1 Einleitung

Die Medienberichterstattung über Migration hat die Gesellschaft in den letzten Jahren stark polarisiert. Während rechte Gruppierungen den Medien unterstellen, Zugewanderte einseitig positiv darzustellen, um in der Bevölkerung Unterstützung für eine weitreichende Zuwanderung zu schaffen, unterstellen linke Gruppierungen derselben Berichterstattung, sie konstruiere eine Bedrohung durch Geflüchtete, um einen „Rechtsruck“ in der deutschen Gesellschaft zu forcieren. Während man diese Extrempositionen noch als mehr oder wenige abstruse Verschwörungstheorien betrachten kann, zeigen repräsentative Befragungen, dass auch rund zwei Drittel der deutschen Bevölkerung die Medienberichterstattung über Migration für einseitig halten. Etwa die Hälfte dieser Menschen nimmt die Berichterstattung dabei als einseitig positiv wahr, die andere Hälfte hält sie dagegen für einseitig negativ (vgl. Arlt und Wolling 2016, S. 11).

Folglich stellt sich die Frage, ob und auf welche Weise die Migrationsberichterstattung deutscher Nachrichtenmedien tatsächlich einseitig ist. Empirische Studien zu dieser Frage kommen allerdings ebenfalls zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen. Während einige Studien eine einseitig negative Medienberichterstattung über Migration finden (vgl. z. B. Hestermann 2020; Ruhrmann und Sommer 2005), finden andere eine einseitig positive (vgl. z. B. Haller 2017; Kepplinger 2019) oder eine inkonsistente Berichterstattung, die unterschiedliche Einseitigkeiten aufweist (vgl. z. B. Maurer et al. 2019; Kelm et al. 2021). Diese widersprüchlichen Befunde, die je nach Auswahl jeden der oben genannten Eindrücke bestätigen oder widerlegen können, haben zuletzt auch zu einer kontroversen Debatte über vermeintlich voreingenommene Forscher geführt, denen unterstellt wird, ihre Ergebnisse mehr oder weniger bewusst einseitig zu veröffentlichen und zu interpretieren (vgl. Horz 2017; Haller 2019).

Tatsächlich lassen sich die Unterschiede in den Befunden vermutlich durch eine Reihe von Faktoren erklären: Die Studien unterscheiden sich in ihren Untersuchungszeiträumen, wobei es sich meist um Querschnittstudien handelt, die zudem häufig an spektakuläre Ereignisse mit unterschiedlicher Valenz geknüpft sind (z. B. die Terroranschläge vom 11. September 2001 oder die so genannte Flüchtlingskrise 2015). Sie beziehen unterschiedliche Medien ein, oft jedoch so wenige, dass Schlüsse auf die Gesamtberichterstattung kaum möglich sind. Zudem betrachten sie unterschiedliche Arten von Migration (z. B. ausschließlich Flucht- oder auch Arbeitsmigration), sodass die Berichterstattung über Zugewanderte unterschiedlicher Herkunft einbezogen wird, die wiederum vermutlich unterschiedlich dargestellt werden. Schließlich arbeiten die Studien auch mit unterschiedlichen und meist nur einzelnen Indikatoren für Einseitigkeit. Die Vergleichbarkeit der bisherigen Studien ist so stark eingeschränkt.

Wir wollen in diesem Beitrag deshalb anhand einer Reihe unterschiedlicher Indikatoren die Frage beantworten, ob und auf welche Weise die Medienberichterstattung über Geflüchtete in Deutschland einseitig ist. Dazu systematisieren wir zunächst die Forschung zur Einseitigkeit der Migrationsberichterstattung in deutschen Nachrichtenmedien. Anschließend präsentieren wir die Befunde einer quantitativen Langzeitinhaltsanalyse der Berichterstattung über Geflüchtete in sechs deutschen Leitmedien zwischen Mai 2015 und Dezember 2020. Dabei untersuchen wir systematisch eine Reihe von unterschiedlichen Indikatoren für Einseitigkeit, ihre Veränderungen im Zeitverlauf und mögliche Ursachen für diese Veränderungen.

2 Forschungsüberblick: Einseitigkeiten in der Migrationsberichterstattung deutscher Nachrichtenmedien

Obwohl Nachrichtenmedien durch gesetzliche Regelungen wie z. B. den Rundfunkstaatsvertrag und Instanzen der journalistischen Selbstkontrolle wie z. B. den Pressecodex des Deutschen Presserats zu einer ausgewogenen Berichterstattung angehalten sind, zeigen empirische Studien zu unterschiedlichen Berichterstattungsthemen, dass die Darstellung häufig einseitig ist (vgl. z. B. Branton und Dunaway 2009; D’Alessio und Allen 2000; Garz 2014; Kepplinger und Lemke 2016; Maurer et al. 2021a). Solche Einseitigkeiten (bias) können die Folge journalistischer Selektionskriterien (selection bias) oder die Folge journalistischer Darstellungsweisen (presentation bias) sein (vgl. Groeling 2013, S. 134). Journalistische Selektionskriterien wie Nachrichtenfaktoren (vgl. Eilders 2006) führen beispielsweise dazu, dass spektakuläre oder per se negative Ereignisse und Sachverhalte in den Medien mit größerer Wahrscheinlichkeit berichtet werden als unspektakuläre oder per se positive Ereignisse (vgl. z. B. Lengauer et al. 2012). Journalistische Darstellungsweisen, die u. a. die Folge journalistischer Rollenverständnisse und redaktioneller Linien sind, führen beispielsweise dazu, dass auch an sich wertfreie Ereignisse und Sachverhalte in der Berichterstattung unterschiedlich gewichtet und bewertet werden (vgl. z. B. Jost und Koehler 2021).

