1 Einleitung

In jüngster Zeit stehen Beobachtung und Analyse problematischen Online-Kommunikationsverhaltens im Mittelpunkt öffentlicher und akademischer Debatten. Es geht um Verhaltensformen, die sich beschreiben lassen durch Begriffe wie „attack“ (Stahel und Schoen 2019), „threat“, „harassment“ (Chen et al. 2020; Lenhart et al. 2016; Löfgren Nilsson und Örnebring 2016), „hate speech“ (Obermaier et al. 2018), „hostility“ (Post und Kepplinger 2019), „incivility“ (Chen et al. 2020), „cyberbullying“ und „‑stalking“ (Tokunaga 2010; Lenhart et al. 2016), „flaming“ oder „trolling“ (Hardaker 2010). Auswirkungen auf Betroffene werden vielfach untersucht. Große Aufmerksamkeit der Kommunikationswissenschaft erfährt dabei die Bedrohung von Journalist*innen – die alle oben genannten Verhaltensformen annehmen kann –, da Publikumsaggression in die Reihe externer Faktoren einzusortieren ist, die journalistische Autonomie gefährden (vgl. Löfgren Nilsson und Örnebring 2016). Aggressives Publikumsfeedback wird in der Berufspraxis entsprechend als wachsendes Problem wahrgenommen (vgl. Adams 2018; Obermaier et al. 2018; Preuß et al. 2017).

Der vorliegende Beitrag arbeitet Gemeinsamkeiten problematischer Verhaltensformen im Internet heraus, da diese (analytisch voneinander unterscheidbaren) Formen im journalistischen Alltag in ihrer Gesamtheit erlebt werden. Allgemein formuliert kann aggressives Publikumsfeedback zu Stress bei Journalist*innen führen (vgl. Stahel und Schoen 2019). Gemäß der „transactional theory of stress and coping“ (vgl. z. B. Lazarus und Folkman 1987) reagieren Menschen auf eine solche Situation in zwei Schritten: Zunächst nehmen sie die Situation wahr und bewerten diese (1), dann taxieren sie Strategien zu ihrer Bearbeitung (coping) (2). Gerade wenn man Journalist*innen in den Blick nimmt, hat deren Reaktion jedoch zugleich Auswirkungen auf die öffentliche Kommunikation einer Gesellschaft. Daher sind journalistische Copingstrategien in den letzten Jahren zunehmend erforscht worden – auch aus geschlechtervergleichender Perspektive, da Journalistinnen besonderen Formen sexualisierter Bedrohung ausgesetzt sind (vgl. Chen et al. 2020; Edström 2016; Post und Kepplinger 2019; Stahel und Schoen 2019). Der Beitrag möchte den Forschungsstand zu Wahrnehmung und Bewältigungsstrategien deutschsprachiger Journalistinnen um eine qualitative Analyse anreichern, da der Wissensstand im Wesentlichen auf quantitativen Befragungen beruht (vgl. Obermaier et al. 2018; Post und Kepplinger 2019; Preuß et al. 2017) oder auf den Vergleich von Journalismuskulturen abzielt (vgl. Chen et al. 2020). Der vorliegende Beitrag präsentiert eine Detailauswertung des (um zwei Interviews erweiterten deutschsprachigen) Datensets dieser vergleichenden Untersuchung (Chen et al. 2020) und erweitert deren theoretische Perspektive. Das qualitative Vorgehen ermöglicht ein komplexes Verständnis der Wahrnehmungs- und Bewertungsprozesse der Studienteilnehmerinnen und soll der Journalismusausbildung wie der Medienpraxis Wissen über Mechanismen und Bewältigungsstrategien zur Verfügung stellen.

2 Theoretischer Hintergrund

2.1 Problematische Kommunikationsverhalten im Netz: Kommunikative Gewalt

Aus verfügbaren Definitionen lassen sich Unterschiede in problematischen Verhaltensformen sehr gut ableiten (vgl. z. B. Obermaier et al. 2018, S. 503; Schmitt 2017; Sitzer et al. 2012, S. 12–13). Wir nehmen im Folgenden jedoch Gemeinsamkeiten in den Blick, um aufzuzeigen, dass sich all diese Formen auf einen Kern reduzieren lassen: sie sind verbalisierte Aggression. Aggression will ein Gegenüber auf schädigende Weise beeinflussen; verbalisierte Aggression ist damit Ausdruck psychischer Gewalt (vgl. Bettencourt et al. 2006; Nunner-Winkler 2004).

Lenhart et al. (2016, S. 3, 8) beispielsweise definieren „online harassment“ (bzw. „abuse“) als „unwanted contact that is used to create an intimidating, annoying, frightening, or even hostile environment for the victim and that uses digital means to reach the target“. Die Autorinnen stellen heraus, dass „online harassment“ von der Wahrnehmung der Zielperson her zu betrachten und damit verbunden durch die beabsichtigte Wirkung („intended effect“) zu verstehen ist (S. 8). Ziel ist das Provozieren von Gegenaggression (annoying) oder das Herbeiführen eines als bedrohlich wahrgenommenen affektiven Zustands des Gegenübers (intimidating, frightening, hostile). Die Zielgerichtetheit ist auch Definitionsmerkmal des „Trollings“. Obwohl dieses Verhalten sich durch das Charakteristikum der kommunikativen Täuschung von anderen abhebt, geht es beim Trolling darum, „trouble, harm, or aggravation“ (Hardaker 2010, S. 237) beim Gegenüber zu provozieren.

Darüber hinaus werden in Definitionen häufig „Trigger“ beschrieben, an denen sich problematisches Kommunikationsverhalten abarbeitet. Dreh- und Angelpunkte von Hassrede sind Charakteristika, die das Gegenüber (z. B. als Mitglied einer sozialen Gruppe) kennzeichnen: beispielsweise durch Religion, Geschlecht, sexuelle Orientierung, soziale und nationale/ethnische Herkunft (vgl. z. B. Obermaier et al. 2018, S. 503). Dem entspricht die Definition der „gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit“ (Heitmeyer 2005), die auch in Begriffsbestimmungen von Hassrede im Internet Eingang gefunden hat (vgl. z. B. Schmitt 2017). Ergänzend kann dies beim Trolling auch die kritische Auseinandersetzung mit einer recht breiten Kategorie der Mainstream(-medien-)kultur sein (vgl. z. B. Phillips 2011, 2013).

Die zitierten Definitionen beinhalten oft auch ein weiteres Element, das für Kommunikationsverhalten konstitutiv ist: den Kommunikationsstil. Dieser lässt sich als respektlos bzw. „inzivil“ beschreiben. Coe et al. (2014, S. 660) definieren „incivility“ als „unnecessarily disrespectful tone toward the discussion forum, its participants, or its topics“. Papacharissi (2004, S. 267) geht noch einen Schritt weiter, um klar zwischen Unhöflichkeit und Inzivilität zu unterscheiden; sie definiert Inzivilität als „disrespect for the collective traditions of democracy“. Menschenrechtsverletzende, stereotypisierende Beleidigungen oder Obszönitäten, die geäußert werden, um demokratische Prozesse zu verletzen, gehen deutlich über Unhöflichkeit hinaus (vgl. auch Chen et al. 2020, S. 879; Hardaker 2010, S. 237). Solche offenen oder beim Trolling ironisch verschleierten Abwertungen können entsprechend als Formen psychischer Gewalt verstanden werden (vgl. Nunner-Winkler 2004, S. 21).

