1 Vorbemerkung

Das Konzept des fundamentalen Attributionsfehlers besagt, dass wir Menschen dazu neigen, das beobachtete Verhalten anderer Personen eher auf deren stabile Eigenschaften (Charakter, Haltung, Werte) zurückzuführen, während Handelnde selbst zumeist sehr viel größeres Verursachungsgewicht in den situativen Umständen verorten. Diesen Attributionsfehler möchte ich nicht begehen, so dass ich die in Heft 1/2021 der Publizistik erschienenen Einlassungen des Kollegen Stöber nicht auf seine vermutlichen stabilen Eigenschaften, sondern vielmehr auf situative, mithin emotionale Handlungsdeterminanten zurückführe. Ich unterstelle Rudolf Stöber daher angesichts seiner kritikwürdigen Argumentation und seiner unprofessionellen, beleidigenden und höchst ärgerlichen Wortwahl („selbstgleichschaltend“, Stöber 2020, S. 4), dass er beim Abfassen seines Essays ganz offenkundig einen schlechten Tag hatte. In diesem Sinne zitiere ich die Worte des neulich vereidigten 46. Präsidenten der USA, Joseph R. Biden: „Stop the shouting and lower the temperature“.

Die gleiche wohlmeinende Empfehlung richte ich an die UnterzeichnerInnen des offenen Briefs „Versagen wissenschaftlicher Qualitätssicherung und redaktioneller Verantwortung in der Publizistik: Beitrag von Rudolf Stöber in der Publizistik von Januar 2021“ (vgl. www.genderstern-dgpuk.de). Wie gleich zu zeigen sein wird, ist der Beitrag des Kollegen und geachteten Fachgesellschaftsmitglieds Stöber sicherlich miserabel argumentiert und verdient energischen Widerspruch. Der offene Brief verwendet aber den Begriff „wissenschaftlich“ (und implizit den Begriff der wissenschaftlichen Redlichkeit) in nicht angemessener Weise, wenn die wütende Meinungsbekundung Stöbers als gravierende Verletzung zentraler Prinzipien von Wissenschaft dargestellt wird, die niemals hätte erscheinen dürfen. Meinungsäußerung, Polemik und „Diffamierung“ sind als Bestandteile von Diskursen in unserer Demokratie akzeptabel und gewiss durch unser Grundgesetz gedeckt, auch und gerade in der Wissenschaft. Rudolf Stöber hat mehr als deutlich werden lassen, dass sein Essay seine Meinung darstellt und keine wissenschaftliche, um Wertneutralität bemühte Faktenabhandlung. Deswegen geht der Vorwurf an die Publizistik, sie hätte dieses Essay nicht veröffentlichen dürfen, über das Ziel angemessener Kritik an dem Beitrag hinaus. Den KollegInnen, die sich als Herausgebende und in der Schriftleitung für die Zeitschrift und damit für unsere Fachgemeinschaft engagieren, „Versagen“ in ihrer wissenschaftlich-publizistischen Arbeit zu attestieren ist daher keine Petitesse. Es lenkt zudem von der inhaltlichen Auseinandersetzung mit Stöbers Ansichten und Argumenten ab. Und an der inhaltlichen Auseinandersetzung sollte uns doch allen gelegen sein. Lasst uns also die Feindseligkeiten einstellen und eine inhaltliche Debatte versuchen. Wohlan, nun zur eigentlichen Replik.

2 Konservatismus und Sprachgebrauch

Sprache ist vermutlich eine der am festesten gefügten kognitiven Strukturen des Menschen, denn ihre Gebrauchsmuster sind durch sehr häufige aktive Nutzung besonders stark chronifiziert. Ihre Verwendungsmuster zu ändern erfordert ähnlich wie beim Ändern von Gewohnheiten erheblichen Aufwand und verursacht kognitive Kosten des bewussten Gegensteuerns sowie Kosten des emotionalen Umgangs mit aversiven Erfahrungen (es fühlt sich anders an, es fühlt sich falsch an, es löst Ärger aus). Daher ist es nicht verwunderlich, dass sich viele Menschen nur mit Mühe und einer gewissen Widerwilligkeit auf Änderungen im Sprachgebrauch einlassen; denn im ohnehin oftmals beschwerlichen Alltag bedeuten solche Änderungen zusätzlichen Aufwand. Dies gilt zumal für den Fall, dass Menschen in Änderungen des Sprachgebrauchs keinen (ausreichenden) Nutzen erkennen.