D’Alessio und Allen (2000) haben anhand der Medienberichterstattung über amerikanische Präsidentschaftswahlen drei Arten von Einseitigkeiten in der Medienberichterstattung identifiziert, die wir hier auf die Migrationsberichterstattung übertragen wollen. Demnach können Einseitigkeiten erstens durch die unterschiedliche Sichtbarkeit von Akteuren entstehen (visibility bias). Eine Einseitigkeit in diesem Sinne liegt z. B. vor, wenn die Menge der Berichterstattung über bestimmte Akteure deutlich höher ist als die Menge der Berichterstattung über andere Akteure. Bei der Migrationsberichterstattung betrifft dies z. B. die Frage, wie häufig Migranten in der Berichterstattung selbst auftreten und zu Wort kommen. Zweitens können Einseitigkeiten durch den thematischen Kontext der Berichterstattung über die Akteure entstehen (agenda bias). Eine Einseitigkeit in diesem Sinne liegt vor, wenn die Akteure häufig mit Themen in Zusammenhang gebracht werden, die sie in einem besonders günstigen oder besonders ungünstigen Licht erscheinen lassen. Bei der Migrationsberichterstattung geht es hier z. B. um die Frage, wie häufig Migranten mit Themen wie Kriminalität oder Terrorismus verbunden werden. Drittens können Einseitigkeiten durch die Bewertung von Akteuren und Sachverhalten entstehen (tonality bias). Dabei kann es sich einerseits um explizite Bewertungen handeln, andererseits können solche Bewertungen aber auch implizit durch unterschiedliche Berichterstattungsperspektiven entstehen (Framing). Bei der Migrationsberichterstattung geht es hier z. B. um die Frage, wie Migranten als Akteure in der Berichterstattung bewertet werden und welche Perspektive auf Migration z. B. durch die Erwähnung von unterschiedlichen Ursachen und Folgen in den Medien eingenommen wird.

Ein bislang weitgehend ungelöstes Problem ist, an welchen Maßstäben man Einseitigkeiten in der Medienberichterstattung festmachen kann. Hierbei lassen sich grob zwei generelle Konzeptionen von Einseitigkeit unterscheiden (vgl. Hopmann et al. 2011; Groeling 2013). Zum einen betrachten viele empirische Studien Einseitigkeit zumindest implizit als die Abweichung von einer Gleichverteilung (vgl. z. B. D’Alessio und Allen 2000). Einseitigkeit liegt demnach vor, wenn einzelne Akteure und Standpunkte in der Berichterstattung häufiger vorkommen oder positiver bewertet werden als andere. Allerdings kann eine solche Gleichverteilung in der Berichterstattung selbst zu Einseitigkeiten führen, wenn Akteure und Standpunkte in der Realität nicht annähernd gleichverteilt sind (vgl. Boykoff und Boykoff 2004). Zum anderen wird Einseitigkeit deshalb auch als verzerrte Darstellung der Realität definiert (vgl. Groeling 2013, S. 133). Einseitigkeit liegt demnach vor, wenn einzelne Akteure und Standpunkte in der Berichterstattung häufiger vorkommen als in der Realität. Während eine solche Betrachtung in Bezug auf die Sichtbarkeit von Akteuren sehr sinnvoll erscheint, lässt sich insbesondere der Bias in den Bewertungen allerdings kaum an einem externen Realitätsmaßstab messen.

Im Folgenden wollen wir die bisherigen Befunde zur Migrationsberichterstattung in deutschen Nachrichtenmedien anhand dieser Systematik diskutieren. Wir beziehen dabei alle Studien ein, die sich im weitesten Sinne mit Migration beschäftigen, auch wenn die Studien im Detail unterschiedliche Bevölkerungsgruppen als Migranten definieren. Wenn sich einzelne Studien explizit mit bestimmten Aspekten von Migration, z. B. Flucht oder Arbeitsmigration, beschäftigen, machen wir dies deutlich. Zudem diskutieren wir auch weitere relevante Randbedingungen wie die Untersuchungszeiträume und die Medienauswahl der Studien.

2.1 Sichtbarkeitsbias

Frühe Studien zeigen, dass die Migrationsberichterstattung in den deutschen Medien bis in die 1990er-Jahre kaum einmal mehr als ein Prozent der Gesamtberichterstattung ausmachte (vgl. z. B. Weiß et al. 1995). Eberl et al. (2019, S. 34) finden für die 2000er Jahre dann bereits einen Anteil von zwischen fünf und zehn Prozent, wobei dieser allerdings die gesamte Berichterstattung über Migration einbezieht, also z. B. auch Beiträge über deutsche Arbeitsmigranten im Ausland. Während der „Flüchtlingskrise“ 2015 erhöhte sich dieser Wert auf über 30 %, um bis 2017 wieder deutlich abzusinken (vgl. auch Czymara und van Klingeren 2022). Diese Befunde deuten bereits auf die besondere Rolle der „Flüchtlingskrise“ für die Migrationsberichterstattung hin, die wir später noch häufiger thematisieren werden. Zudem wird im Zeitverlauf erkennbar, dass die Berichterstattung über Migration stark ereignisgetrieben ist (vgl. z. B. Czymara und Dochow 2018). Ein Anstieg der Berichterstattung lässt sich zwar teilweise auch durch einen Anstieg der Zuwanderung erklären (vgl. Maurer et al. 2019, S. 26; von Nordheim et al. 2019, S. 46). Zugleich führen aber auch Schlüsselereignisse wie spektakuläre Unglücke (vgl. Zerback et al. 2020) und Verbrechen (vgl. Arendt et al. 2017) zu einem kurzzeitigen Anstieg der Berichte über Migration.

Innerhalb der Migrationsberichterstattung sind im Schnitt etwa ein Fünftel aller thematisierten Akteure Migranten. Diese sind damit selbst in der Migrationsberichterstattung deutlich weniger sichtbar als politische Akteure. Dies galt vor (vgl. Hömberg und Schlemmer 1994; Masini 2019), während (vgl. Haller 2017, S. 36; Maurer et al. 2022, S. 230) und nach (vgl. Kelm et al. 2021, S. 109) der „Flüchtlingskrise“ weitgehend gleichermaßen. Noch deutlich seltener kommen Migranten in der Berichterstattung auch zu Wort (vgl. Chouliaraki und Zaborowski 2017; Hestermann 2020, S. 8; Fengler und Kreutler 2020, S. 50). Migrantinnen sind dabei im Vergleich zu männlichen Migranten noch einmal deutlich unterrepräsentiert. Dies liegt teilweise daran, dass z. B. während der „Flüchtlingskrise“ tatsächlich deutlich mehr erwachsene Männer als Frauen und Kinder in Deutschland Asyl beantragt haben, sodass die Medienberichterstattung die realen Geschlechterverhältnisse unter den Geflüchteten weitgehend adäquat widergespiegelt hat (vgl. Maurer et al. 2019, S. 27). Allerdings dominieren Männer auch die allgemeine, fluchtunabhängige Berichterstattung über Migration sehr deutlich, obwohl die realen Geschlechterverhältnisse hier wesentlich ausgeglichener sind (vgl. Lind und Meltzer 2021).

