Pasternak, Avia (2021): Responsible Citizens, Irresponsible States. Should Citizens Pay for Their State’s Wrongdoings? Oxford: Oxford University Press. 248 Seiten. £ 56.00

Schemmel, Christian (2021): Justice and Egalitarian Relations. Oxford: Oxford University Press. 336 Seiten. £ 61.00

Es zeugt von der enormen Relevanz und umfassenden Breite des Themenfeldes, dass auch nach gut einem halben Jahrhundert intensiver gerechtigkeitstheoretischer Diskussionen immer wieder neue Ansatzpunkte identifiziert und bearbeitet werden. Die beiden hier vorgestellten Werke – eher praktisch orientiert das eine, dezidiert theoretisch das andere – sind bemerkenswerte Beiträge zu dieser andauernden Auseinandersetzung mit Fragen sozialer Gerechtigkeit.

Zwanzig Jahre nachdem in Bolivien bei einer Militäraktion Dutzende von Demonstranten in einem Dorf getötet worden waren, wurde im September 2023 das Urteil in einem Zivilverfahren rechtsgültig, das Familienmitglieder mehrerer Opfer gegen die damaligen Oberbefehlshaber, den Präsidenten und den Verteidigungsminister, in den USA angestrengt hatten, wohin beide kurz nach dem Massaker geflohen waren; die Beklagten akzeptierten schließlich die Verurteilung zur Zahlung hoher Geldsummen an die Kläger. Dass individuell Verantwortliche derart persönlich in Haftung genommen werden für Kompensationsleistungen an Opfer staatlichen Unrechts, ist äußerst selten. Wenn es überhaupt zu Kompensationen kommt, werden diese in der Regel von den betreffenden Staaten, also aus Steuergeldern, geleistet. Der geschilderte Ausnahmefall unterstreicht, dass die Frage, der Avia Pasternak in ihrem jüngsten Buch nachgeht, von erheblicher praktischer Relevanz ist: Unter welchen Bedingungen, wenn überhaupt je, ist es zu rechtfertigen, dass Kompensationen für staatliches Unrecht von allen Bürgern eines Staates getragen werden, unabhängig davon, ob sie an den Taten beteiligt oder auch nur mit ihnen einverstanden waren?

Die in der einschlägigen Literatur gängige Gegenüberstellung von proportionaler Verteilung je nach individueller Mitschuld an dem begangenen Unrecht einerseits und nichtproportionaler Verteilung auf die gesamte (steuerpflichtige) Bürgerschaft andererseits werde, so Pasternak, der Problematik in der Praxis nicht gerecht, weil in den allermeisten Fällen faktische Gegebenheiten (die Schwierigkeit der Feststellung individueller Schuld, zu geringe Mittel der unmittelbar Schuldigen, …) eine proportionale Lastenverteilung, die die Autorin – ohne dafür in diesem Buch ausführlicher zu argumentieren – prinzipiell als die gerechte Alternative ansieht, gar nicht zulassen. Damit stehen wir vor einem möglichen moralischen Dilemma, denn sollte sich nicht zeigen lassen, dass auch eine nichtproportionale Beteiligung an Kompensationsleistungen gerechtfertigt werden kann, bliebe in den meisten Fällen nur, die Opfer staatlichen Unrechts gar nicht zu kompensieren: eine aus moraltheoretischer Sicht unbefriedigende Option.

Pasternak entwickelt folglich ein Argument zugunsten der Rechtfertigung nichtproportionaler Kompensationslösungen (immer vorausgesetzt, eine proportionale Lösung ist nicht erreichbar). Das sei, so das Ergebnis ihrer Untersuchung, dann möglich, wenn davon ausgegangen werden könne, dass Bürgerinnen und Bürger (und darüber hinaus eventuell auch Einwohner mit anderer Staatsbürgerschaft) grundsätzlich als freiwillige, „intentionale“ Teilhaber staatlichen Handelns anzusehen sind. Der Ansatz steht und fällt folglich mit der Plausibilität und Anwendbarkeit der Idee der „intentionalen Teilhabe“, der sie einen erheblichen Teil der Untersuchung widmet. Einerseits diskutiert sie gängige alternative Begründungen für die allgemeine Verantwortlichkeit von Bürgern für das Handeln ihres Staates, um die Überlegenheit ihres Ansatzes zu zeigen. Andererseits bietet sie eine (Teil‑)Operationalisierung des Begriffs der intentionalen Teilhabe an, die es ihr erlaubt, anhand internationaler Umfragedaten der vergangenen zwei Jahrzehnte zu argumentieren, dass in Demokratien, nicht aber in autoritären Systemen breite Bevölkerungsmehrheiten tatsächlich als intentionale Teilhaber angesehen werden können.

