderungen der Differenzierung umgehen zu können, wird auch in der Gruppe der Älteren praktiziert. So hat Helga ihre Kommunikation auf den Messenger Telegram verlagert und ist nicht bereit, neue beziehungsweise weitere Anwendungen zusätzlich zu verwenden. Sie sagt deutlich, wer mit mir kommunizieren will, kann mir auf Telegram schreiben oder mich anrufen, mehr Optionen werde sie nicht anbieten (vgl. Helga (83 Jahre): 48). Hier werden Praktiken des dauerhaften Verlagerns von Medienkommunikation angewendet. Die Praktik impliziert zudem das situative Verlagern der Kommunikation, wie es beispielsweise Susanne beschreibt, wenn sie sich anbahnende Diskussionen auf WhatsApp unterbindet und auf das Telefon verlagert (vgl. Susanne (59 Jahre): 19).

Die Praktiken des Separierens und Verbergens, die Roitsch vorschlägt, lassen sich im vorliegenden Datenmaterial nicht eindeutig zuordnen, allerdings konnten vier neue Praktiken identifiziert werden. Die Praktik des räumlichen Fixierens spielt in den Mediengewohnheiten der Älteren eine wesentliche Rolle. Hier wird zumeist den Mediengeräten an sich ein spezifischer Ort der Benutzung zugeschrieben. So verwendet Helga ihr iPad ausschließlich in der Küche (vgl. Helga (83 Jahre): 94) und Nicole ihr Handy zumeist im Wohnzimmer (vgl. Nicole (50 Jahre): 4). Für Tanja ist die räumliche Fixierung besonders wichtig, da sie selbstständig ist und von zuhause arbeitet:

„Ich habe meinen festen Arbeitsplatz und das find ich auch ganz schön, dass ich wirklich dann noch ein bisschen trennen kann zwischen privat und Beruf mit dem festen Arbeitsplatz und dem festen PC und eben kein Laptop, was ich die ganze Zeit mit mir rumschleppe.“ (Tanja (56 Jahre): 70)

Auch der Verzicht auf einen mobilen Internetzugang fixiert die Nutzung auf den eigenen Wohnraum und das dort vorhandene WLAN. In der Interpretation wird deutlich, dass diese Praktik in ihrer Intention deutlich weniger als bei den Jüngeren zum Selbstschutz und der Reduzierung von Stress angewendet wird, sondern zumeist aus Gewohnheit und Routine, sowie fehlender Nutzungsmotive entsteht. So nimmt Thomas das Handy nicht mit ins Schlafzimmer, weil er es weder als Wecker dort braucht, noch um sich irgendwie anderweitig damit zu beschäftigen (vgl. Thomas (58 Jahre): 90).

Die Strategie des Kreierens kann als aktive Praktik der Grenzziehung verstanden werden und bezieht sich auf das Etablieren eigener Regeln der Interaktion und Kommunikation in sozialen Gruppen. So werden beispielsweise Kommunikationskanäle nach Dringlichkeit priorisiert. So tauscht sich Tanja mit Freunden über WhatsApp aus, aber

„[…] weil das so private Sachen sind, die eigentlich nicht wichtig sind … und wer mich wirklich erreichen will, weiß wie er mich erreichen kann.“ (Tanja (56 Jahre): 74)

Im sozialen Umfeld von Tanja wurde demnach etabliert, welcher Kanal der Kommunikation für welches Anliegen am geeignetsten ist. Ähnliche Normen hat auch Sabine mit ihren Freundinnen kreiert, die WhatsApp als Alternative zum Briefeschreiben verwenden und sich dann gegenseitig Zeit zum Antworten einräumen:

„Also gerade WhatsApp hat die Funktion von Briefe schreiben übernommen und deswegen lässt man sich auch gerne Zeit, schreibt auch mal länger. Das ist wie ein kleiner Brief.“ (Sabine (54 Jahre): 9)