Vor dem Hintergrund eines möglichen Sichtbarkeitsbias in der Berichterstattung über Geflüchtete ergeben sich folgende Fragen:

FF1:

Wie verändert sich die Anzahl der Medienberichte über Geflüchtete im Zeitverlauf und wie hängt dies mit der Ereignislage zusammen?

FF2:

Wie sichtbar sind Geflüchtete in der Medienberichterstattung und wie verändert sich dies im Zeitverlauf?

FF3:

Wie hoch ist der Anteil erwachsener Männer an allen dargestellten Geflüchteten und wie verändert sich dieser im Zeitverlauf?

2.2 Thematischer Bias

Zu den am häufigsten diskutierten Einseitigkeiten in der Migrationsberichterstattung gehört die Tatsache, dass Migranten in den Medien überdurchschnittlich oft im Kontext von Kriminalität und Terrorismus thematisiert werden. Bei genauerer Betrachtung fällt dieser Befund allerdings keineswegs eindeutig aus. Einerseits zeigen einige Studien, die die journalistischen Beiträge nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 untersucht haben, dass die Themen Kriminalität und Terrorismus zu dieser Zeit in einem Viertel bis einem Drittel der Migrationsberichterstattung im deutschen Fernsehen behandelt wurden (vgl. Hafez und Richter 2007; Sommer und Ruhrmann 2010). Allerdings zeigen andere Studien zu anderen Zeiten und anhand anderer Medien deutlich niedrigere Werte im einstelligen Prozentbereich (vgl. Hömberg und Schlemmer 1994; Krüger und Simon 2005). Besonders während der „Flüchtlingskrise“ 2015 spielten Kriminalität und Terrorismus in der Medienberichterstattung über Geflüchtete nur eine untergeordnete Rolle (vgl. Berry et al. 2016; Greck 2018, S. 372; von Nordheim et al. 2019, S. 49). Dies änderte sich allerdings durch die Vorfälle in der Silvesternacht 2015/16, als es in Köln und anderen deutschen Städten zu sexuellen Übergriffen auf Frauen kam, an denen auch Geflüchtete beteiligt waren. Im Januar 2016 thematisierte wieder rund ein Viertel aller Medienbeiträge über Migration die Themen Kriminalität und Terrorismus (vgl. Maurer et al. 2019, S. 28). Für das Jahr 2018 zeigen zwei Untersuchungen schließlich je nach Mediensample Anteile von 10 bzw. 15 % Kriminalitätsberichterstattung (vgl. Kösters 2020, S. 202; Kelm et al. 2021, S. 86). Dabei zeigt sich auch, dass Medien wie Bild und RTL-Aktuell, die in den meisten Untersuchungen gar nicht enthalten sind, deutlich häufiger über die Kriminalität von Migranten berichten als andere Medien (vgl. Kösters 2020, S. 202). Zugleich werden Migranten aus Osteuropa und dem muslimischen Raum eher mit Kriminalität in Verbindung gebracht als Migranten aus anderen Ländern (vgl. Goedeke Tort et al. 2016). Während der Anteil an Kriminalitätsberichterstattung folglich vom Untersuchungszeitpunkt, den untersuchten Medien und dem untersuchten Kontext von Migration abhängt, zeigt sich in allen bisherigen Studien weitgehend übereinstimmend, dass das dominierende Thema der Beiträge nicht Kriminalität, sondern die politische Debatte über Zuwanderung ist (vgl. von Nordheim et al. 2019; Fengler und Kreutler 2020, S. 41; Kösters 2020, S. 202; Kelm et al. 2021, S. 86). Hinsichtlich einer möglicher Einseitigkeit des thematischen Kontextes in der Berichterstattung über Geflüchtete fragen wir deshalb:

FF4:

Wie hoch ist der Anteil der Kriminalitätsberichterstattung an der Gesamtberichterstattung über Geflüchtete und wie verändert sich dies im Zeitverlauf?

2.3 Bias in der Bewertung

Ältere Studien, die sich mit der Tendenz der Darstellung von Migranten beschäftigt haben, zeigen nahezu einhellig, dass Migranten vor der „Flüchtlingskrise“ 2015 in den deutschen Medien überwiegend negativ bewertet wurden (vgl. Hömberg und Schlemmer 1994; Ruhrmann und Sommer 2005; Hafez und Richter 2007; zu einem gegenteiligen Befund Krüger und Simon 2005; S. 114). Während der „Flüchtlingskrise“ überwogen zumindest bis in den Herbst 2015 dagegen eindeutig positive Bewertungen (vgl. Maurer et al. 2019; S. 29). Unmittelbar nach der „Flüchtlingskrise“ drehte sich die Berichterstattung dann allerdings wieder ins Negative (vgl. Eberl et al. 2019, S. 40; Kelm et al. 2021, S. 97).

Neuere Studien analysieren neben der expliziten Bewertung von Migranten auch verschiedene Frames in der Migrationsberichterstattung. Ein Frame ist allgemein gesprochen ein Bezugsrahmen, der die Informationsverarbeitung erleichtert. (Medien‑)Framing ist demnach ein Prozess, bei dem einzelne Realitätsausschnitte so hervorgehoben werden, dass den Rezipienten bestimmte Problemdefinitionen, kausale Interpretationen, moralische Bewertungen und Handlungsempfehlungen nahegelegt werden (vgl. Entman 1993; S. 52). Auch wenn einzelne Autoren Frames mit expliziten Bewertungen gleichsetzen (vgl. z. B. Chong und Druckman 2007), werden Frames im Allgemeinen als implizite Bewertungen betrachtet, weil sie den Rezipienten lediglich bestimmte Schlüsse nahelegen, ohne diese zu explizieren (vgl. Tankard 2001; Scheufele et al. 2012). Ein erster Frame kann bereits der Begriff sein, mit dem Menschen, die nach Deutschland kommen, um Asyl zu beantragen, in den Medien bezeichnet werden. Dabei lassen sich Ausdrücke wie „Flüchtlinge“ oder „Geflüchtete“, die die Schutzbedürftigkeit der Menschen in den Vordergrund stellen (vgl. UNHCR 1951), von Bezeichnungen wie „Migranten“ oder „Asylbewerber“ unterscheiden, die dies nicht tun. Hier zeigen mehrere Studien, dass die deutschen Medien während der „Flüchtlingskrise“ fast ausnahmslos die Bezeichnung „Flüchtlinge“ verwendet haben (vgl. Berry et al. 2016; Maurer et al. 2022, S. 232). Dementsprechend unterstellten die Medien den Migranten während und nach der „Flüchtlingskrise“ auch weit überwiegend den Schutz vor Verfolgung als zentrales Motiv, ihr Heimatland zu verlassen (vgl. Fengler und Kreuter 2020, S. 37; Kelm et al. 2021, S. 106). Die deutschen Medien haben Migranten in dieser Zeit folglich auch überwiegend aus humanitärer Perspektive bzw. als Opfer von Gewalt und Verfolgung dargestellt (vgl. Joris et al. 2018; Masini 2019).