Obwohl die Definitionen über Trigger hinaus gewöhnlich nicht zum Gegenstand haben, warum sich Menschen so verhalten, ermöglicht Wissen aus der Physiologie einfache Rückschlüsse. Grundsätzlich reagieren Menschen unter Druck auf zwei Weisen: Sie kämpfen oder flüchten (vgl. Folkman und Lazarus 1988, S. 466). Nur ein Kampfreflex wird dazu motivieren, sich zu äußern und kommunikativ „zur Wehr zu setzen“. Je intensiver der empfundene Druck bzw. je nach Persönlichkeitsstruktur wird aus einer Äußerung ein aggressiver Angriff (vgl. z. B. Bettencourt et al. 2006). Bei den hier beschriebenen Verhaltensweisen wird Aggression also nicht auf sozialverträgliche Weise ausgedrückt, sondern in destruktiver, missbräuchlicher Form. Im Grunde geht es um das Gegenteil dessen, was Rosenberg (2016) als „gewaltfreie Kommunikation“ beschrieben hat: Nicht Verstehen und Annahme des Gegenübers bei divergenten Wahrnehmungen, Einstellungen, Emotionen und Verhaltensweisen steht im Vordergrund, sondern die Modifikation des Gegenübers im Sinne eigener Präferenzen – mit dem Ziel der Selbstverteidigung bzw. Selbstaufwertung. Die Literatur unterscheidet zudem proaktive von reaktiver Aggression (vgl. z. B. Dodge und Coie 1987): Letztere ist eine feindselige Reaktion auf die Wahrnehmung einer Bedrohung oder Provokation durch das Gegenüber, ausgelöst z. B. durch eine getriggerte Angst vor Einfluss- und Statusverlust. Erstere Form von Aggression wird eingesetzt, um Ressourcen oder die Kontrolle über ein Gegenüber zu gewinnen, z. B. um Einfluss und Status zu erlangen. Proaktive Aggression ist folglich Einsatz von Macht und Zwang, um andere zu dominieren (vgl. Bettencourt et al. 2006, S. 753–754). Entsprechend kann kommunikative Gewalt im vorliegenden Kontext verstanden werden als Versuch der Eliminierung von (journalistischer) Kommunikation durch (aggressive Publikums‑)Kommunikation (vgl. Messmer 2003, S. 268, in Anlehnung an Luhmann). Kommunikative Gewalt wird proaktiv eingesetzt, um journalistische Massenkommunikation zu unterbinden, oder reagiert reaktiv auf (als antagonistisch erlebte) Berichterstattung.

Eine besondere Form der inzivilen kommunikativen Gewalt, die hier im Zentrum stehen soll, ist das „gendered harassment“ (Chen et al. 2020), also sexualisierte, geschlechter-, häufig frauenfeindliche Aggression. Darunter fallen Äußerungen, die eine Person oder Gruppe wegen Geschlecht und/oder Sexualität in ihrer Würde oder körperlichen Unversehrtheit angreifen und damit bedrohen – durch herabsetzende, beleidigende Kritik, Marginalisierung oder Stereotypisierung, aber auch durch „wohlwollenden“ Sexismus wie freiheitsbeschränkende Rollenzuschreibungen oder ein „Anmachen“ (vgl. zusammenfassend: Chen et al. 2020, S. 879–880). Warum wir diesen Schwerpunkt wählen, wird im folgenden Abschnitt noch deutlicher.

2.2 Ungleichheit in (digitaler) Sicherheit: Forschungsstand

Forschungsergebnisse legen nahe, dass es Unterschiede darin gibt, ob und wie sich Personen im Internet vor kommunikativer Gewalt sicher fühlen (können). Das ist besonders problematisch, wenn Berufsgruppen im Blick stehen, für deren Tätigkeit das Internet als Kanal unersetzbar bzw. die Internetöffentlichkeit eine existenzielle Größe ist, und wenn es dabei nicht um eine Auseinandersetzung mit Thema oder Botschaft geht, sondern um die Person der Kommunikatorin bzw. des Kommunikators selbst (vgl. Chen et al. 2020). Die Forschung hat jüngst herausgearbeitet, welche Charakteristika von Personen, privat wie öffentlich, dazu führen können, im Internet zur Zielscheibe zu werden. Die folgende Auflistung schließt an die obigen Definitionselemente an, sollte aber nicht als abschließend verstanden werden; vielmehr wurden diese Charakteristika von der Forschung besonders in den Blick genommen.

2.2.1 Die Person: Geschlecht, sexuelle Orientierung, Hintergrund

Eine repräsentative Befragung in den USA fand heraus, dass Männer und Frauen in der US-Bevölkerung mit derselben Wahrscheinlichkeit Ziel von „online harassment“ werden, dass Frauen jedoch eine größere Bandbreite und schwerere Formen digitalen Missbrauchs erleben (vgl. Lenhart et al. 2016). Auch sehen Frauen die Angriffe eher als Belästigung bzw. Missbrauch und als beängstigend und besorgniserregend (vgl. Lenhart et al. 2016, S. 4, 45). Mit diesen Tendenzen konform gehen Befragungen deutscher und schwedischer Journalist*innen. Sie belegten keine signifikanten Geschlechtsunterschiede bei der wahrgenommenen Angriffshäufigkeit, jedoch gaben in der deutschen Studie nur Journalistinnen an, aufgrund ihres Geschlechts in den letzten 12 Monaten angegriffen worden zu sein (vgl. Preuß et al. 2017, S. 11, Fußnote 10). In der schwedischen Studie gaben ein Drittel der Journalistinnen an, mit sexistischen Kommentaren (z. B. Beleidigungen) konfrontiert worden zu sein, und 15 % sagten aus, mit sexueller Gewalt bedroht worden zu sein. Im Vergleich dazu antworteten nur drei bzw. fünf Prozent der Männer entsprechend (vgl. Löfgren Nilsson und Örnebring 2016, S. 885–886; auch Stahel und Schoen 2019 für die Schweiz). Es finden sich jedoch auch inhaltsanalytische Evidenzen, dass Frauen häufiger als Männer zur Zielscheibe kommunikativer Gewalt werden (vgl. z. B. Döring und Mohseni 2020; Wotanis und McMillan 2014). Eine Analyse von 70 Mio. Kommentaren des Guardian-Internetauftritts zeigte, dass unter den zehn regelmäßig publizierenden Autor*innen, die am wenigsten kommunikative Gewalt traf, nur Männer waren. Unter den zehn am stärksten Angegriffenen fanden sich jedoch acht Frauen und zwei Schwarze Männer (vgl. Gardiner et al. 2016). Zwei dieser Autorinnen und einer dieser Autoren sind homosexuell, eine der Autorinnen ist Muslima und eine jüdischen Glaubens. Eine Befragung deutscher Journalist*innen lässt zwar nicht den Schluss zu, dass der Migrationshintergrund einen Einfluss auf die wahrgenommene Häufigkeit von Attacken hat (vgl. Preuß et al. 2017, S. 9), bei der sexuellen Orientierung zeigt die US-repräsentative Befragung jedoch klare Unterschiede in der wahrgenommenen Bedrohung zwischen heterosexuellen und LGB-Internetnutzer*innen (vgl. Lenhart et al. 2016, S. 25–26). Das untermauert die Befunde der Guardian-Studie für diesen Aspekt. Deutsche Medienschaffende sehen als Auslöser für problematisches Publikumsfeedback im Hinblick auf ihre Persönlichkeitsmerkmale am ehesten die eigene politische Orientierung, nennen aber auch (in geringerem Umfang) „die eigene Religionszugehörigkeit beziehungsweise Weltanschauung“ als Anlass (Preuß et al. 2017, S. 11). Sie sehen Gründe jedoch allgemein eher auf der Sach-, denn auf der Persönlichkeitsebene (vgl. auch Löfgren Nilsson und Örnebring 2016, S. 885). Wir gehen im Folgenden auf diese Sachebene ein.

2.2.2 Die Beschaffenheit der Botschaft: Medium, Themen, Stil

Untersuchungen in der Journalismusforschung arbeiteten vor allem drei Faktoren heraus, die Einfluss auf wahrgenommene Publikumsaggression haben können: das Medium, die Themen der Berichterstattung sowie den Berichterstattungsstil. Im Hinblick auf Mediengattungen zeigt die Befragung schwedischer Journalist*innen, dass besonders die bei Boulevardzeitungen und der großstädtischen Qualitätspresse Tätigen von kommunikativer Gewalt betroffen sind (vgl. Löfgren Nilsson und Örnebring 2016, S. 884). In der deutschen Studie sind es (neben Medienschaffenden in Anzeigenblättern und Nachrichtenagenturen) vor allem Zeitungsjournalist*innen sowie diejenigen in den Ressorts Politik, Lokales und Regionales (vgl. Preuß et al. 2017, S. 12). Den Grund problematischen Publikumsfeedbacks sehen die Befragten meist im Inhalt ihrer Artikel (vgl. Preuß et al. 2017, S. 10). Themen aus klassischen „Männerdomänen“, aber auch Feminismus, Immigration/Integration/Flucht gelten als die problematischsten (vgl. Löfgren Nilsson und Örnebring 2016, S. 886; Chen et al. 2020, S. 884–885). Darüber hinaus macht sich „angreifbar“, wer im Berichterstattungsstil meinungsbetont und sichtbar ist, z. B. „columnists and op-ed writers“ (Löfgren Nilsson und Örnebring 2016, S. 884). Dazu passt, dass auch Fernsehjournalist*innen in Deutschland vergleichsweise häufig angaben, Ziel problematischen Publikumsfeedbacks zu sein (vgl. Preuß et al. 2017, S. 12).