Neben der Regelung, welche Form der Interaktion und des Austauschs über welches Medium stattfindet, finden sich auch Regeln, die für das gemeinsame Zusammenleben gelten. So beschreibt Sabine, dass sich ihre Familie darauf verständigt hat, alle Geräusche und Vibrationen am Handy auszuschalten:

„Bei uns im Haushalt gilt kein Handyverbot, aber die Geräusche müssen ausgestellt werden. […] Also das hatten wir ja schon auch tageweise, wenn hier mehrere Geräte liegen und permanent kommt auf irgendeinem Handy, jeder springt, die ganze Familie springt und denkt ‚War ich das? Warst du das? Wessen Handy war das?‘. Deswegen ist bei uns noch nicht mal Vibration erlaubt.“ (Sabine (54 Jahre): 19)

Die neu geschaffenen Regeln erleichtern die Kommunikation und die alltäglichen Medienpraktiken. Gleichzeitig verhindern sie digitalen Stress und enttäuschte Erwartungen, wie sie sich bei den Jüngeren noch sehr häufig zeigen. Hier wirken die älteren Studienteilnehmer:innen wesentlich aktiver, was das Ziehen eigener Grenzen im Austausch mit anderen angeht.

Eine weitere Praktik der aktiven Grenzziehung ist das Ablehnen spezifischer Geräte oder Anwendungen, ohne diese getestet zu haben oder eine fundierte Begründung dafür zu besitzen. Dies finden sich zwar vereinzelt ebenfalls bei den jüngeren Mediennutzer:innen, hier spielen aber die Rechtfertigung der Ablehnung eine wesentliche Rolle. Das Ablehnen eines Gerätes oder einer Anwendung ist bei den Jüngeren weit mehr begründungspflichtig als bei den Älteren. Die Nachfrage nach Social-Media-Anwendungen wird dann von den Älteren lediglich verneint, sowie die Nachfrage, ob man es nicht früher vielleicht einmal hatte (vgl. Nicole (50 Jahre): 64–67; Christian (48 Jahre): 86). Zum anderen wird deutlich, dass aus einer Position auf diese neuen Möglichkeiten geblickt wird, in der es keinen Bedarf für sie gibt. So wird argumentiert, dass alle Bedürfnisse der Kommunikation und Unterhaltung, welche Medien im Kern erfüllen, bereits durch die vorhandenen Anwendungen abgedeckt sind und sich für die Person kein Vorteil einer Veränderung erschließt. So schließt Tanja eine Nutzung von Facebook generell aus, weil

„[…] das interessiert mich alles nicht, was die anderen Leute da posten. Das ist so langweilig in meinen Augen.“ (Tanja (56 Jahre): 82)

Abschließend konnte eine weitere Praktik im Umgang mit der Differenzierung identifiziert werden. Die Älteren priorisieren situativ bestimmte Medientechnologien und schließen damit andere Optionen kategorisch aus. Das impliziert die Reflexion der Situation und eine bewusste Medienrezeption:

„Was manches Mal ist, wenn das Telefon klingelt, wenn ich ferngucke und wenn ich einen bestimmten Film gucke, dann gucke ich, wer ruft da an, das kann ich ja lesen und entweder lasse ich es klingeln, dann muss derjenige auf den Anrufbeantworter sprechen oder ich mache den Fernseher aus, wenn ich sehe ‚doch, mit diesem Menschen möchte ich sprechen‘, dann mache ich den Fernseher aus und dann wird telefoniert. Aber gleichzeitig nein, so verrückte Sachen mache ich nicht.“ (Helga (83 Jahre): 94)

Hier gelingt es den Älteren, sich nicht in den vielfältigen Anrufungen der verschiedenen Medien zu verlieren, sondern den Schritt zurückzumachen und die eigenen Präferenzen zu evaluieren. Die Priorisierung findet dann in akuten Situationen, wie in dem Beispiel von Helga, aber auch auf einer generellen Ebene statt, wie Monika erzählt:

„[Eine Bekannte] wollte gerne Kontakt haben und dass ich antworte oder dass man sich austauscht. Das finde ich sehr unangenehm, muss ich echt sagen. Weil ich dann einfach auch nicht, sagen wir mal, lieber mal Zeit zur Verfügung lassen will. Ich […] bin ja jetzt wirklich im Rentenalter und ich will dann wirklich auch Zeit haben für die Bücherei oder das, was man halt momentan überhaupt noch machen kann.“ (Monika (69 Jahre): 98)

Die Praktik des Priorisierens ermöglicht es den Älteren, aktiv Grenzen zu ziehen und dem digitalen Stress vorzubeugen. Die Anwendung dieser Praktik macht zugleich deutlich, dass die Nutzung von Medien und Technologien in der Gruppe der Älteren sehr viel mehr innengeleitet und weniger an externen Zwängen orientiert ist, als bei den Jüngeren.

7.4 Medienoptimierung

Auch bei den Älteren kann eine neue Dimension zu den Praktiken der Grenzziehung hinzugefügt werden, die weniger als bei den Jüngeren auf die Verbesserung der eigenen Leistungsfähigkeit und einer effizienteren Mediennutzung abzielt, sondern den körperlichen, altersbedingten Einschränkungen Rechnung trägt. In der Folge wird das Medienrepertoire dahingehend angepasst, besser mit den körperlichen Einschränkungen, beispielsweise in Bezug auf die Sehkraft oder Haptik umgehen zu können. Es findet eine vom Subjekt ausgehende Optimierung der eigenen Medienumgebung statt.

Besonders mit Rekurs auf die nachlassende Sehkraft im Alter, verweisen mehrere Studienteilnehmer:innen auf das Bevorzugen bestimmter Mediengeräte über andere. So hat Helga die gedruckte Tageszeitung gegen die digitale Version auf dem iPad getauscht:

„Ich lese die Tageszeitung über das iPad. Ich hatte vor zwei Jahren große Probleme mit meinen Augen und da war es wunderbar, dass ich beim iPad die Schriftgröße ziehen konnte.“ (Helga (83 Jahre): 32)

Geräte, die sich nicht auf die nachlassende Sehkraft anpassen lassen, werden dann weniger oder gar nicht mehr genutzt. So findet eine aktive Grenzziehung zu potenziell stressenden Geräten statt. Das Bevorzugen kann genereller oder situativer Natur sein:

„Das Handy ist schon gut. Aber manchmal ist mir dann von der Schrift und der Größe her der Laptop lieber und dann wechsle ich. Weil einfach die Schrift viel größer ist oder wenn ich irgendwas korrigiere oder ihre E‑Mails lese … die lese ich viel lieber am Laptop.“ (Monika (69 Jahre): 42)

Ergänzend wird die subjektive Medienoptimierung auch über das Festhalten an bekannten Medienpraktiken realisiert. Ähnlich dem Unterlassen in Bezug auf die fortschreitende Differenzierung wird auf die Aneignung neuer Praktiken verzichtet. Die Ausgangspunkte sind erneut körperliche Beeinträchtigungen oder die die eigene Medienkompetenz überschreitende Herausforderungen.

Deutlicher wird die Praktik des Festhaltens in der Erzählung von Helga im Kontext digitaler Technik im öffentlichen Raum:

„[…] so einen fremden Bildschirm am Automaten zu sehen und dann sich Zeit zu nehmen, erstmal alles in Ruhe durchzulesen. Ich denke immer man muss schnell sein, der andere steht dann hinter mir und will ja auch sein Geld haben und […] das macht richtig Mühe. Und deshalb mache ich das auch dann so, ich gehe möglichst zu der gleichen Bank. Wenn ich das da begriffen habe, wie das funktioniert, dann gehe ich wieder zu der Bank und nicht zu den fünf anderen.“ (Helga (83 Jahre): 100)

Zusammenfassend beschreiben sowohl das Festhalten als auch das Bevorzugen die Nutzung spezifischer Medien und die damit verbundene Optimierung des eigenen Medienrepertoires.