Diese humanitäre Perspektive auf die Geflüchteten steht allerdings in einem deutlichen Gegensatz zur Medienberichterstattung über Zuwanderung im Allgemeinen. So zeigen mehrere Studien im Umfeld der „Flüchtlingskrise“, dass die Medien weit überwiegend die Gefahren bzw. Risiken der Zuwanderung betonten und ihre Chancen vergleichsweise selten in den Vordergrund rückten. Dies galt insbesondere nach der Anfang September 2015 getroffenen Entscheidung der Bundesregierung, die deutschen Außengrenzen für Geflüchtete offen zu halten (vgl. Conrad und Aðalsteinsdóttir 2017; Greck 2018; Heidenreich et al. 2019). Auch nach der „Flüchtlingskrise“ betonten die Medien vor allem die Risiken der Zuwanderung sowie ihre negativen Folgen (vgl. Hestermann 2020; Kelm et al. 2021, S. 95). In Bezug auf eine mögliche Einseitigkeit in der expliziten und impliziten Bewertung von Geflüchteten interessieren uns deshalb abschließend folgende Fragen:

FF5:

Wie positiv oder negativ werden Geflüchtete in der Medienberichterstattung dargestellt und wie verändert sich dies im Zeitverlauf?

FF6:

Wird Zuwanderung als Chance oder Gefahr für Deutschland dargestellt und wie verändert sich dies im Zeitverlauf?

FF7:

Mit welchen Begriffen werden die nach Deutschland gekommenen Menschen bezeichnet und wie verändert sich dies im Zeitverlauf?

FF8:

Welche Fluchtmotive werden Geflüchteten unterstellt und wie verändert sich dies im Zeitverlauf?

FF9:

Welche Folgen der Zuwanderung für Deutschland werden in den Medien diskutiert und wie verändert sich dies im Zeitverlauf?

3 Methode

Im vorliegenden Beitrag wollen wir diese Fragen erstmals in einer Langzeitstudie anhand eines größeren Mediensamples untersuchen. Wir analysieren die Medienberichterstattung in den fast sechs Jahren zwischen Mai 2015 (Beginn der „Flüchtlingskrise“) und Dezember 2020. Dieser Zeitraum beinhaltet Phasen mit besonders starker Zuwanderung („Flüchtlingskrise“: Sommer/Herbst 2015), Phasen mit kontrovers diskutierten politischen Entscheidungen zum Thema Migration (EU-Türkei-Abkommen zur Schließung der so genannten Balkanroute und Integrationsgesetz: Frühjahr/Sommer 2016; „Koalitionsstreit“ zu beschleunigten Transitverfahren: Sommer 2018), Phasen mit spektakulären Verbrechen und terroristischen Anschlägen, an denen Geflüchtete beteiligt waren („Kölner Silvesternacht“ 2015/16; Terroranschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt Dezember 2016 sowie weitere ähnliche Anschläge im Ausland zwischen März 2016 und Dezember 2018) und Phasen weitgehend ohne Ereignisse mit migrationspolitischem Bezug.

Um die Medienberichterstattung zu untersuchen, haben wir sechs deutsche Leitmedien manuell inhaltsanalytisch untersucht: die drei überregionalen Tageszeitungen Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), Süddeutsche Zeitung (SZ) und Bild-Zeitung (Bild) sowie die drei Hauptnachrichtensendungen ARD Tagesschau (20:00 Uhr), ZDF heute (19:00 Uhr) und RTL Aktuell (18:45 Uhr). Dabei wurden einerseits besonders reichweitenstarke Medien ausgewählt (Fernsehnachrichten, Bild). Andererseits wurden überregionale Qualitätszeitungen (FAZ, SZ) in die Analyse aufgenommen, weil sie vermutlich einen großen Einfluss auf die Berichterstattung anderer Medien haben. Zudem haben wir Medien unterschiedlicher Gattungen und mit unterschiedlichen redaktionellen Linien einbezogen. So ermöglicht es dieses Untersuchungsdesign, die Berichterstattung einer breiten Auswahl an Nachrichtenmedien zu Zeiträumen mit ganz unterschiedlicher Ereignislage zu vergleichen.