Diese Zusammenschau legt nahe, dass Aggressor*innen sich bedroht fühlen von Normveränderungen, Werte- und sozialem Pluralismus, der Ausdruck findet in individualisierten Lebensstilen und öffentlicher Thematisierung. Im Zentrum der Aufmerksamkeit steht vor allem, wer durch entsprechende Botschaften Reichweite generieren kann und als meinungs- bzw. diskursmächtig wahrgenommen wird. Geschlecht wird dabei zur zweifach triggernden Variable: Einerseits als Persönlichkeitsmerkmal, andererseits als Thema. Frauen, die über Feminismus berichten, sind damit besonders gefährdet. Der Umgang mit Aggressor*innen, die (digitale) Sicherheit bedrohen und Stress auslösen, wird in der Forschung oft unter dem Stichwort „Coping“ verhandelt. Wir beleuchten im Folgenden gezielt Geschlechtsunterschiede im Coping.

2.3 Umgang mit (digitaler) Unsicherheit: Stress- und Coping-Theorie

Aggressives Kommunikationsverhalten hat zum Ziel, schädigend auf Emotion, Wahrnehmung und/oder Verhalten des Gegenübers einzuwirken – beispielsweise Selbstzweifel und Angst auszulösen (Emotionsebene), den inneren Kompass zu irritieren (Wahrnehmungsebene) oder Anpassung bzw. Rückzug zu erzwingen (Verhaltensebene). Da Autonomie und Unversehrtheit dadurch bedroht werden, führt Aggression häufig zu Stress beim Gegenüber. Laut Lazarus und Folkman (1987) entsteht Stress in einer Beziehung zwischen Person und Umwelt, die als persönlich relevant wahrgenommen wird und die die eigenen Ressourcen belastet oder übersteigt. In einer solchen Situation muss Coping zum Einsatz kommen – das sind Gedanken und/oder Verhaltensweisen, um die internen und externen Erfordernisse der Stresssituation zu bewältigen (vgl. Folkman und Moskowitz 2004). Zunächst wird die Relevanz einer Situation bewertet (primary appraisal) und anschließend, welche Optionen für die Bewältigung zur Verfügung stehen (secondary appraisal). Diese Optionen bestimmen auch den Grad der persönlichen Kontrolle über die Situation. Beide Bewertungen bestimmen Beschaffenheit und Intensität des wahrgenommenen Stresses. Folkman und Lazarus (1988, S. 467) unterscheiden weiterhin zwischen emotions- und problemfokussiertem Coping. Während es beim ersten um eine Veränderung der eigenen Einstellung und/oder Relevanz der Situation geht, geht es beim zweiten darum, die Person-Umwelt-Beziehung zu verändern (z. B. durch das Abmildern oder Beseitigen der auslösenden Situation). Paradoxerweise kann auch kommunikative Gewalt als problemfokussiertes Coping verstanden werden: Aggressor*innen versuchen durch Einschüchterung die Person-Umwelt-Beziehung – die durch entsprechende Berichterstattung als antagonistisch erlebt wird – im Sinne der eigenen Präferenzen zu manipulieren. Kommunikator*innen wiederum müssen Copingstrategien anwenden, um auf die kommunikative Gewalt zu reagieren.

Eine Untersuchung zu Wahrnehmung und Umgang mit Angriffen unter deutschsprachigen Journalist*innen lässt vermuten, dass mit deren zunehmender Häufigkeit Wohlbefinden, Gesundheit, Privatleben, aber auch Teamfähigkeit beeinträchtigt werden – und dass auch Kolleginnen und Kollegen ohne eigene Erfahrung negative Auswirkungen spüren (vgl. Preuß et al. 2017, S. 14–15).Footnote 1 Ein Großteil befragter (Print‑)Journalist*innen sieht sich jedoch in der Lage, mit solchen Situationen umzugehen (vgl. Post und Kepplinger 2019, S. 2433). Emotionsfokussierte Copingstrategien sind geprägt von der Suche nach sozialer Unterstützung (durch das Kollegium bzw. private Umfeld) oder durch Ablenkung bzw. Ignorieren des Feedbacks. Problemfokussierte Copingstrategien können Kommentarabschaltung und -moderation sein sowie das Suchen von Information und Hilfe z. B. bei professionellen Beratungsstellen oder einem Rechtsbeistand (die Zustimmungswerte variieren jedoch; vgl. Obermaier et al. 2018, S. 513; Preuß et al. 2017, S. 19–20). Dass eine Lösung der Situation durch Strafverfolgung sich jedoch als schwierig erweist, ist immer wieder Gegenstand öffentlicher Diskussionen (vgl. z. B. Fricke 2020). Neben unterschiedlichen Auffassungen über die Grenzen der Meinungsfreiheit wird die Zusammenarbeit zwischen Strafverfolgungsbehörden und externen Plattformanbietern als kompliziert beschrieben, außerdem fehle es an Ressourcen, (rechtskonformer) Infrastruktur und Prozessen (z. B. Boddin et al. 2020; Fiedler und Müller-Neuhof 2020; Fricke 2020; Stelkens 2019; Völlinger 2019)Footnote 2. Vielleicht wird auch deshalb die Konfrontation mit den Aggressor*innen von manchen Betroffenen nicht gescheut (vgl. Preuß et al. 2017, S. 20).

Empirische Befunde legen außerdem nahe, dass es geschlechtsspezifische Unterschiede beim Coping gibt, die durch Stresswahrnehmung beeinflusst werden.Footnote 3 Studienergebnisse deuten z. B. darauf hin, dass Frauen Stresssituationen, wenn sie auf abstrakter/dispositionaler Ebene abgefragt werden, als unangenehmer empfinden (vgl. Sigmon et al. 1995) und Stress intensiver wahrnehmen (vgl. Stahel und Schoen 2019). Neben den oben zitierten Befunden passt dazu, dass befragte deutsche Printjournalistinnen problematisches Publikumsfeedback eher mit negativen Emotionen verbanden, ihre männlichen Kollegen hingegen eher mit Genugtuung (vgl. Post und Kepplinger 2019, S. 2436). Weiterhin lassen Studien vermuten, dass es Unterschiede im emotionsfokussierten Coping gibt: Beispielsweise sprechen Frauen eher über Emotionen bzw. suchen soziale Unterstützung (vgl. Sigmon et al. 1995; zusammenfassend Meyers-Levy und Loken 2015, S. 136). Obermaier et al. (2018, S. 516, 518) konnten außerdem zeigen, dass Journalistinnen signifikant häufiger emotions- und problemfokussierte Copingstrategien anwenden, um mit Hassrede umzugehen.

Manche Copingstrategien gegen Stress, der durch eine öffentliche Berufstätigkeit ausgelöst wird, haben eine besondere Qualität – da es hierbei nicht nur um belastete interpersonale Beziehungen geht, sondern auch um negative Effekte auf die öffentliche Kommunikation. Folgt man aktueller Berichterstattung und wissenschaftlichen Publikationen, beobachten Journalist*innen Tendenzen zur Selbstzensur, was als problemfokussierte Copingstrategie verstanden werden kann. Verfügbare Studien weisen auf den demokratiebedrohlichen Effekt der „Schere im Kopf“ hin (vgl. z. B. Edström 2016; Löfgren Nilsson und Örnebring 2016; Post und Kepplinger 2019; auch Lenhart et al. 2016, S. 4). Kommunikative Gewalt kann zwar die individuelle Themenwahl oder Themenaufbereitung negativ beeinflussen – aber auch positive publizistische Effekte zeitigen: Perspektivenvielfalt und Objektivität wurden als Schutzmechanismen vor Anfeindung genannt (Chen et al. 2020, S. 887). Anpassungen in der Berichterstattung hängen vermutlich mit der Häufigkeit problematischer Kommentare (vgl. Löfgren Nilsson und Örnebring 2016, S. 887) und mit deren Verarbeitung zusammen: „The more the journalists experienced previous publicly visible audience hostility with negative emotions, the more they report to have complied with anticipated audience hostility“ (Post und Kepplinger 2019, S. 2435). Weil ihr Stressempfinden höher ist, scheinen Journalistinnen eher zu Vermeidungsstrategien zu tendieren – in der Berichterstattung und der Publikumsinteraktion (vgl. Stahel und Schoen 2019).