Geschlechtergerechte Sprache ist denn auch ein Dauerbrenner der Auseinandersetzung zwischen konservativen und progressiven Akteuren in Gesellschaft und Politik. Konservative – und als einen solchen bezeichnet sich der Kollege Stöber – lassen sich in Anlehnung an Jost et al. (2003) anhand zweier zentraler Dispositionen charakterisieren: (1) „endorsement of hierarchies“ und (2) „resistance to change“ (White et al. 2020, S. 20). In Stöbers Meinungsäußerung finden sich beide Facetten von Konservatismus wieder: (1) Er betont die regelgebende Autorität des Rates für deutsche Sprache und anderer Institutionen, er markiert die Deutungshoheit linguistischer ExpertInnen, wonach das generische Maskulinum ja gar nicht biologisch-männlich gemeint sei; er möchte sich nicht gemein machen mit (kollegialen) Kreisen, die „Missverständnissen“ und „Kategorienfehlern“ aufsitzen. Zudem warnt er (2) eindringlich davor, geschlechtergerechte Sprache in Form von Sternchen oder Binnen-I-Konstruktionen zu verwenden; er bringt eine Reihe von Argumenten vor, die seine strikte Ablehnung dieses Wandels begründen sollen. Als Wissenschaftler arbeitet Stöber besonders intensiv mit Sprache, und seine Erbostheit angesichts der von ihm geschilderten verlagsseitigen Änderungsversuche an seinem Sprachgebrauch verweist auf die gerade bei Konservativen häufig beobachtbare Widerwilligkeit gegenüber Änderungen von festgefügten kognitiven Strukturen.

3 Kritik konservativer Argumente gegen den Wandel des Sprachgebrauchs

Die Kernargumentation konservativer Linguisten gegen gegenderte Sprache ist hinlänglich bekannt und wird auch von Stöber erneut aufgerufen – Genus ist nicht gleich Sexus; Genus ergibt sich aus der Endung von Substantiven und meint keine Zuweisung von biologischer Geschlechtsartigkeit; wer „maskulin“ anmutende Formulierungen nutzt, dürfe für sich Anspruch nehmen, Menschen jeglichen biologischen Geschlechts einzuschließen. Für KommunikationswissenschaftlerInnen freilich ist diese Argumentation mindestens so fragwürdig wie für sehr viele LinguistInnen, denn ihre Kommunikationsfunktion kann Sprache nur dann erfüllen, wenn es geteilte Muster des Verstehens von Sprache bei Sendenden und Empfangenden gibt. Wie eine Formulierung senderseitig gedacht und gemeint ist, determiniert bekanntlich nicht, wie sie empfängerseitig verarbeitet und verstanden wird. Vor gut 15 Jahren hörte ich einen Kollegen einer anderen Universität bei einem Flurgespräch über Rassismus und angemessenen Sprachgebrauch sagen: „Ich sag weiterhin Neger, ich mein’s ja nicht bös“. Hier bestand ein (konservativer) Sprecher auf seiner Bedeutungszuweisung, und es war ihm offenkundig nicht so wichtig, dass (viele oder die meisten) EmpfängerInnen seiner Botschaft die Valenzfreiheit des verwendeten Begriffs nicht teilen. Es mag einem Sprechenden gefallen oder nicht, aber die Wortwahl muss, nimmt man eine Verständigungsabsicht an und ernst, auch die Perspektive der Empfängerpersonen berücksichtigen. Und hier zeigt die empirische Forschung ganz eindeutig, dass die Verwendung geschlechtergerechter Formulierungen mit größerer Wahrscheinlichkeit dazu führt, dass Frauen bei der mentalen Repräsentation sprachlich beschriebener Sachverhalte einbezogen werden, als die Verwendung des generischen Maskulinums. Diese Befunde zitiert Stöber (2020) selbst (u. a. Blake und Klimmt 2010; Braun et al. 2005). Nach Stöbers Logik ist das ein Problem, weil die so verarbeitenden Personen ja falsch verarbeiten und falsch verstehen, denn sie inferieren irrtümlicherweise von genus auf sexus. Aber nach Stöbers Logik ist das halt nicht Stöbers Problem – oder allgemeiner: das Problem von Sprechenden und AutorInnen –, sondern das Problem der angeblich fehlerhaft verarbeitenden Rezipierenden. Als Kommunikationswissenschaftler so und ausschließlich senderzentriert zu argumentieren bereitet mir Stirnrunzeln, um es höflich auszudrücken.