Das Codebuch enthielt rund 50 Kategorien, die überwiegend auf Beitragsebene codiert wurden. Neben einer Reihe weiterer Variablen, die wir hier vernachlässigen, weil sie sich nicht zur Analyse von Einseitigkeiten eignen, haben wir eine große Zahl von Indikatoren erhoben, mit deren Hilfe sich die unterschiedlichen Arten von Einseitigkeit erfassen lassen. Zur Analyse des Sichtbarkeitsbias haben wir zum einen die drei zentralen Akteure jedes Beitrags erhoben und für die Analyse in Gruppen zusammengefasst (z. B. Politiker, Geflüchtete usw.). Zum anderen haben wir für die dargestellten Geflüchteten das Geschlecht und grob das Alter (Erwachsene versus Kinder) erfasst. Zur Analyse des thematischen Bias haben wir die drei zentralen Beitragsthemen erhoben und in Gruppen zusammengefasst (z. B. politische Entscheidungen, Kriminalität usw.). Zur Analyse des Bias in der Bewertung haben wir erstens die Bewertung der drei zentralen Akteure des Beitrags auf fünfstufigen Skalen gemessen („eindeutig positiv“ bis „eindeutig negativ“). Zweitens wurde erfasst, ob die Zuwanderung in einem Beitrag alles in allem eher als Chance oder als Gefahr für Deutschland dargestellt wurde (fünfstufige Skala von „eindeutig Chance“ bis „eindeutig Gefahr“). Für die Analysen haben wir diese fünfstufigen Skalen zu dreistufigen zusammengefasst und den Saldo berechnet. Drittens wurden die im Beitrag verwendeten Begriffe für die nach Deutschland gekommenen Menschen (z. B. „Flüchtlinge“, „Asylbewerber“, „Migranten“ und ähnliche Bezeichnungen) erfasst. Schließlich wurde erhoben, welche Motive (z. B. Sicherheitsmotive, wirtschaftliche Motive, soziale Motive) und Folgen (z. B. Folgen für die Sicherheit, wirtschaftliche Folgen, kulturelle Folgen) von Migration im Beitrag angesprochen wurden. Alle genannten Kategorien beziehen sich ausschließlich auf die Textebene, Bilder waren nicht Teil der Untersuchung.

Die Daten wurden in zwei Analyseschritten erhoben. Im ersten Schritt wurde die Berichterstattung zur „Flüchtlingskrise“ zwischen dem 1. Mai 2015 und dem 31. Januar 2016 untersucht. Dabei haben wir alle Beiträge einbezogen, die die Flüchtlingskrise zum Thema haben und sich mit Geflüchteten auseinandersetzen. Hier haben wir die Beiträge in den Tageszeitungen zunächst als Vollerhebung erfasst (N = 3508) und aus Gründen der Vergleichbarkeit (siehe unten) anschließend eine halbe Stichprobe gezogen (n = 1754). Für die drei Nachrichtensendungen haben wir ebenfalls eine halbe Stichprobe (n = 609) gezogen (rollende Woche). Die Codierung haben im Frühjahr 2017 sieben intensiv geschulte Codiererinnen und Codierer vorgenommen. Dabei erreichten die Intercoder-Reliabilitäts-Koeffizienten für die formalen und inhaltlichen Kategorien sehr gute bis gute Werte (vgl. Tab. 1 im Anhang).

Im zweiten Analyseschritt haben wir die Berichterstattung zwischen Februar 2016 und Dezember 2020 mit dem identischen, lediglich um neue Themen und Akteure ergänzten Codebuch untersucht. Um sicherzustellen, dass sich unsere beiden Untersuchungsabschnitte mit denselben Bevölkerungsgruppen beschäftigen, haben wir zudem die Definition der Zugriffskriterien leicht verändert: Weil wir angenommen haben, dass die während der „Flüchtlingskrise“ zugewanderten Menschen Jahre später nicht mehr zwingend als Geflüchtete bezeichnet werden, haben wir hier einerseits wiederum alle Beiträge, in denen explizit Geflüchtete thematisiert wurden, andererseits aber auch alle Beiträge über Menschen aus den Ländern, die im ersten Teil unserer Studie in mindestens einem Prozent der Medienbeiträge vorgekommen waren (elf Länder, z. B. Syrien, Afghanistan, Eritrea, Irak), in die Untersuchung einbezogen. Zusammenfassend betrachten wir hier also die Berichterstattung über Menschen aus einer Reihe von überwiegend muslimischen Ländern, die nach Deutschland gekommen sind, um Asyl zu beantragen. Diese Gruppe bezeichnen wir im Folgenden der Einfachheit halber als „Geflüchtete“. Ob es sich dabei tatsächlich um Geflüchtete im engeren Sinn handelt, also Schutzbedürftige im Sinne der UNHCR-Definition, ist hier sekundär, weil dies erst in einer aufwändigen Einzelfallprüfung im Rahmen des Asylverfahrens ermittelt wird und in einer Inhaltsanalyse wie dieser folglich nicht erfasst werden kann. In der zweiten Teilstudie haben wir für alle Medien eine halbe Stichprobe gezogen (rollende Woche, n = 5822). Die Codierung übernahmen im Herbst und Winter 2019/20 wiederum sieben (andere) geschulte Codiererinnen und Codierer. Die Intercoder-Reliabilitäts-Koeffizienten erreichten auch hier sehr gute bis gute Werte (vgl. Tab. 2 im Anhang).

Unsere Analysen beruhen folglich auf insgesamt 8185 Beiträgen. Am häufigsten berichtete dabei die Frankfurter Allgemeine Zeitung (2825 Beiträge), gefolgt von der Süddeutschen Zeitung (2063) und Bild (1184) sowie den drei Fernsehnachrichtensendungen ARD Tagesschau (764), ZDF heute (733) und RTL Aktuell (616).

4 Befunde

4.1 Sichtbarkeitsbias

Abb. 1 zeigt die Entwicklung der Anzahl der Medienberichte über Geflüchtete im Zeitverlauf auf Monatsbasis (FF1). Dabei wird unmittelbar erkennbar, dass die Berichterstattung erheblichen ereignisabhängigen Schwankungen unterworfen war. Ihren Höhepunkt erreichte sie während der „Flüchtlingskrise“ im September 2015, dem Monat in dem die Bundesregierung entschieden hatte, die deutschen Grenzen für Geflüchtete offen zu lassen. Zu dieser Zeit erschienen im Schnitt in jedem von uns untersuchten Medium täglich mehr als fünf Beiträge über Geflüchtete. Gegen Ende unseres Untersuchungszeitraums erschien dann durchschnittlich nur noch an jedem zweiten Tag ein solcher Beitrag. Weitere Höhepunkte erreichte die Berichterstattung im Januar 2016 nach den Vorfällen in der Silvesternacht sowie im Februar und März 2016 anlässlich der Verhandlungen zwischen der EU und der Türkei über die Schließung der Balkanroute, die die Zuwanderung nach Deutschland auf dem Landweg weitgehend unmöglich machte. Eine ähnliche Berichterstattungsmenge verursachte Mitte 2018 nur noch der so genannte Asylstreit in der Bundesregierung, in dem es darum ging, wie Deutschland zukünftig mit Menschen umgehen soll, die zuvor bereits in anderen EU-Ländern Asyl beantragt hatten. Kleinere Anstiege verzeichnete die Berichterstattung auch im Sommer 2016 durch die Verabschiedung des neuen Integrationsgesetzes und zum Jahreswechsel 2016/17 nach dem Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt, bei dem ein Asylbewerber 13 Menschen tötete (Abb. 1).