Die vorliegende Studie möchte den verfügbaren Forschungsstand, der überwiegend auf quantitativen Daten beruht, an dieser Stelle fortschreiben und einen vertiefenden Blick auf das Forschungsproblem ermöglichen. Sie soll helfen zu verstehen, welche Wahrnehmungs- und Bearbeitungsmechanismen in den und durch die Journalistinnen ablaufen. Ergänzend zur komparativen Analyse (vgl. Chen et al. 2020), gehen wir in der vorliegenden Detailauswertung speziell auf die Begebenheiten der deutschsprachigen Journalistik ein.

FF1

Wie bewerten Journalistinnen die Situation, in der sie kommunikative Gewalt erlebt haben (primary appraisal: Relevanz) und

FF2

Welche Optionen für die Bewältigung dieser Situationen wenden sie an (secondary appraisal: Copingstrategien)?

3 Methode

Zur Beantwortung führten wir Leitfadeninterviews mit neun Journalistinnen, die im deutschsprachigen Raum (Deutschland, Schweiz, Österreich, Südtirol) journalistisch tätig sind.

3.1 Sampling

Die Journalistinnen wurden entweder im Rahmen einer Internetrecherche direkt kontaktiert oder meldeten sich auf einen Aufruf, den wir über E‑Mail-Verteiler eines Berufsverbands und der Beschwerdestelle eines öffentlich-rechtlichen Senders versenden konnten. Rekrutierungskriterien waren 1) Geschlecht und 2) Erfahrungen mit problematischem Publikumsfeedback. Wir nahmen an, dass aus Sicht der Betroffenen Erfahrungen mit unterschiedlichen Formen kommunikativer Gewalt nicht voneinander zu trennen sind – die Interviews bestätigten dies, da Trolling, Stalking und Hassrede gleichermaßen angesprochen wurden. Verbalisierte Aggression kann einerseits eine klare Geschlechterperspektive aufweisen (z. B. wenn sie sexualisierte Gewalt beinhaltet), andererseits aber auch einen klaren Geschlechterbezug bekommen, weil sie aus der Perspektive einer Frau wahrgenommen und verarbeitet wird. Zur Rekrutierung selbst nahmen wir daher keine weitere Spezifikation vor. Die Interviews fanden von Mai bis Oktober 2017 statt, wurden persönlich und telefonisch geführt und dauerten zwischen 15 und 32 min. Die Journalistinnen (pseudonymisiert als I1 bis I9) sind tätig für Print‑, Rundfunk- und Onlinemedien und arbeiten in festen wie freien Anstellungsverhältnissen.

3.2 Operationalisierung

Nach einer Eisbrecherfrage zum persönlichen Werdegang wurde zunächst nach einem konkreten, vorab recherchierten Erlebnis mit negativem Publikumsfeedback gefragt. Die Journalistinnen sollten erzählen, wie es aus ihrer Sicht dazu gekommen war, bevor Detailfragen zu diesem Ereignis folgten. Der nächste Teil des Leitfadens fragte dann nach der Wahrnehmung und Bewertung der konkreten Situation und damit nach ihrer Relevanz für die eigene Person und Berufstätigkeit (primary appraisal). Daran anschließend wurden genutzte Bearbeitungsstrategien exploriert (secondary appraisal). Abschließend sollten die Teilnehmerinnen über Veränderungen in ihrer Einstellung zum Beruf und ihrer Arbeit sowie über Maßnahmen zur Unterstützung im Umgang mit problematischem Publikumsfeedback reflektieren. Das Ende des Interviews markierte eine offene Frage („Wollen Sie noch etwas ergänzen, was Ihnen wichtig ist?“) und bot die Möglichkeit, weitere Punkte anzusprechen.

3.3 Analyse

Nachdem die Interviews transkribiert waren, analysierten wir sie mithilfe einer kategoriengeleiteten qualitativen Inhaltsanalyse (vgl. Löblich 2008). Zur Beantwortung der Forschungsfrage 1 ordneten wir dabei Transkriptstellen den Kategorien (1) Auslöser und (2) Wahrnehmung der Situation/„primary appraisal“ zu, und zur Beantwortung der Forschungsfrage 2 exzerpierten wir Transkriptstellen, die (3) Copingstrategien/„secondary appraisal“ behandelten. In dieser dritten Kategorie unterschieden wir theoriegeleitet Strategien (3a) emotionsfokussierten und (3b) problemfokussierten Copings. Anschließend bezogen wir die Transkriptpassagen auf allgemeinere theoretische Konzepte und leiteten Implikationen für die Aus- und Weiterbildung sowie die Medienpraxis ab, was wir im folgenden Ergebnisteil darlegen.

4 Ergebnisse

4.1 Bewertung der beruflichen und persönlichen Relevanz kommunikativer Gewalt

Wie durch den Forschungsstand nahegelegt, wurden die Journalistinnen zur Zielscheibe kommunikativer Gewalt, weil sie sich in Themenbereichen bewegen, die sie als „Männerdomänen“ oder als polarisierend klassifizierten – dazu zählen Politik, Flucht und Migration, Feminismus, Familie und Mutterschaft oder auch männlich dominierte Sportarten. Als weiterer Trigger wurde wahrgenommen, wenn sie sich als Person selbst exponierten: einer Debatte ein Gesicht gaben (vor der Kamera bzw. sich selbst thematisierend) oder Publikumsnähe signalisierten. Die Feedbacks können interpretiert werden als Angriffe auf die emotionale Stabilität („um mich zu verletzen“, I8) und Angriffe auf die kognitive Stabilität („Es kamen viele Sachen, die meine Fähigkeiten, als Journalistin zu arbeiten, angezweifelt haben“, I8). Übergeordnetes Ziel ist eine Verhaltensanpassung gemäß einer Eliminierung von Kommunikation durch Kommunikation: „Sie wollen dich ja mundtot machen!“ (I1).

Die Wahrnehmung der kommunikativen Gewalt auf Seiten der Journalistinnen reichte von „keiner wirklich persönlichen Betroffenheit“ (I4) bis hin zu intensiven emotionalen und schmerzhaften Erfahrungen („kurz vor Burnout“, I9; „ein seelischer Autounfall“, „ein Trauma“, „Todesangst“, I5). Viele waren überrascht oder schockiert – von der Intensität, der Menge, der Form sowie dem Tonfall des Publikumsfeedbacks (I1, I4, I7, I8). Dabei nahmen die Journalistinnen folgende Charakteristika der Situation und der Aggressor*innen wahr:

  • Reichweite: Ausmaß und Dauer kommunikativer Gewalt können sich überwältigend anfühlen (I5: „eine riesen, riesen Sache. Vor allem waren das auch weltweite Kommentare“; I9: „Es gibt immer wieder Zeiten, wo sich das alles ganz schlimm anfühlt. Also wenn man 14 Tage richtig krassen Shitstorm hat und das Gefühl hat, man kann sich nirgendwo mehr im Netz bewegen, ohne dass man auf Beleidigungen stößt“).

  • Fehlende Nachverfolgbarkeit: Es wird als schwer bis unmöglich erlebt, die Aggressor*innen zu identifizieren und juristisch zu verfolgen (I6: „Die meisten, die schreiben, sind halt anonym. (…) Also einer, der sich wirklich drauf eingeschossen hat (…), bei dem hab ich auch schon mehrmals überlegt, ob ich ihn anzeigen soll. Hab ich aber jetzt noch nicht gemacht. Ist auch gar nicht so einfach“).