Ein zweites konservatives Argument gegen den Sprachwandel, das auch Stöber anführt, besteht in der Skepsis gegenüber der Wirksamkeit des Sprachwandels mit Blick auf Gleichberechtigungsziele. Demnach sei unklar, ob man über den Weg einer Sprachmusteränderung etwas für die Gleichberechtigung von Frauen in der Gesellschaft tun könne. „Realitäten, hier reale Diskriminierungen, sind durch ‚Neusprech‘ (George Orwell) nicht aus der Welt zu schaffen. Wer glaubt, mit Gender-* und Binnen‑I die Realitäten zu ändern, weil beides das Denken ändere […], wacht vielleicht eines Tages erstaunt auf, weil etwas ganz anderes eingetreten ist: An die Stelle wünschenswerter Emanzipation sind Gender-* und Binnen‑I getreten – und dabei ist es geblieben“ (Stöber 2020, S. 5). Auch diese Argumentation ist meiner Meinung nach für einen Kommunikationswissenschaftler unhaltbar. Denn ein Gutteil unseres Fachs beschäftigt sich doch gerade mit den Folgen von Kommunikation für soziale Realitäten! Und wir finden überall empirische Befunde, wonach Kommunikation auf Denken, Fühlen, Intendieren und Handeln wirkt, gerade auch in der Langfristperspektive (vgl. Slater 2015). Die besagten empirischen Rezeptionsstudien, die einen veränderten gedanklichen Einbezug von Frauen durch Mitverwendung femininer Bezeichnungen in Botschaften beim Publikum zeigen, markieren ja gerade „die Anfänge“ solcher Veränderungen. Aus verstärktem gedanklichen Einbezug von Frauen in (vielen) Mikroepisoden von Kommunikation kann und wird soziale Realität anders und geschlechtergerechter hervorgehen. Infrage zu stellen, dass Änderungen des Sprachgebrauchs in öffentlicher Kommunikation Änderungen in der Gesellschaft begünstigen, läuft dem Forschungsstand unseres Faches eindeutig zuwider.