Da dies bedeutet, dass unter Umständen weder eine nichtproportionale Verteilung auf die Gesamtbevölkerung gerechtfertigt noch eine proportionale Verteilung umgesetzt werden kann, diskutiert sie zudem, unter welchen Bedingungen eventuell auch Drittstaaten oder internationale Organisationen zur Kompensation von Opfern staatlichen Unrechts moralisch verpflichtet sein könnten, also sozusagen die nichtproportionale Lastenverteilung auf bestimmte transnationale Kollektive gerechtfertigt wäre, oder aber es in der Tat die bestmögliche Lösung sein mag, Opfern staatlichen Unrechts in diesen Fällen gar keine Entschädigung zu leisten.

Der Band enthält neben Einleitung und Fazit sieben wohlproportionierte Kapitel, einen Anhang mit Daten sowie Bibliografie und Index. Die Argumentation ist grundsätzlich klar und folgerichtig, wenn auch streckenweise etwas umständlich und redundant. Letzteres liegt zum Teil daran, dass Pasternak sich sehr um eine transparente Argumentationsstruktur bemüht, indem sie in jedem Kapitel zuerst daran erinnert, an welchem Punkt des Argumentationsgangs sie sich gerade befindet, zwischendurch immer wieder auf frühere Überlegungen zurückverweist, dabei auch recht einfache Überlegungen ausführlich mit Beispielen illustriert und am Ende jeweils ein Zwischenfazit zieht; der Aufbau aller Kapitel folgt also dem Schema „In the previous chapter […] In this chapter […] Recall that […] Let’s conclude […]“. Diese geradezu lehrbuchhafte Transparenz mag etwas pedantisch wirken, macht den Text aber gut geeignet für die Behandlung in der Lehre auch und gerade mit Studierenden, die wenig Erfahrung mit normativer Argumentation (und der Verwendung empirischer Daten dabei) haben.

Transparenz macht es natürlich auch leicht, Argumentationslücken und -schwächen zu erkennen – ein weiterer Vorteil für eine Verwendung in der Lehre. Auffällig ist beispielsweise das völlige Fehlen einer Auseinandersetzung mit der Frage, welchen weiteren Bedingungen eine rechtfertigungsfähige nichtproportionale Verteilung von Kompensationskosten für staatliches Unrecht neben dem Kriterium der „intentionalen“ Bürgerschaft eventuell genügen muss. Das mag der Knappheit des Buches ebenso geschuldet sein wie das Fehlen einer ausführlichen Auseinandersetzung mit den konkreten Folgen des Ansatzes für verschiedene praktische Konstellationen.

Pasternak formuliert im Übrigen gelegentlich unpräzise, und manch unkorrigierte Tippfehler stechen ins Auge. In der Bibliografie scheint die Auflistung bei mehreren Publikationen derselben Autoren keiner Systematik zu folgen, und einige Einträge enthalten fehlerhafte Angaben (z. B. beide Erscheinungsorte ihrer eigenen Aufsätze von 2011). Für den stolzen Preis dieses kleinformatigen und recht dünnen Bandes hätte man eine sorgfältigere Redaktion erwarten können. Dem substanziellen Gehalt des Bandes, der auch und gerade dann zur weiteren Diskussion anregen kann, wenn einen Pasternaks Lösungsvorschlag letztlich nicht überzeugt, tut dies aber keinen Abbruch.