  • Organisierte und sich wiederholende, strategische Angriffe: Aggressor*innen gehören teilweise systematisch handelnden Netzwerken an (I7: „Meine E‑Mail-Adresse und meine Privatadresse [wurden] veröffentlicht (…). In diesen Foren wurde dann dazu aufgerufen, mir zu schreiben. Das waren dann alles Droh-Mails, Anrufe hatte ich soweit nicht“; I9: „Das ist teilweise eben politisch organisiert, so rechte Szene, anti-feministische Szene (…). Die reagieren mittlerweile auf so ziemlich alles, was ich treibe (…), auch auf Sachen, die total unpolitisch sind. Einfach nur, um mich zu beleidigen“).Footnote 4

  • Sexualisierte kommunikative Gewalt: Mildere Ausprägungen waren Beleidigungen, die sich auf Aussehen oder Familienstatus bezogen (I6, I7, I8: „‚Die Arbeit machst du nur, weil dich niemand heiraten will‘“, „‚Ja, natürlich muss die Journalistin wieder Männer hassen‘“, „‚Du siehst aus wie ein Mann‘“). Es kam aber auch zu Vergewaltigungs- und Todesdrohungen (I5, I6, I9: „[S]ehr explizite Beschreibungen, was man mal mit mir machen müsste (…). Und da gab es da auch so Geschichten, wo man darüber diskutiert hat, wie man mich am besten umbringen kann“) (vgl. Chen et al. 2020; Adams 2018).

  • Eindringen in die Lebenswelt: Die Journalistinnen berichteten von Vorfällen, in denen Aggressor*innen in ihre private Lebenswelt eindrangen. Manche Angriffe laufen zunächst unbemerkt, wie das Posten von privaten (Kontakt‑)Informationen im Internet („Doxing“; I7, I9). Andere sind sehr direkt, z. B. I9: „[E]s wurde versucht mich beim Jobcenter anzuzeigen“. Auch von ungewollten Kontaktaufnahmen wurde berichtet: „Er schreibt, dass ich seine Freundin bin auf seiner Facebook-Seite. (…) Und dann wieder ganz traurig, da schreibt er, dass es ihm ja so schlecht geht. Dann wieder einen Monat nichts. (…) Er schreibt mir halt auch auf WhatsApp zum Beispiel“ (I6). Eine weitere Strategie ist das Recherchieren in der Vergangenheit, beispielsweise um alte Texte (I2) oder frühere Stationen im Lebenslauf zu verunglimpfen (I7). Auch Beobachtung wird eingesetzt, um eine Drohkulisse zu erschaffen. I2 erzählt: „Du stehst unter genauer Beobachtung, unangenehmer Beobachtung“. Ähnliche Erfahrungen machten I1 („Ich habe dich gestern auf dem Fahrrad gesehen, pass bloß auf!“) und I6 („Der wusste dann auch, dass ich einen Hund habe, wie mein Hund aussieht“). Besonders intensiv sind „Morddrohungen, die dann auch meine Familie betreffen“ (I1) (vgl. auch Preuß et al. 2017, S. 16).

Die Umwelt von Journalistinnen in einer Situation, in der sie mit kommunikativer Gewalt konfrontiert sind, ist folglich charakterisiert durch Unvorhersehbarkeit (Überraschung bzw. Schock) und Unkontrollierbarkeit (unklare Reichweite, Unklarheit über die Aggressor*innen und ihre Absichten, bedrohter privater Schutzraum). Damit einher geht, dass sich diese Art von Auseinandersetzung nicht auf Arbeitsprozess und -produkt konzentriert, sondern personalisiert wird – also Person und Identität der Journalistin in den Mittelpunkt stellt (vgl. Chen et al. 2020, S. 883–886). Entsprechend haben die meisten unserer Befragten angegeben, dass die Situation ihr Wohlbefinden in irgendeiner Weise beeinflusst hat – bis hin zu Zusammenbrüchen. Jobkrise und private Krise gehen dabei Hand in Hand (I5). Neben Gefühlen der Machtlosigkeit (I8; I1: „Wenn du dann so kritisiert wirst, dann fühlst du dich schon erstmal schwach“) und der Limitierung des eigenen Sicherheitsbereichs geht es auch um die Sicherung der eigenen Berufstätigkeit – ein Kampf gegen die Beschmutzung des Rufs, der Integrität und Professionalität wie auch gegen die eigenen Selbstzweifel (I7). I3: „Also da fühlt man sich ja sozusagen in seiner Arbeit komplett unbegabt und komplett idiotisch im ersten Moment. (…) Zumindest ich persönlich habe zuerst immer das Gefühl, dass der Leser recht hat“ (vgl. auch Adams 2018, S. 860–861; Preuß et al. 2017, S. 16–17). Diese Themen berühren die persönliche und professionelle Autonomie (psychische wie physische Unversehrtheit, Berufsausübung).

Beruflich gesehen können Journalistinnen, sofern sie im Journalismus tätig bleiben wollen, potenziellen Stresssituationen nicht bzw. nur teilweise entgehen: Als Journalistin gänzlich ohne Publikumsbezug zu arbeiten ist im Prinzip nicht denkbar, auch wenn im deutschsprachigen Raum weniger Erwartungsdruck im Hinblick auf Publikumsnähe zu herrschen scheint als in anderen Journalismuskulturen (vgl. Chen et al. 2020). Die meisten Interviewpartnerinnen gaben an, dass die Situation ihre Arbeitseinstellung nicht verändert habe (I3, I4, I6, I7, I9). Häufig entwickelt sich daraus vielmehr ein Widerstandsgeist (I1: „Nö – ich lasse mich jetzt nicht von euch einschüchtern“) oder eine selbstbestätigende Haltung (I4: „Ich habe nicht an mir gezweifelt. Das haben mir ja auch die positiven Rückmeldungen gezeigt, dass es einfach das Thema ist, das so kontrovers betrachtet wird, und dass ich da offensichtlich in ein Wespennest hineingestochen habe, von dem ich gar nicht wusste, dass es da ist“) (vgl. auch Adams 2018; Obermaier et al. 2018; Post und Kepplinger 2019). Andere nahmen jedoch wahr: „Die Leichtigkeit ist weg aus dem Beruf“ (I5; I2). Arbeitsweise und Arbeitsalltag hingegen können deutlich beeinflusst werden, beispielsweise wenn Freiberuflerinnen selbst auf Feedback reagieren und Kommentare moderieren müssen (I2, I9). „Also, dann schläft man nachts nicht mehr durch, sondern ist die halbe Nacht damit beschäftigt, irgendwelche Accounts zu blocken, oder irgendeine Scheiße durchzulesen“ (I9). Anpassungsmechanismen zur Bearbeitung der Stresssituation, die das emotionale Empfinden, die Arbeitsweise und den Arbeitsalltag berühren, lassen sich als Copingstrategien verstehen und werden im Folgenden näher beleuchtet.

4.2 Emotionsfokussiertes Coping im Umgang mit kommunikativer Gewalt

Emotionsfokussierte Bewältigungsstrategien beziehen sich primär auf das eigene emotionale Erleben – also auf eine Veränderung der eigenen Einstellung bzw. Relevanz der Situation. Folgende Strategien haben die Journalistinnen berichtet und reflektiert:

  • Entkopplung bzw. Abgrenzung: Diese Strategie kann beginnen mit „Computer aus, Spazierengehen, Offline-Welt“ (I8). Das ist nicht gleichzusetzen mit Verdrängung (I5: „Wegdrängen geht nicht. Das Thema war zu heftig“). Vielmehr geht es darum, „nicht alles im Detail“ zu verfolgen und sich irgendwann auszuklinken (I5) bzw. „nicht mehr die Kommentare zu jeder Zeit zu lesen“ (I2). Je aggressiver die kommunikative Gewalt, desto leichter scheint es zu sein, sich davon zu distanzieren: „Die so richtig Beleidigenden haben mich jetzt nicht persönlich getroffen“ (I1).

  • Abwertung: Beim Entkoppeln und Abgrenzen hilft es, die Aggressor*innen mit einem Mangel wahrzunehmen (I4: „(…) dass die Menschen, die so was schreiben, irgendwie nicht richtig verstanden haben, was ich geschrieben habe, oder meine Sprache nicht verstanden haben oder den Blick auf die Situation“). Eine weitere Strategie ist, das Gegenüber oder die Situation nicht ernst zu nehmen (I3, I6, I7). I3: „Und im zweiten Moment kommt dann bei mir so dieses: ‚Ja, wer bist du eigentlich und warum denkst du, du könntest meinen Job besser machen als ich?! Was glaubst du eigentlich, wer du bist?‘ Und kann man das nicht ein bisschen netter formulieren?“. In Fällen schwerer Beleidigungen wird das Gegenüber bewusst belächelt. I6: „(…) dass dir irgendein anonymer Account schreibt: ‚Wie viele Schwänze hast du heute schon gelutscht?‘. (…) Da habe ich zu lachen angefangen, (…) das ist tatsächlich ein erwachsener Mensch, der einfach kein Hobby hat“. Eine solche Reaktion bedarf allerdings immer ausreichender psychischer Ressourcen (I2) und ist von der Tagesverfassung abhängig (I6, auch I9).