Abb. 1
figure 1

Anzahl der Medienbeiträge über Geflüchtete, 2015–2020. Basis: Inhaltsanalysen von sechs Tageszeitungen und Fernsehnachrichtensendungen zwischen Mai 2015 und Dezember 2020 (n = 8185 Beiträge)

Um statistische Ausreißer, die durch die vergleichsweise geringen Fallzahlen am Ende des Untersuchungszeitraums verursacht werden könnten, zu vermeiden, fassen wir die Daten im weiteren Verlauf des Beitrags quartalsweise zusammen. Dabei zeigt sich zunächst, dass der Anteil von Geflüchteten an allen in der Migrationsberichterstattung erwähnten Akteuren (FF2) im Untersuchungszeitraum zwischen 10 und 25 % schwankte. Zu allen Zeitpunkten war die Berichterstattung eindeutig von politischen Akteuren (im Schnitt etwa 70 %) bestimmt. Dabei fällt auf, dass Geflüchtete während der „Flüchtlingskrise“ relativ betrachtet sogar besonders selten als Akteure auftraten. Besonders hoch war der Anteil von Geflüchteten an allen Akteuren dagegen zu den Zeitpunkten, zu denen auch der Anteil an Kriminalitäts- und Terrorismusberichterstattung hoch war (vgl. Abb. 2 und 3). Dieser Zusammenhang bestätigt sich auch auf der Beitragsebene: Geflüchtete traten in Beiträgen zu den Themen Kriminalität und Terrorismus deutlich häufiger selbst als Akteure auf (33 % der Akteursnennungen) als in Beiträgen zu anderen Themen (11 %).

Abb. 2
figure 2

Anteil von Geflüchteten an allen Akteuren und Anteil erwachsener Männer an allen Geflüchteten. Basis: Inhaltsanalysen von sechs Tageszeitungen und Fernsehnachrichtensendungen zwischen Mai 2015 und Dezember 2020 (n = 8185 Beiträge; n = 18.308 Akteursnennungen)

Abb. 3
figure 3

Kriminalität/Terrorismus und politische Entscheidungen als Themen der Berichterstattung. Basis: Inhaltsanalysen von sechs Tageszeitungen und Fernsehnachrichtensendungen zwischen Mai 2015 und Dezember 2020 (n = 8185 Beiträge; n = 14.378 Themennennungen)

Wurden Geflüchtete in einem Beitrag als Akteure im Text erwähnt, handelte es sich während fast des gesamten Untersuchungszeitraums zu 50 bis 60 % um erwachsene Männer (FF3) (Abb. 2). Dies entsprach zwar während der „Flüchtlingskrise“ noch nahezu exakt dem Anteil an erwachsenen Männern unter den Erstantragstellenden auf Asyl in Deutschland (vgl. Maurer et al. 2019, S. 26). Ab 2017 wurden Asylanträge aber zu einem deutlich höheren Anteil von Frauen und Kindern gestellt, die im Rahmen des Familiennachzugs nach Deutschland gekommen waren oder hier geboren wurden. Dieser stark erhöhte Anteil von Kindern unter den Zuwanderern schlug sich aber allenfalls kurzzeitig Anfang 2020 in entsprechender Berichterstattung nieder, weil die Medien häufiger über die Pläne der Bundesregierung berichteten, unbegleitete Minderjährige aus griechischen Flüchtlingslagern in Deutschland aufzunehmen.

4.2 Thematischer Bias

Abb. 3 zeigt die Entwicklung des Anteils der Themen Kriminalität und Terrorismus an der Gesamtberichterstattung über Geflüchtete im Zeitverlauf (FF4) und vergleicht diesen mit dem Anteil von Berichten über politische Entscheidungen und Maßnahmen. Dabei zeigt sich zunächst, dass politische Entscheidungen und Maßnahmen der Migrationspolitik über den gesamten Zeitraum zwischen 30 und etwas über 50 % der Berichterstattungsthemen ausmachten. Die Berichterstattung über Geflüchtete im Zusammenhang mit Kriminalität und Terrorismus blieb im gesamten Untersuchungszeitraum unter diesen Werten und schwankte in den verschiedenen Quartalen zwischen 2 % (während der „Flüchtlingskrise“ im Sommer 2015) und etwa 25 % (nach den Terroranschlägen in Berlin und in anderen europäischen Städten 2016/17). Den höchsten Wert in einem einzelnen Monat erreichte dieses Thema im Dezember 2016 nach dem Anschlag in Berlin (39 %).

4.3 Bias in der Bewertung

Traten Geflüchtete in einem Medienbeitrag als Akteure auf, wurden sie auf dem Höhepunkt der „Flüchtlingskrise“ im Sommer 2015 außerordentlich positiv bewertet (FF5). Diese positive Bewertung änderte sich jedoch nicht erst nach den Vorfällen in der Silvesternacht, sondern bereits im Herbst 2015, nachdem die Bundesregierung entschieden hatte, die Grenzen für Geflüchtete offen zu halten. Sobald die rund eine Million Menschen mehr oder weniger in Sicherheit waren, beurteilten die Medien sie zunehmend negativ. In den letzten vier Untersuchungsjahren (2017–2020) erreichte die Medienberichterstattung über Geflüchtete nur noch während des so genannten Asylstreits in der Bundesregierung im Sommer 2018 eine annähend ausgewogene Tendenz.

Die Analysen zur Darstellung der Zuwanderung als Chance oder Gefahr (FF6) zeigen einen ähnlichen Verlauf, allerdings auf deutlich niedrigerem Niveau. Schon während der „Flüchtlingskrise“ betonten die Beiträge weit überwiegend die Gefahren der Zuwanderung. Dies verstärkte sich ebenfalls, nachdem die Geflüchteten in Deutschland aufgenommen worden waren. Wie bei der Bewertung der Geflüchteten lag der Saldo aus positiven und negativen Beiträgen hier in den letzten Untersuchungsjahren bei etwa −75 % (Abb. 4).