8 Fazit

Zielte die vorliegende Studie auf die qualitative Untersuchung der Praktiken des alltäglichen Medienhandelns, die digitalen Stress reduzieren sollen, ab, wurden gleichwohl auch deutliche Unterschiede über die Generationen hinweg festgestellt. So bestehen wesentliche Differenzen zwischen Personen, die mit Medien aufgewachsen sind, beziehungsweise die Aneignung bereits früh erfolgt (u40) ist, und denen, die erst im Berufsalltag oder später damit in Berührung gekommen sind (ü40), besonders mit Blick auf die verwendeten Medien, die Kompetenz im Umgang und die Einstellung zu diesen. Dies hat in der Folge deutliche Auswirkungen auf das Erleben von digitalem Stress und die untersuchten Praktiken der Grenzziehung, um diesen zu reduzieren. Insgesamt konnten über beide Gruppen hinweg 17 Praktiken der Grenzziehung identifiziert werden, die sich in vier Dimensionen zusammenfassen lassen. Die Praktiken des Reduzieren, Einteilens, Zurückziehens und Verschiebens begegnen der zunehmenden Beschleunigung des alltäglichen Medienhandelns und die Mediennutzer:innen versuchen hier aktiv, die eigene Nutzung zu entschleunigen und die Handlungsanforderungen zu reduzieren. Auf den durch die steigende Mittelbarkeit ausgelösten digitalen Stress wird mit Praktiken des Fokussierens, des Zurückhaltens und des Abschirmens reagiert. Neben der Beschleunigung und der Mittelbarkeit führt auch die zunehmende Differenzierung zu Überforderung und Stress, welcher durch die Mediennutzer:innen mit den Praktiken des Unterlassens, des Verlagerns, des Priorisierens, des räumlichen Fixierens, des Kreierens und des Ablehnens einzugrenzen versucht wird. Die mit der Digitalisierung und den aktuellen gesellschaftlichen Wandlungsprozessen einhergehenden Zwängen zur Optimierung werden mit Praktiken der Grenzziehung entschärft, die sich als Distanzieren, Selektieren, Bevorzugen und Festhalten zusammenfassen lassen.

Der Fokus auf die generationalen Unterschiede zwischen den Praktiken der Grenzziehung macht deutlich, dass nur wenige der 17 Praktiken von beiden Untersuchungsgruppen (ü40 und u40) angewendet werden. Lediglich die Praktiken des Einteilens, des Unterlassens und des Verlagerns finden sich über die Altersgrenze hinweg. Besonders auffällig werden die Unterschiede in Bezug auf die vierte Dimension der Optimierung. Bei den Jüngeren finden sich eher Grenzziehungspraktiken, die auf die Optimierung der eigenen Person und der Interaktion mit anderen über soziale Netzwerke und Messenger abzielen. Die Älteren versuchen zur Reduzierung von digitalem Stress eher das eigene Medienrepertoire zu optimieren, indem sie an gewohnten Medien festhalten oder einzelne bevorzugen.

Insgesamt zeigt sich, dass sich die jüngere Generation aktiv von bestimmten Formen der Nutzung digitaler Medien und Technologien distanzieren will, um die eigene Lebenszeit sinnvoller und nützlicher zu gestalten, Stress zu reduzieren und gesundheitliche Beschwerden zu verringern. Die Mediennutzung der jüngeren Generation im Gegensatz zur älteren Generation ist ein obligatorischer Bestandteil des täglichen Lebens geworden, sowohl für sie selbst als auch für ihr Umfeld. Auf sie kann daher nicht ohne triftige Gründe und eine aktive Abgrenzung verzichtet werden. Die immanente Begründungspflicht der subjektiven Grenzziehung kann als wesentliche Demarkationslinie zwischen den zwei Untersuchungsgruppen verstanden werden. So scheinen sich die Jüngeren stetig vom Sog der allgegenwärtigen Medienanrufungen abgrenzen zu müssen, wohingegen die Älteren weniger sozialen Druck der Nutzung und der damit einhergehenden Begründungspflicht ihrer Praktiken der Grenzziehung verspüren. Besonders bei den Älteren ist die Entscheidung, welche Medien wie genutzt werden, deutlich innengeleitet.