  • Selbstbestätigung: Die Abwertung des Gegenübers wirkt selbstaufwertend. Das ist auch der Fall, wenn dem Gegenüber nicht zugestanden wird, die Oberhand über die eigenen Emotionen zu gewinnen: „Ich lasse schon mal so ein bisschen was Zweideutiges rüber und schreibe dann trotzdem, dass ich noch einen schönen Tag wünsche oder viel Spaß beim Lesen“ (I3). Dazu gehört auch gelungene Impulskontrolle (I3: „Ich atme mal kurz durch und reagiere erst dann. Und meistens, wie schon gesagt, immer noch höflich“). Auch sich selbst Positives zuzusprechen wirkt entlastend (I1: „Du musst dich dann schon wieder zusammensammeln und sagen: ‚Ne, das ist schon in Ordnung, dass du das sagst‘“). Wiederum andere zeigen sich generell stressresistent, auch dank positiven Feedbacks (I4: „Ich habe nicht an mir gezweifelt. Das haben mir ja auch die positiven Rückmeldungen gezeigt“).

  • Antizipierende Haltung: Einige der Befragten haben bejaht, dass das Publikum im Hinterkopf heute präsenter sei (I1, I2, I3, I6, I9). I1 hat sich früher relativ sorglos mit jedem Thema beschäftigt, heute ist sie sich der Effekte jedoch viel bewusster („wenn du das machst, passiert das“). Einerseits ist die antizipierende Haltung ein Frühwarnsystem zur Umweltkontrolle (I2: „Ich sage [im Voraus] immer zu allen: ‚Okay. Und was machen wir, wenn der Shitstorm losgeht?‘“), andererseits aber auch Ausdruck von Fürsorge bzw. Verantwortungsbewusstsein (I6: „Also ich denk jetzt schon bei vielen Sätzen darüber nach: Wie wird der jetzt verstanden? Aber eben von denen, bei denen ich will, dass die mich verstehen (…). Nicht irgendwelche Hass-Poster, weil die werden den Text eh scheiße finden – so oder so. Die müssen einem bei sowas dann auch wurscht sein“).

  • Soziale emotionale Unterstützung: Viele Befragten ließen in den Interviews spüren, wie wertvoll positive Rückmeldungen waren (I1, I2, I4, I8); häufig kommen diese Reaktionen jedoch eher als persönliche Nachricht denn als öffentliche Statements an. Genannt wurde außerdem die wertvolle Unterstützung durch Gespräche mit Redaktionskolleg*innen und Vorgesetzten, mit dem privaten und beruflichen Umfeld (z. B. Mentorinnen) sowie therapeutische Maßnahmen. Soziale emotionale Unterstützung hilft dabei, „den Kompass wieder zu finden“ (I1) und zu wissen, „du bist damit nicht allein“ (I6, I2, I9). Gerade für Freiberuflerinnen ist das ein relevanter Punkt (I4, I8): „Wenn Festangestellte einen Shitstorm kriegen, dann sitzen die da mit den Leuten, die den Text abgenommen haben, die sitzen da mit Leuten, die den Text von Anfang an gut fanden. Und so weiter. Die haben eine Infrastruktur, die haben Rückhalt. Als ich meinen ersten Shitstorm bekommen hab, saß ich bei mir zuhause in meinem 10 qm-WG-Zimmer (…)“ (I8).

4.3 Problemfokussiertes Coping im Umgang mit kommunikativer Gewalt

Darüber hinaus haben uns die Journalistinnen von problemlösungsorientierten Bewältigungsstrategien berichtet. Da es hierbei um eine direkte Veränderung der Person-Umwelt-Beziehung geht (z. B. um eine praktische Reaktion auf die auslösende berufliche Situation), können die folgenden berufsbezogenen Maßnahmen als problemfokussierte Copingstrategien klassifiziert werden. Dabei haben diese Strategien immer auch Effekte auf das eigene emotionale Erleben (s. oben):

  • Moderieren: In Bezug auf Moderation von Feedback gibt es zwei Stellschrauben: die Reaktion auf entsprechende Beiträge (I3: „Ich habe das inzwischen so gelöst, dass ich das erst mal niederschreibe, und dann lösche ich das wieder und mache dann sozusagen eine nette Antwort daraus“) und deren Verbergen oder Löschen (I2: „Ich sehe mich da auch gar nicht mehr als Öffentlichkeits-Manipulatorin, sondern ich will deren Scheiße nicht auf meiner Seite haben. Seiten, die ich betreibe oder meine eigenen Seiten oder worauf ich auf Twitter antworte – da bin ich viel mehr so ein Blockomat geworden“). Andere Befragte jedoch meinen, „die einfach nur zu löschen oder kommentarlos stehen zu lassen, ist keine gute Lösung (…). Man muss damit eher nach vorne gehen und auch zeigen, was da gepostet wird – also nicht unter den Teppich kehren“ (I4). Auch hier ist die Situation von Freiberuflerinnen besonders: „Ich habe nicht die Möglichkeit, dass (…) Nachrichten, die an mich gehen, an irgendeine Redaktion gehen, jemand für mich vorfiltern kann oder jemand für mich die Kommentare auf meinem Blog liest. Das könnte ich schon machen, dann müsste ich halt jemandem Zugang gewähren“ (I9).

  • Sammeln von Material („Fanpost“, I8): Ob veröffentlicht oder gesperrt, einige unserer Befragten gaben an, (Beweis‑)Material in Form von Screenshots oder E‑Mails zu archivieren, „sowohl für Vorträge, als auch (…) für den Tag X, an dem ich vielleicht doch mal jemanden anzeigen kann, weil es sich mal lohnt“ (I9, I6; auch I2, I8).

  • Soziale praktische Unterstützung: Neben emotionaler Unterstützung helfen Kolleg*innen und Vorgesetzte beim Moderieren und Editieren von Kommentaren, beim Formulieren von Statements (I5), Gegenlesen relevanter Antwortkommentare (I3) oder auch bei technischem Support, „damit die Mails abgefangen“ und in separate Ordner abgelegt werden (I7). Internetseiten, die sich gegen Hassrede wenden, ermöglichen allen Unterstützung, die an der Internetöffentlichkeit teilnehmen (I6). I6 konnte auch auf „eine Anwältin [zugreifen], die mir gratis geholfen hat zu überlegen, ob ich den einen Menschen anzeigen soll – oder kann“.

  • Konfrontation von Aggressor*innen: Diese Strategie scheint sehr persönlichkeits- und situationsabhängig zu sein. I6: „Manchmal ignoriere ich, manchmal schreibe ich zurück (…), manchmal schreie ich zurück. (…) Wie ich gerade Lust hab“. Auf der einen Seite erlebte I7 den persönlichen Kontakt als „das heilsamste dagegen“ („Den, der mit diesem Shitstorm angefangen hat, den hab ich dann persönlich konfrontiert. Zufälligerweise wusste ich, dass er bei einem Anlass ist. (…) Und wie ich mit dem gesprochen hab, wurde mir klar, ach, das ist einfach nur ein Würstchen. Und hab von diesem Augenblick an den Respekt verloren, die Sorge“). Auf der anderen Seite ist I9 „dazu übergangen, wenn öffentlich solche Angriffe laufen, dass ich die nicht kommentiere. Also ich blocke und ich melde, wenn es irgendwie geht. (…) Ich versuch meistens, öffentlich so ein bisschen durchhaltemäßig zu sein und über irgendwas anderes zu schreiben, (…) auch zu zeigen ‚Ich bin noch da!‘. Kann mich aber gleichzeitig ein Stück weit zurückzuziehen und das auslaufen lassen“.