4 Kritische Entgegnung zu Stöbers Scheinargumenten

Mehr inhaltliche Argumente als die oben genannten hat der Kollege Stöber (2020) nicht anzubieten. Doch enthält sein Text noch einige Schein-Argumente, die maßgeblich zur Irritation über seine Einlassungen beitragen. Da wäre zunächst die von Konservativen gern verwendete Strategie der Wehklage über den zunehmenden „Illiberalismus“. Die hier zum Ausdruck kommende „resistance to change“ wird gar nicht erst mit einem inhaltlichen Argument dafür unterlegt, dass das Althergebrachte besser sei als der Wandel, sondern damit begründet, dass man auf seiner Wahlfreiheit beharre und diese nicht eingeschränkt werden dürfe. Diese „Argumentations“-Weise Stöbers ist unseriös im doppelten Sinne. Zum einen bedroht niemand die Wahlfreiheit im Sprachgebrauch; weder der Kollege Stöber noch sonst ein Befürworter des generischen Maskulinums muss um Einkünfte oder Sicherheit fürchten. Denn auch morgen wird kein feministischer Mob mit Mistgabeln und keine im Geheimen formierte Bundessprachpolizei vor ihren Häusern stehen und sie zum Gender-Stern zwangsbekehren. Dass progressive Akteure Vorschläge in den Diskurs einspeisen – mit Verve, Leidenschaft, Argumenten und womöglich auch Polemik –, ist keineswegs illiberal, sondern demokratisch mindestens akzeptabel, wenn nicht wünschenswert, genau wie Stöbers eigene Äußerung ja auch. Und zweitens geht mit Freiheit immer auch Verantwortung einher. Der Kauf und Betrieb eines 2,5 Tonnen schweren SUVs ist bekanntlich auch nicht verboten. Aber die Freiheit, eine unnötige Zusatz-Tonne Blech in Bewegung zu halten und dafür kostbare Energie auf klimaschädigende Weise zu verfeuern, sollte im Angesicht der Weltlage von jedem Bürger und jeder Bürgerin mit etwas Schulbildung und Verantwortungsbewusstsein überdacht werden (vgl. etwa DGPuK 2020). Ist diese Forderung „illiberal“? Stöber treibt die Illiberalismus-Klage in seinem offenkundigen Ärger so weit, dass er sie mit ein paar Vokabeln aus dem Fundus der Nazivergleiche und Totalitarismus-Vorwürfe dekoriert. Dieses Dekor macht aus seinem Lamento gewiss kein echtes Argument, löst aber zuverlässig Empörung bei Andersmeinenden aus. So kommen wir in der inhaltlichen Auseinandersetzung nicht voran, und das weiß der Kollege Stöber natürlich auch. Stop the shouting and lower the temperature.

Dann kommt Stöber noch mit der Regeltreue. In diesem Fall brandmarkt er die Verfechterinnen neuer Sprachformen als Abweichler von institutionell festgeschriebenen Regeln, und er klagt, dass er sich angeblich für seine Regeltreue „rechtfertigen“ müsse, obwohl sich doch eigentlich die Abweichlerinnen rechtfertigen müssten. Konservative Akteure berufen sich ja gerne auf axiomatische Prämissen oder „Regeln“, die sie als nicht verhandelbar einstufen. Die katholische Kirche beispielsweise hält ein Narrativ aufrecht, dass aus Sicht männlicher Kirchenfürsten unumstößlich begründet, warum Frauen keine heilige Messe lesen dürfen. Frauen haben daher leider Pech gehabt und müssen sich diesem Axiom halt fügen. Übertragen auf die Verfechtung des althergebrachten männlich dominierten Sprachgebrauchs fordert Stöber, dass Frauen sich halt fügen müssen in die „genus ungleich sexus“-Argumentation – ist ja nicht bös gemeint. Mir scheint die Intention, den Sprachgebrauch mit Verweis auf geltende „Regeln“ einer demokratisch-gesellschaftlichen Neu-Aushandlung zu entziehen, im Widerspruch zum von Stöber hochgehaltenen Liberalismus zu stehen. Der war ja schließlich mal entstanden, um den alten Mächten und ihren Definitionshoheiten etwas Fortschrittliches, Egalitäres und Kritisch-Hinterfragendes entgegenzusetzen.