Die generationalen Unterschiede in den Praktiken der Grenzziehung bestätigen die bereits in Kap. 5 angesprochenen Differenzen in Bezug auf die erlebte Mediensozialisation und die vorhandene Medienkompetenz. So führt die spätere Adaption von Informations- und Kommunikationstechnologien zu einer geringeren Abhängigkeit und weniger Konflikten im Alltag (vgl. dazu Nguyen et al. 2021). Auch das Alter selbst hat einen Einfluss auf die Mediennutzung, stellt sich bei den älteren Befragten eine Gelassenheit im Umgang mit Kommunikationsanfragen und sozialen Erwartungen ein. Die Jüngeren sind dagegen im Alltag mehr mit den Medien und Technologien verflochten und auch das Bedürfnis digitaler Auszeiten nimmt mit steigendem Alter ab (vgl. Beisch und Koch 2022). Nichtsdestotrotz werden die Auswirkung der Digitalisierung über alle Generationen hinweg deutlich, berichten in der vorliegenden Studie alle Teilnehmer:innen von Stress im Kontext digitaler Medien und Technologien und formulieren das subjektive Bedürfnis, mit diesen gesund umgehen zu können.

Mit der Etablierung eines reflexiven Bewusstseins für die subjektiven Folgen des Medienkonsums und das Bedürfnis, die eigene Lebenszeit sinnvoll zu füllen, wird der Grundstein für einen langfristigen Wandel im Medienhandeln gelegt. Hierbei können die Generationen übergreifend voneinander profitieren. Die Jüngeren können sich in Bezug auf die Gelassenheit im Umgang mit Medien an den Älteren orientieren und digitalen Stress reduzieren. Auch besitzen diese zumeist spannende Bewältigungsstrategien, um digitalen Stress vorzubeugen oder zu reduzieren. Die Älteren, die vornehmlich aufgrund fehlender Technik- und Medienkompetenz unter digitalem Stress leiden, können hier von den Jüngeren wichtige Kompetenzen erlernen. Die Anlage der Studie macht deutlich, dass bereits die Reflexion des Medienhandelns selbst einen wesentlichen Beitrag zur Reduzierung von digitalem Stress leisten kann (Waldenburger et al. 2023). Durch die Beobachtung der eigenen Routinen gewinnen die Studienteilnehmer:innen ein Bewusstsein für das eigene Medienhandeln und steigern die eigene Selbstkontrolle (vgl. Hefner und Freytag 2023). In diesem Sinne sollte zukünftige Forschung auf die Entwicklung von Angeboten zur Förderung der Selbstreflexion des eigenen Medienhandelns fokussieren, sowie die erarbeiteten Erkenntnisse weiter fundieren, indem beispielsweise auch andere kulturelle Kontexte und situationale Gegebenheiten der Mediennutzung miteinbezogen werden (vgl. bspw. Jorge 2019; Bozan und Treré 2023). Wichtig ist es dabei, das subjektive Wohlergehen in Bezug auf digitale Technologien und Medien nicht ausschließlich auf die Schultern der Einzelnen zu verteilen, sondern auch die Tech-Firmen und Anbieter spezifischer Dienstleistungen mit zur Verantwortung zu ziehen (vgl. Beattie und Daubs 2020; Docherty 2021). Es bleibt abzuwarten, inwieweit sich ein solcher Austausch initiieren lässt und ob dies ausreicht, um das Medienverhalten generationsübergreifend nachhaltig zu verändern und damit den digitalen Stress zu reduzieren. Ziel sollte es sein, die Praktiken, die jetzt noch als individuelle Versuche einer Verbesserung des eigenen alltäglichen Medienhandelns verstanden werden, zu einem kollektiven Fundus an handlungsleitenden Praktiken und sozialen, wie wirtschaftlichen Regulationsmaßnahmen verfestigt werden.