  • Öffentlichkeit herstellen (Thematisierung): Die meisten Interviewpartnerinnen sprechen öffentlich über das Erlebte – durch Publikationen, Interviews, Veranstaltungen und Workshops, Social Media Posts wie z. B. selbstgebastelte Memes oder Videos, in denen sie problematisches Publikumsfeedback laut vorlesen (I1, I4, I5, I8, I9). Wer das nicht tut, betont, wie wichtig solche öffentlichen Auftritte anderer sind (I2, I3). „Es muss darüber geredet werden“ (I5), aus einer Vielzahl an Gründen: Um „ein Verständnis dafür [zu schaffen], was Frauen erleben und wie sie sich dabei fühlen“ (I5), um ein Machtgleichgewicht wiederherzustellen (I8: „Nö, ich überlass euch nicht die Macht darüber, was ich mache“), um gesellschaftliche Kommunikationsnormen zu reflektieren (I3) und zivilgesellschaftliche Geschlossenheit zu demonstrieren, beispielsweise durch öffentliche Ehrungen (I1) (vgl. auch Chen et al. 2020). Wer darüber spricht, macht die Erfahrungen häufig „auch politisch zu meinem Thema“ (I9, I6). Für I8 besteht ein Zusammenhang mit Gleichberechtigung („dass die Arbeit anerkannt wird als gleichwertig zu der Arbeit von Männern“). Zwei Punkte sollten zur eigenen psychischen und physischen Sicherheit jedoch berücksichtigt werden: 1) Die Bereitschaft zur und die Form der Ansprache (I9: „ob man (…) jetzt selber die Person sein muss, die aus eigenen Erfahrungen erzählt. Ich mach (…) oft die Erfahrung, dass man eben nicht Expertin von einem Thema ist, sondern nur Betroffene“). 2) Die Form der Ankündigung öffentlicher Veranstaltungen (I9: „(…) da diese Leute bei mir halt auch bei den Veranstaltungen dann persönlich vorbeikommen“).

  • Selbstzensur: Einige der Befragten haben erzählt, dass sie jetzt viel genauer aufpassen, wozu sie sich äußern (I2), und vorsichtiger damit sind, wie sie sich äußern (I8, I9). Es besteht dabei ein direkter Zusammenhang mit der antizipierenden Haltung („Ich überleg mir immer sehr gut, (…) wie jetzt welches Foto, welcher Tweet, welcher Text wie gegen mich verwendet werden kann“, I9) und betrifft reißerische Texte bzw. Texte, „die irgendwas provozieren könnten“ (I8), aber auch das Thematisieren der eigenen Person (I8, I9) sowie anderer, zu denen eine persönliche Beziehung besteht (I9). Bedauert wird das unter anderem, weil persönliche Geschichten „viel Raum für Identifikation“ (I8) bieten (vgl. auch z. B. Adams 2018, S. 857–860; Chen et al. 2020, S. 886–888; Preuß et al. 2017, S. 16–17; Post und Kepplinger 2019; Stahel und Schoen 2019).

4.4 Implikationen für die Aus- und Weiterbildung sowie die Medienpraxis

Die Reflexion der Journalistinnen über ihre Bewältigungsstrategien kann aufdecken, wo Unsicherheiten und Unzulänglichkeiten bestehen, die in Zukunft beachtet werden sollten. Umgang mit kommunikativer Gewalt ist ein Thema, das die Mitwirkung verschiedenster Institutionen erfordert und interdisziplinär angegangen werden muss (vgl. auch Chen et al. 2020, S. 891):

  • Medienpädagogik: Prävention fängt früh an, bei einer gesellschaftlichen Diskussion über Kommunikationsnormen und der Vermittlung in Schulen, „dass Menschen hinter den Computern sitzen und die Artikel schreiben, dass Journalismus Arbeit ist“ (I8).

  • Thematisierung in der journalistischen Aus- und Weiterbildung: „Man kriegt in der Journalistenschule nur vermittelt, wie man sich sichtbar macht, aber nicht, wie man sich bei Wunsch und Gelegenheit wieder unsichtbar macht oder wie man sich eigentlich schützen kann“ (I2). Wichtig wäre für I8 dabei, dass es sich um eine „psychologisch geschulte Person“ handelt.

  • Unklarheiten über die juristische Lage: Neben der Unsicherheit eines Erfolgs bestehen auch Prozessfragen: „Muss der erfahren, dass ich es war? Wenn es jetzt strafverfolgt wird, was passiert dann?“ (I6). Die Befragte betont, wie wichtig aus diesem Grund Webseiten seien, die über den Umgang mit kommunikativer Gewalt informieren. Im Anschluss an den obigen Punkt werden solche Fragen idealerweise auch in der Aus- und Weiterbildung von Journalist*innen (z. B. in Medienrecht) angesprochen.Footnote 5

  • Entwicklung von präventiven Routinen und unterstützenden Strukturen innerhalb von Medienorganisationen: Es scheint Unklarheit darüber zu herrschen, wie viel Verantwortung von den Organisationen selbst übernommen wird (I6: Wer bezahlt den Anwalt?). Dabei geht es aber auch um eine grundsätzliche Signalwirkung. I5: „Wir sind ganz anderen Sachen ausgeliefert, und meiner Meinung nach müssen Verlage oder auch Rundfunkanstalten Verantwortung tragen und Zeichen setzen gegen solche Menschen, die das tun, und sie auch anzeigen“. Vorgeschlagen wird außerdem, dass mehr Ressourcen bereitgestellt werden, beispielsweise in der betrieblichen Gesundheitsvorsorge (I8).

  • Entwicklung von präventiven Routinen und unterstützenden Strukturen innerhalb von Redaktionen, vor allem auch für freiberuflich Tätige. I2: „Da muss (…) auch eine Struktur [dahinter sein], da muss geplant sein, wann wer wie wo was kontrolliert und stumm schaltet“. Dabei geht es z. B. um die Frage, wie Kommentare oder E‑Mails vorgefiltert werden können, ohne Kollateralschäden zu produzieren (im Hinblick auf Meinungsfreiheit oder Quellenschutz). Fortschritt in der Automatisierung solcher Prozesse kann hier wertvolle Impulse liefern. Zum anderen geht es darum, dass Redaktionen nicht nur „viele Klicks“ sehen, sondern auch die Person, um die es in dieser gewalthaften Situation geht (I8).

Diese Liste lässt sich aus einer Mängelperspektive lesen, oder aber mit einer entwicklungsorientierten Haltung: Die befragten Journalistinnen waren vielfach in der Lage, ein Re-Framing der Stresssituation vorzunehmen und zu erkennen, dass journalistische Arbeitsroutinen durchaus positiv beeinflusst wurden – was schließlich positive Konsequenzen für die öffentliche Kommunikation einer Gesellschaft zeitigen kann. Eine „genaue Beobachtung“ sei publizistisch eigentlich sehr gut (I2). Gerade um die Jahreswende 2015/2016 setzte aufgrund des starken Publikumsfeedbacks eine große Selbstreflexion unter Medienschaffenden ein (I1: „Machen wir Fehler oder haben wir was nicht richtig gesehen oder nicht richtig beachtet?“). Neben der bereits erwähnten Verantwortungsübernahme im Hinblick auf publizistische Effekte nannten I2 und I4 vor allem auch eine Zunahme an Empathie und verantwortlichen Umgang mit interviewten Quellen:

Meine journalistische Arbeit hat sich (…) verändert, da ich anderen Menschen die Stimme geben will, anstatt über die zu berichten. Ich habe viel mehr Empathie mit Interviewpartnern (…), verstehe total, wenn die Leute das Gefühl haben, dass sie innerlich leer geraubt sind, wenn sie erzählt haben, und denen entgleitet die Kontrolle. (…) dass ich auch zu einem Interviewpartner sage – oder mir vornehme, das mal zu sagen, habe ich vorher noch nie gesagt, den Satz – „Sie müssen das nicht erzählen! Wollen Sie das wirklich erzählen?“. Also Leute verdienen einen Schonraum, und gerade die, die was Interessantes erzählt haben, sind nicht die, die sich den schon selbst schaffen können. (I2)

Wir lernen, wie man ein Interview führt, und wir lernen, wie man Leute öffnet und wie man Leute dazu bringt, dass sie etwas erzählen (…), aber wie man zum Beispiel solche Menschen wieder deckelt – also wie man gerade bei traumatisierten Menschen auch wieder sagt: „So, das war jetzt das Gespräch, vielen Dank“ – ohne dass man die dann völlig aufgerissen zurücklässt sozusagen, haben wir zum Beispiel auch nicht gelernt. Und mit den Kommentaren ist es ein bisschen so ähnlich. (I4)

I2 berichtet außerdem, dass sie „auch keine Lust mehr auf Einzelprojekte hatte. Also ich habe danach nur noch Sachen mit anderen in der Gruppe gemacht“. Mehr Zusammenarbeit führt zu geringer persönlicher Sichtbarkeit und mehr sozialer Unterstützung.