Ein weiteres Schein-Argument, das auch bei Stöber anklingt, ist die Ablehnung jeglichen Wandels, der nicht perfekte Ergebnisse liefert. Geschlechtergerechte Sprache sieht schlimm aus, klingt unflüssig und sperrig, ist unästhetisch und, nicht trivial, birgt neue Probleme in der Repräsentation von Menschen mit nicht-binärer Geschlechtsidentität. Und weil das so ist, macht doch der ganze Gender-Kram keinen Sinn! Solange es keine perfekte Lösung gibt, bleiben wir doch lieber bei der (womöglich auch nicht perfekten) althergebrachten Lösung. Gerade für Historiker ist das eine kritikwürdige Haltung – Fortschritt zur Lösung realer Probleme wurde noch nie in einem Schritt der optimalen Handhabung erzielt. Gesellschaftlicher Wandel vollzieht sich vielmehr stets nur durch serielle inkrementelle Veränderungen. Mehr Bildungschancen hier, etwas mehr Mindestlohn da – die Armutsbekämpfung stellen wir als Gesellschaft doch auch nicht ein, nur weil die eine alles lösende Maßnahme nicht gefunden wurde. In diesem Sinne würde keine Verfechterin des Binnen‑I behaupten, das Ringen um Gleichstellung von Frauen und Männern sei mit dieser Veränderung erfolgreich abgeschlossen. Aber geschlechtergerechte Sprache ist nun mal ein Baustein für gesellschaftlichen Wandel hin zu mehr Gleichstellung, nicht mehr und nicht weniger. Dem Wandel im Sprachgebrauch eine Absage zu erteilen, weil damit nicht gleich das Gesamtproblem gelöst werden könne, ist daher eine Äußerung, die nicht als Argument, sondern eher als Nebelkerze anmutet.

Ebenfalls in den Bereich der Scheinargumente gehört der Vorwurf, Verfechterinnen geschlechtergerechter Schreibweisen verfolgten „manipulative“ Ziele (Stöber 2020, S. 3). Auch hier verweist Stöber auf historische Beispiele totalitärer Regimes, die den Sprachgebrauch in den Dienst ihrer Propaganda stellten. Er findet solche Manipulationsversuche „gefährlich“, was nebenbei im Widerspruch zu seiner These der Wirkungslosigkeit von gendergerechten Schreibweise steht (wie könnte wirkungslose Sprach-„Manipulation“ wohl „gefährlich“ sein?). Unklar bleibt an dieser Unterstellung, wen die Befürwortenden geschlechtersensibler Schreibweisen in welcher Weise „manipulieren“ wollen. Klar sind hingegen die – auch von Stöber eingeräumten – Probleme mit Gleichstellung und Gleichberechtigung nicht nur im deutschen Sprachraum. Klar sind auch die Intentionen, die BefürworterInnen neuer Schreibweisen besitzen – angemessene Repräsentation von Menschen aller Geschlechter in sprachlichen Personen- und Gruppenbezeichnungen sowie Beeinflussung des gedanklichen Einbezugs von Frauen, mithin Personen jeglichen nicht-männlichen Geschlechts, seitens der Empfangenden medialer und öffentlich zugänglicher Botschaften. Aus dieser Sicht wäre der einzige Personenkreis, der mir als potenzielle Opfer solcher „Manipulation“ in den Sinn käme, die Gruppe jener Menschen (womöglich vor allem Männer), die auf ihrem gefühlten Gewohnheitsrecht beharren, bei der Rezeption medialer Botschaften weiterhin möglichst wenig an Frauen denken zu müssen. Warum in der Verwendung traditioneller nicht-geschlechtergerechter Schreibweisen hingegen keine Manipulation vorliegen soll, erschließt sich aus Stöbers Überlegungen nicht. Vermutlich hat er als Konservativer größtes Vertrauen in die genderobjektive Neutralität und Weisheit jener Väter der deutschen Sprache, die das Maskulinum als „generisch“ bestimmt hatten. Manipulation betreiben immer nur die anderen.

Sarkastisch auflachen musste ich lediglich beim letzten von Stöbers Scheinargumenten, nämlich dass Rechtsradikale sich des gewandelten Sprachgebrauchs bedienen würden, und mit denen wolle er „nicht einmal zeichentheoretisch in einem Boot sitzen“ (S. 9). Diese Bezugherstellung war mir neu, und sie ist in der Sache – pardon – völliger Quatsch. Denn vermutlich 99 % aller von Rechtsradikalen und Nationalsozialistinnen formulierten (öffentlichen) Botschaften dürfte das generische Maskulinum verwendet haben und verwenden. Zeichentheoretisch sitzt der Kollege Stöber daher, so wie wir alle, fürchte ich, schon sehr lange mittschiffs im gleichen Boot mit den Rechtsextremisten. Gestört hat das den Kollegen Stöber aber offenbar bislang nicht. Mithin wäre es ja bekanntlich auch schwierig, wenn wir unsere Definitionen akzeptabler sozialer Praktiken davon abhängig machen, dass die bösen Extremisten sie nicht auch verwenden.