Abb. 4
figure 4

Bewertung der Geflüchteten und Darstellung der Zuwanderung als Chance oder Gefahr. Basis: Inhaltsanalysen von sechs Tageszeitungen und Fernsehnachrichtensendungen zwischen Mai 2015 und Dezember 2020 (n = 8185 Beiträge; n = 996 Bewertungen von Flüchtlingen; n = 2996 Thematisierungen von Chancen und Gefahren)

Im selben Zeitraum veränderten sich zumindest tendenziell auch die Begriffe, mit denen die nach Deutschland zugewanderten Menschen bezeichnet wurden (FF7). Während der „Flüchtlingskrise“ sprachen die Journalisten noch in etwa 90 % der Beiträge von „Flüchtlingen“ oder deutlich seltener von „Geflüchteten“. Diese Bezeichnung, die die Schutzbedürftigkeit der Menschen betont, blieb zwar bis zum Ende des Untersuchungszeitraums der am häufigsten verwendete Begriff, tauchte im Verlauf der folgenden Jahre jedoch immer seltener auf, zuletzt nur noch in etwa der Hälfte der Beiträge. Stattdessen erhöhte sich im Zeitverlauf zunächst ab Mitte 2016 die Verwendung des Begriffs „Asylbewerber“, ab Mitte 2018 dann auch die Verwendung des Begriffs „Migranten“, der während der „Flüchtlingskrise“ in den deutschen Medien kaum benutzt worden war (Abb. 5).

Abb. 5
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Mediale Bezeichnung für die zugewanderten Menschen. Basis: Inhaltsanalysen von sechs Tageszeitungen und Fernsehnachrichtensendungen zwischen Mai 2015 und Dezember 2020 (n = 8185 Beiträge; n = 6751 Bezeichnungen)

Die humanitäre Perspektive in der Flüchtlingsberichterstattung wird auch erkennbar, wenn man betrachtet, welche Motive, ihre Heimat zu verlassen, den Menschen in den Medien zugeschrieben wurden (FF8). Hier haben wir grob zwischen einem Sicherheitsmotiv, also der Flucht vor Krieg und Verfolgung, sowie wirtschaftlichen und sozialen Motiven unterschieden. Dabei dominierte im gesamten Untersuchungszeitraum mehr oder weniger deutlich das Sicherheitsmotiv. Wirtschaftliche und soziale Motive wurden insbesondere während der „Flüchtlingskrise“, aber auch später nur selten erwähnt (Abb. 6).

Abb. 6
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Sicherheit als Zuwanderungsmotiv und Folge von Zuwanderung. Basis: Inhaltsanalysen von sechs Tageszeitungen und Fernsehnachrichtensendungen zwischen Mai 2015 und Dezember 2020 (n = 8185 Beiträge; n = 3404 genannte Folgen; n = 1207 genannte Motive)

Auch bei der Darstellung der Folgen der Zuwanderung (FF9) haben wir zwischen Folgen für die Sicherheit der deutschen Bevölkerung sowie Folgen für die Wirtschaft und kulturellen Folgen unterschieden. Während die negativen Folgen für die Sicherheit während der „Flüchtlingskrise“ 2015 vergleichsweise selten zur Sprache kamen (9 %), wurden sie durch die Vorfälle in der Silvesternacht 2015/16 und den Terroranschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt Ende 2016 zur mit Abstand am häufigsten thematisierten Folge der Zuwanderung. Dies führte zu einer ausgesprochen widersprüchlichen Art der Darstellung: Seit dem Terroranschlag in Berlin erschienen Geflüchtete in den von uns untersuchten Leitmedien bei weitem überwiegend als Opfer von Gewalt und Verfolgung und gleichzeitig als potenzielles Sicherheitsrisiko für die deutsche Bevölkerung (Abb. 6).

5 Zusammenfassung und Diskussion

Ausgangspunkt der vorliegenden Studie waren Befragungsdaten, die zeigen, dass der überwiegende Teil der deutschen Bevölkerung die Medienberichterstattung über Migration für einseitig hält, dabei aber unterschiedliche Einseitigkeiten wahrnimmt: Während die einen die Berichterstattung über Geflüchtete als einseitig positiv wahrnehmen, halten die anderen sie für einseitig negativ (vgl. Arlt und Wolling 2016). Diese widersprüchlichen Eindrücke lassen sich theoretisch mit Wahrnehmungsphänomenen wie dem Hostile Media-Effekt (vgl. z. B. Vallone et al. 1985) erklären, nach dem Menschen ausgewogene Medienberichte als gegen ihren eigenen Standpunkt verzerrt wahrnehmen. Unsere Inhaltanalyse der Flüchtlingsberichterstattung von sechs deutschen Leitmedien zwischen Mai 2015 und Dezember 2020 zeigt aber, dass die Berichterstattung dieser Medien nicht ausgewogen war. Beim Sichtbarkeitsbias zeigen sich zum einen Schwankungen in der Menge der Berichterstattung, die man mit einer im Zeitverlauf veränderten Ereignislage erklären kann: Medien berichten nicht kontinuierlich über Geflüchtete, sondern vor allem über dramatische Fluchtwellen, migrationspolitische Debatten und spektakuläre Verbrechen, an denen Geflüchtete beteiligt sind. Zum anderen kamen Geflüchtete als Akteure der Berichterstattung selten und wenn dann überproportional im Zusammenhang mit Kriminalität und Terrorismus vor. Thematisiert wurden zudem überproportional erwachsene Männer. Beim thematischen Bias zeigt sich allerdings, dass insgesamt nicht Kriminalität, sondern politische Entscheidungen und Maßnahmen die Berichterstattung dominierten. In Bezug auf einen Bias in der Bewertung lässt sich die Berichterstattung schließlich als inkonsistent einseitig bezeichnen, weil sie von zwei konfligierenden Narrativen dominiert wurde: Auf der einen Seite bezeichneten Medien die Menschen, die nach Deutschland gekommen sind, weit überwiegend als „Flüchtlinge“ und stellten die Flucht vor Krieg und Verfolgung als ihr zentrales Fluchtmotiv dar. Dies impliziert eine Schutzbedürftigkeit, die eine Aufnahme der Menschen aus humanitären Gründen nahelegt. Auf der anderen Seite bewerteten sie dieselben Menschen in anderen Beiträgen überwiegend negativ, betrachteten Zuwanderung weit überwiegend als Gefahr und thematisierten vor allem ihre negativen Folgen für die Sicherheit in Deutschland. Geflüchtete wurden folglich als Menschen in Not charakterisiert, die aus humanitären Gründen aufgenommen werden müssen, und gleichzeitig als Sicherheitsrisiko für die deutsche Bevölkerung beschrieben.