Entsprechend kann die journalistische Aus- und Weiterbildung auf vielfältige Weise zur unterstützenden Ressource werden: Durch die Thematisierung des Problembereichs und der vorgestellten Bewältigungsstrategien in Medienpraxiskursen oder Vorträgen; durch eine juristische Beleuchtung in Medienrechtskursen; durch die Schulung der Führungskräfte von morgen, die für Veränderung in Organisationen sorgen können; und die Zusammenführung von Studierenden, um die Bildung von Redaktionskollektiven oder Peer-to-Peer-Netzwerken zu unterstützen. Gerade von diesen kollaborativen Strukturen scheinen Journalistinnen im deutschsprachigen Raum besonders zu profitieren (vgl. Chen et al. 2020, S. 888).

5 Fazit und Ausblick

Der Beitrag hatte zum Ziel, Wissen über kommunikative Gewalt für die öffentliche Diskussion und journalistische Ausbildung zur Verfügung zu stellen. Es ging darum, den Prozess sowie die Intention von Aggressor*innen zu verstehen, um Bedrohungen zu antizipieren und das Repertoire an Copingstrategien möglichst umfangreich darzustellen. Je mehr Ressourcen zur Bewältigung zur Verfügung stehen, desto wahrscheinlicher wird diese gelingen.

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Journalistinnen sich nicht nur vereinzelter, sondern auch strategischer kommunikativer Gewalt gegenübersehen, die im Kern nicht (nur) auf die Kritik journalistischer Arbeit zielt, sondern auf eine Destabilisierung der Person. Situationen, in denen solche kommunikative Gewalt erlebt wird, zeichnen sich aus durch Unvorhersehbarkeit, Unkontrollierbarkeit und Personalisierung. Diese drei Faktoren produzieren Unsicherheit und dadurch besonderes Stresspotential. Hinzu kommt, dass der Publikumsbezug der beruflichen Situation mehr oder weniger inhärent ist. (FF1) Auch wenn dieser „Zwang nach Außen“ in Deutschland weniger stark ausgeprägt und eine Rückzugsstrategie akzeptabler scheint als in anderen Journalismuskulturen (vgl. Chen et al. 2020) – Journalist*innen stehen in der Öffentlichkeit, und für freiberuflich Tätige kann ein enger Publikumskontakt ökonomisches Kapital bedeuten. Die Angriffe der Aggressor*innen, bei denen es darum geht, Emotion, Wahrnehmung und Verhalten von Journalistinnen zu manipulieren, können ihr Wohlbefinden entsprechend negativ beeinflussen. Um mit solchen Situationen umzugehen, nutzen Journalistinnen sowohl emotions- als auch problemfokussierte Copingstrategien (FF2, vgl. auch Obermaier et al. 2018): Entkopplung bzw. Abgrenzung, Abwertung der Aggressor*innen und Aufwertung des eigenen Selbst (Selbstbestätigung), eine antizipierende Haltung gegenüber dem Publikum und/oder soziale emotionale Unterstützung helfen, die eigene Emotion zu steuern; Moderation, Reaktion auf und Konfrontation von Aggressor*innen, das Sammeln von (Beweis‑)Material, soziale praktische Unterstützung, öffentliche Thematisierung, aber auch Selbstzensur helfen dabei, die direkte Person-Umwelt-Beziehung zu verändern. Die Vermutung liegt nahe, dass emotionsfokussierte Copingstrategien wie Abgrenzung und Selbstbestätigung Immunreaktionen sind, die drohenden Selbstzensurtendenzen entgegenwirken (vgl. Post und Kepplinger 2019). Journalistinnen nehmen auch wahr, dass Druck von Außen positive Wirkungen entfalten kann: Perspektivenvielfalt und Objektivität bieten eine gewisse Sicherheit vor Anfeindung (vgl. Chen et al. 2020, S. 887). Daneben nannten die Befragten mehr Selbstreflexion, Verantwortungsübernahme für publizistische Effekte und Interviewpersonen, bzw. größere Empathie, und einen Wunsch nach Zusammenarbeit. Die Bedeutung sozialer (emotionaler wie praktischer) Unterstützung, wie beispielsweise Redaktionskollektive, Mentoring- und Peer-to-Peer-Netzwerke sie bieten, haben alle Teilnehmerinnen unseres Samples unterstrichen. Eine wertvolle Ressource, vor allem für freiberuflich Tätige ohne klassische Redaktionsstruktur im Rücken. Ausbildungsinstitutionen können den journalistischen Nachwuchs hierfür zusammenbringen, Fachverbände und die beauftragenden Medienorganisationen Ressourcen (z. B. für rechtliche Unterstützung) bereitstellen.

Das Thema kommunikative Gewalt betrifft nicht nur Medienschaffende. Auch an anderen Personen mit Diskursmacht, z. B. aus Politik und Wissenschaft, entlädt sich Aggression. Verfügbare Forschung legt nahe, dass auslösende Mechanismen und Bearbeitungsstrategien, aber auch die besondere Bedrohung weiblicher Vertreter, in den unterschiedlichen Feldern ähnlich sind (vgl. z. B. Rheault et al. 2019; Veletsianos et al. 2018). Ein „Publikumsbezug“ ist auch in diesen Berufen unumgänglich (Politik) oder zunehmend erwünscht (Wissenschaft). Soziale Netzwerke machen die Grenze zwischen privater und öffentlicher Person zunehmend durchlässiger. Die Ambivalenz von Sichtbarkeit (die zu Erfolg, aber auch zu einer höheren Wahrscheinlichkeit von Angriffen führen kann) ist offenbar. In hypermaskulinen Umgebungen wie dem Online-Gaming (vgl. Fox und Tang 2017, S. 1291) oder im Technikjournalismus (vgl. Adams 2018) wurde daher beobachtet, dass weibliche Vertreter zur Abwehr oder Bewältigung ihr Geschlecht „neutralisieren“.

Kommunikative Gewalt kann folglich als eine neue Form der Diskriminierung und Bedrohung von (journalistischer, politischer oder wissenschaftlicher) Diversität und Autonomie verstanden werden. Diese Bedrohung erfordert nicht nur eine Anpassung der (Aus‑)Bildung, sondern auch eine zunehmende Sensibilität von Arbeitgebern (vgl. Chen et al. 2020). Sensibilität, weil unbetroffene Vorgesetzte nur bedingt Zugang zum Thema sexualisierte kommunikative Gewalt haben, aber auch, weil Schutz kontraproduktiv sein kann, zum Beispiel wenn er dazu führt, dass gefährdete Personen aus Sicherheitsbedenken proaktiv in ihrer Berufsausübung eingeschränkt werden (vgl. Preuß et al. 2017, S. 17). Daneben ist die Politik in den Bereichen Medienpädagogik und -Kompetenz, aber auch Gesetzgebung bzw. -Durchsetzung gefordert (vgl. z. B. Fricke 2020). Nicht zuletzt ist die Zivilgesellschaft gefragt – die durch ihre Wahlentscheidungen und ihre Steuern im Prinzip auch Arbeitgeber von Mandatsträgern ist: Positive Rückmeldungen können den inneren Kompass von Angegriffenen (wieder) einnorden; werden diese öffentlich hinterlassen, auch in Form zivilgesellschaftlichen Engagements durch Gegenrede (vgl. z. B. Boddin et al. 2020, S. 23), bietet das Feedback darüber hinaus Rückendeckung.

Über Gewalterlebnisse zu sprechen und sie (selbst anonymisiert) öffentlich zu machen, ist schwer. Diese Studie konnte aufgrund des Studiendesigns, das (verschärft durch das Thema) mit einer kleinen Fallzahl argumentiert, höchstens explorieren, aber keineswegs generalisierende Aussagen treffen.