5 Vorschläge

Zur sachlichen Auseinandersetzung gehört bekanntlich nicht nur die kritische Befassung mit den Argumenten (und Scheinargumenten) andersmeinender Akteure. Konstruktive Vorschläge und Ideen für Kompromisse werden ebenso benötigt. So unterbreite ich zum Abschluss einen solchen Vorschlag, und zwar dazu, wie man als konservativer Skeptiker des Sprachwandels durch „Reframing“ den Blick auf die Vorteile dieses Wandels schärfen könnte. Dazu erinnere ich an ein Verständnis von Konservatismus, der nicht einfach Wandel zu verhindern trachtet. Wie Franz Josef Strauß sagte (zitiert nach Deutscher Bundestag 2017, S. 6): „Konservativ heißt, auf dem Boden des christlichen Sittengesetzes in der weitest möglichen Form seiner Auslegung mit liberaler Gesinnung an der Spitze des Fortschritts zu marschieren.“

In diesem Sinne sind viele konservative Menschen Befürworter des technologischen Fortschritts. Moral, Sitten und Sprache sollen gleichbleiben, Technologie jedoch möge voranschreiten. Mein Vorschlag zum Reframing besteht nun darin, Sprache auch als eine universelle Kommunikations-Technologie aufzufassen. Diese Technologie können wir alle gemeinsam weiterentwickeln und besser machen, wenn wir sie geschlechtergerecht auslegen und um entsprechende Sprech- und Schreibweisen ergänzen. Damit würde Sprache besser im Sinne der Erfüllung von Abbildungsfunktionen, die sie in der zwischenmenschlichen Verständigung sowohl bei Sendenden als auch bei Rezipierenden leisten soll. Sprache als Kommunikations-Technologie würde den Menschen wirksamer und erfolgreicher dienen.

Wie genau die derart verbesserte Sprache als Technologie der Verständigung in einem gegebenen Text aussehen kann, möge jedermann und jederfrau selbst entscheiden. Wie es im Jahr 2020 die Kollegin Damaris Nübling von der Universität Mainz auf einer Veranstaltung in Hannover treffend ausdrückte: „Machen Sie irgendetwas, Hauptsache, Sie verwenden nicht das generische Maskulinum.“ Übrigens ist auch der Rat für deutsche Rechtschreibung, den Rudolf Stöber als maßgebliche Autorität ins Feld führt, offen für eben solche Veränderungen des geschlechterbezogenen Sprachgebrauchs. In dem Beschluss, den er nach der Auseinandersetzung mit dem von Stöber zitierten Arbeitsgruppenpapier gefasst hat, verkündet der Rat: „Diese Entwicklung steht noch am Anfang […]. Sie soll nicht durch vorzeitige Empfehlungen und Festlegungen des Rats für deutsche Rechtschreibung beeinflusst werden.“ (Rat für deutsche Rechtschreibung 2018, S. 2)

So ermutige ich Rudolf Stöber und alle Konservativen, mehr geschlechtergerechte Sprache zu wagen und einige ihrer Varianten nicht in Bausch und Bogen zu verdammen. Dass solche technischen Verbesserungen an unserer Sprache ästhetisch aversiv sind, gerade im Vergleich zu dem, was die GigantInnen in Literatur und Publizistik (etwa die von Stöber erwähnten Augspurg, Heine und viele andere) hervorgebracht haben, geht sicherlich damit einher. Aber gerade wir heutigen WissenschaftlerInnen müssen uns im Vergleich zu den historischen HeldInnen der deutschen Sprache ja ohnehin als unbedarfte HandwerkerInnen und nicht als ebenbürtige KünstlerInnen verstehen. Die Geschichte wird uns den ästhetischen Bruch beim Marsch an der Spitze des sprachtechnischen Fortschritts verzeihen.