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Der schmale Grat zwischen Anpassung und Integration

Kritische Anmerkungen aus Anlass des 100-jährigen Jubiläums der deutschen Kommunikationswissenschaft

The Fine Line Between Assimilation and Integration

Critical Remarks on Occasion of the 100th Anniversary of German Communication Science

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Zusammenfassung

Anlässlich des hundertsten Geburtstags der deutschen Kommunikationswissenschaft und des ehemaligen Leipziger Instituts für Zeitungskunde wird ein kurzer Abriss der wechselhaften Institutsgeschichte präsentiert, an den sich systematische Überlegungen zur Disziplin als Integrationswissenschaft anschließen. Der Nachkriegswandel des Fachs im Westen Deutschlands von der historisch-normativen Publizistik zur empirisch-deskriptiven Kommunikationswissenschaft wird nicht nur als Fortschritt verstanden, sondern auch als Einschränkung. Mit der Konzentration auf die empirische Seite gehen historische und normative Ansätze allzu schnell verloren, und damit auch der Anspruch einer Integrationswissenschaft. Wenn nämlich normative Reflexion und historische Besinnung auf den tieferen Sinn fehlen, besteht die Gefahr der Entstehung von bloß leerlaufender Forschung, die sich unreflektiert instrumentalisieren und für Machtinteressen einspannen lässt. Neben der Integration von ausgegrenzten Ansätzen und der Entwicklung einer reflektierten Wissenschaftsethik geht es deshalb vor allem um kritische Distanz zu Wissenschaftsmoden, besseres Nachwuchsmentoring, mehr Kommunikation über fachliche und methodische Grenzen hinweg und stärkeres gesellschaftspolitisches Engagement der Kommunikationswissenschaft.

Abstract

On the occasion of the hundredth anniversary of German communication studies and of the Leipzig institute for newspaper research, this article presents a short overview of the institute’s changing history, followed by systematic considerations on the discipline as integrative scholarship. The transformation of the field in post-war West Germany from the normative-historical “Publizistik” to empirical-descriptive communication studies is not only an advancement but also a restriction. The focus on the empirical side may be accompanied by a loss of historical and normative approaches, and thus by a loss of the demand for an integrative scholarship. If there is a lack of normative reflection and historical contemplation of the deeper meaning, the danger of idle, voided research emerges – a research that can be instrumentalized and misused by power interests. What is therefore needed, in addition to integrating excluded approaches and developing a reflected science ethics, are a critical distance to fads in academe, better mentoring of junior faculty, more communication across disciplinary and methodological borders, and a stronger societal involvement of communication studies.

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Notes

  1. Es handelt sich bei diesem Essay um die Ausarbeitung meines Festvortrages, den ich am 1. April 2016 während des „Festakts 100 Jahre Kommunikationswissenschaft in Deutschland“ im Auditorium Maximum der Universität Leipzig gehalten habe.

  2. Für eine ausführliche Auseinandersetzung vgl. Bobrowsky und Langenbucher (1987); Holtz-Bacha et al. (2006); Kutsch und Pöttker (1997); Meyen und Löblich (2006) sowie das einschlägige Sonderheft von Medien & Zeit (2002).

  3. Zur Kritik der Totalitarismustheorie vgl. z. B. Kühnl (1981).

  4. Es ging bei dieser Debatte im Kern darum, ob die Publizistikwissenschaft ihre vorwiegend geisteswissen­schaft­liche Orientierung beibehalten oder sich auf empirisch-sozialwissenschaftliche Herangehensweisen umorientieren sollte. Die Debatte fand in den 1960er Jahren vorwiegend in der Zeitschrift Publizistik statt. Hauptvertreter der geisteswissenschaftlichen Seite waren neben Emil Dovifat v. a. Wilmont Haacke und Kurt Koszyk. Auf der empirisch-sozialwissenschaftlichen Seite befanden sich neben Elisabeth Noelle-Neumann v. a. Fritz Eberhard, Henk Praake und Franz Ronneberger. Resümierend stellt Löblich (2007, S. 71) fest: „With this shift towards an empirical social scientific discipline, historical and philological approaches did not totally disappear but were marginalized and lost their status as leading methods.“

  5. Die wohl bekannteste Ausnahme ist Burkart (1998).

  6. Dies ist zu unterscheiden von der Tatsache, dass Habermas natürlich, und oft nur der Vollständikeit halber, viel zitiert wird. Selbst Habermas’ Öffentlichkeitstheorie hat in der Kommunikationswissenschaft bestenfalls Spuren hinterlassen, aber keine dauerhafte Prägung in der Ausrichtung des Fachs erzeugt.

  7. Ich will hier nur exemplarisch verweisen auf Flusser (1998), Poe (2010), Gunaratne et al. (2015) sowie Grieve und Veidlinger (2015).

  8. Ich möchte an dieser Stelle auf den sehr instruktiven Band zur Methodenkombinationen in der Kommunikationswissenschaft von Loosen und Scholl (2012) verweisen.

  9. Verwiesen sei hier auf Galtung (2000), Shinar (2003) sowie Lynch und McGoldrick (2005).

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Debatin, B. Der schmale Grat zwischen Anpassung und Integration. Publizistik 62, 7–23 (2017). https://doi.org/10.1007/s11616-016-0317-1

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