Unsere Langzeitanalyse zeigt aber auch, dass diese Bewertungen im Verlauf des fast sechsjährigen Untersuchungszeitraums erheblichen Schwankungen unterworfen waren: So wird deutlich, dass die Medien nach einer Phase eher positiver Berichterstattung während der „Flüchtlingskrise“ zunehmend negativer über Geflüchtete berichtet haben: Flüchtlingskriminalität und Terrorismus kamen wieder verstärkt auf die Medienagenda, die nach Deutschland gekommenen Menschen wurden zunehmend negativer bewertet sowie seltener als „Flüchtlinge“ und häufiger als Sicherheitsrisiko für die deutsche Bevölkerung bezeichnet. Wir haben eingangs deutlich gemacht, dass man Einseitigkeit entweder als Abweichung von einer Gleichverteilung oder als Abweichung von der Realität konzipieren kann. Dabei haben wir auch konstatiert, dass sich ein Bias in der Bewertung in der Regel nicht an externen Realitätsindikatoren festmachen lässt, weil man dazu festlegen müsste, dass z. B. Geflüchtete in der Realität tatsächlich überwiegend eine Chance oder Gefahr darstellen. Eine mögliche Lösung für dieses Problem ist der Zeitvergleich, den wir hier aufzeigen: Wenn Geflüchtete zunächst fast ausschließlich positiv und wenige Monate später fast ausschließlich negativ charakterisiert werden, deutet dies auf unterschiedliche Einseitigkeiten hin, weil es um dieselbe Menschengruppe geht.

Zwar sind diese Befunde prinzipiell erklärbar, weil Nachrichtenmedien ereignisorientiert berichten und die dargestellten Menschen folglich im Lichte der jeweiligen Ereignisse betrachten. Deshalb berichten sie über Geflüchtete, die aus dem Meer gerettet wurden, anders als über Geflüchtete, die einen Terroranschlag verübt haben. Allerdings gehören die allermeisten Geflüchteten weder zu der einen noch zu der anderen Gruppe. Die starke Fokussierung der Medien auf extreme Ereignisse führt aber dazu, dass diese Menschen weitgehend unsichtbar bleiben. Kinder, die im Rahmen des Familiennachzugs nach Deutschland gelangen, oder gut in die Gesellschaft integrierte Geflüchtete sind aus journalistischer Sicht keine Nachricht. Dies gilt allerdings vermutlich auch für andere Bevölkerungsgruppen, z. B. Bürger ohne Migrationshintergrund, die ebenfalls nur in besonders spektakulären Fällen Gegenstand der Medienberichterstattung werden. Inwieweit sich die Berichterstattung über Geflüchtete systematisch von der Berichterstattung über andere Bürger unterscheidet, wäre für die Einordnung der Befunde eine relevante Frage, die bislang aber nur selten und vor allem im Bereich der Kriminalitätsberichterstattung untersucht wurde (vgl. z. B. Meltzer 2021, S. 56–62). Zukünftige Studien sollten sich folglich auch der vergleichenden Darstellung von Geflüchteten und anderen Bevölkerungsgruppen widmen.

Die Tatsache, dass die Art der Medienberichterstattung über Geflüchtete zumindest teilweise durch allgemeingültige mediale Selektionskriterien und Darstellungsmuster erklärt werden kann, bedeutet aber nicht, dass die hier gefundenen Muster der Darstellung von Geflüchteten gesellschaftlich unproblematisch wären. Vor allem die Urteile über Geflüchtete von Menschen, die keinen direkten Kontakt zu diesen haben, sind von der Medienberichterstattung beeinflusst (vgl. zusammenfassend Eberl et al. 2018). Eine Berichterstattung, die immer wieder von einem Narrativ (Geflüchtete müssen aus humanitären Gründen aufgenommen werden) in das andere Narrativ (Geflüchtete sind ein Sicherheitsrisiko für die Bevölkerung) wechselt, hat deshalb vermutlich Konsequenzen für die öffentliche Meinungsbildung – auch wenn dies von den Nachrichtenmedien sicher nicht intendiert ist. Je nach eigenem Standpunkt erscheint es den Rezipienten dann entweder fragwürdig, warum Menschen aufgenommen werden sollen, die ein Sicherheitsrisiko darstellen, oder fragwürdig, wie man Menschen, die in Not sind, als Sicherheitsrisiko betrachten kann.

Unser Untersuchungszeitraum endet 2020 in einer Phase, in der kaum noch Geflüchtete nach Deutschland kamen und deshalb kaum noch über Geflüchtete berichtet wurde. Aktuelle Entwicklungen wie insbesondere der russische Angriff auf die Ukraine haben jedoch zu neuen Flüchtlingswellen nach Deutschland geführt. Zugleich hat die Zahl der Menschen, die Mitteleuropa über die Balkanroute erreichen, aktuell wieder deutlich zugenommen. Zukünftige Studien sollten sich deshalb weiterhin der Medienberichterstattung über Flucht und Migration widmen – insbesondere auch dem Vergleich der Berichterstattung über unterschiedliche Gruppen von Geflüchteten.

Ordnet man die vorliegende Studie abschließend in den Kontext der bisherigen Forschung zur Migrationsberichterstattung deutscher Nachrichtenmedien ein, kann man festhalten, dass sie die widersprüchliche Befundlage durchaus erklärbar macht. Im Grunde lassen sich je nach Wahl des Indikators und je nach Wahl des Untersuchungszeitraums allein in den von uns untersuchten knapp sechs Jahren Belege für nahezu jeden der eingangs referierten Befunde finden. Berücksichtigt man zudem, dass sich auch die einzelnen Medien in ihrer Berichterstattung teilweise deutlich voneinander unterschieden haben (vgl. Maurer et al. 2021b), wird erkennbar, dass die Befunde von Querschnittstudien, die nur wenige Indikatoren verwenden und nur wenige Medien untersuchen, gerade bei einem so sensiblen Thema wie Migrationsberichterstattung mit großer Vorsicht interpretiert werden müssen.