Theoretisch deutlich gewichtiger ist der fast zeitgleich im selben Verlag erschienene Band von Christian Schemmel. Die anspruchsvolle Aufgabe, die sich der Autor gestellt hat, ist die Auflösung der unbefriedigenden Konkurrenz zweier prominenter Desiderate liberaler politischer Theorien durch ihre Zusammenführung in eine einzige übergreifende Theorie. Seit Langem sehen sich Theorien sozialer Verteilungsgerechtigkeit mit dem Vorwurf konfrontiert, dass sie den Wert gleicher Teilhabe und Anerkennung in sozialen Beziehungsgefügen ignorieren oder gar negieren; indem sie sich ausschließlich auf Fragen der Zuteilung von Gütern und Lasten konzentrierten, übersähen sie die Relevanz von Beziehungseigenschaften im Allgemeinen und die Auswirkungen, die unterschiedliche institutionelle Verteilungslösungen auf soziale Beziehungen haben können, im Besonderen. Das ist ein Vorwurf, der gerade solche liberalen Verteilungstheorien schwer trifft, die auf dem Ideal gleicher Freiheit aller Gesellschaftsmitglieder beruhen (man denke daran, dass Rawls nicht müde wurde zu betonen, dass der Kern von Demokratie darin bestehe, dass sich die Mitglieder der Gesellschaft gegenseitig als frei und gleich anerkennen). Diesem Vorwurf begegnet Schemmel mit dem Vorschlag, Herstellung und Wahrung egalitärer Beziehungen selbst als zentralen Aspekt sozialer Gerechtigkeit zu betrachten (S. 10: „a proposal for a liberal conception of social justice which accords centre stage to egalitarian relations“) und folglich eine Theorie sozialer Gerechtigkeit zu entwerfen, die das Desiderat gerechter Güterverteilung und das Desiderat egalitärer Beziehungen integriert. Bisherige Theorien konzentrierten sich jeweils nur auf eines dieser beiden Themen und seien insofern lückenhaft. Umgekehrt will Schemmel aber auch zeigen, dass die Belange egalitärer Beziehungen am besten in einer liberalen Gerechtigkeitstheorie unterzubringen sind.

In einer ausführlichen Einleitung werden Fragestellung und Argumentationsstruktur klar skizziert. In fünf Kapiteln wird dann die angestrebte integrierte Theorie entwickelt. Die Argumentation ist hier sehr dicht, Schemmel setzt sich eingehend mit der Literatur egalitärer Beziehungstheoretiker auseinander, entwickelt kontrastierend dazu seinen eigenen Ansatz und diskutiert dabei immer wieder auch mögliche Einwände dagegen. Eine kurze Rezension kann dem nicht im Einzelnen gerecht werden, nur einige besonders wichtige Aspekte seien genannt: In Kap. 2 wird v. a. erläutert, wie nicht nur das Ergebnis der Verteilung von Vorteilen und Lasten durch staatliche Institutionen, sondern auch die Art und Weise, wie eine solche Verteilung zustande kommt, als gerechtigkeitsrelevant angesehen werden kann. Zeigen staatliche Institutionen bei ihrem Umgang mit Individuen und Gruppen manchen gegenüber eine Haltung, die den Betroffenen den ihnen zukommenden gleichen Respekt und Status vorenthält, verübten sie damit Ungerechtigkeiten in Form von „expressive wrongs“. Im Anschluss daran setzt sich Kap. 3 mit neorepublikanischen Vorschlägen auseinander, Gerechtigkeit schlicht als die Abwesenheit ungerechtfertigter Herrschaftsbeziehungen aufzufassen (Stichwort: „justice as non-domination“), und setzt dem einerseits eine deutlich beschränkte liberale Auffassung relevanter „non-domination“ und andererseits eine breitere Auffassung von sozialer Gerechtigkeit entgegen, wonach gerechtigkeitsrelevantes expressives Unrecht ungerechtfertigte Herrschaftsbeziehungen zwar umfasst, sich aber nicht darin erschöpft. Damit sind zwei weitere Argumentationsschritte vorgezeichnet: Was genau der Schutz gegen ungerechtfertigte Herrschaft im liberalen Sinn erfordert, ist Thema von Kap. 4. Anschließend geht es darum, welche Beziehungsaspekte neben „non-domination“ Beziehungsegalitaristen ebenfalls beschäftigen (sollten). Dazu analysiert Schemmel zunächst in Kap. 5 zwei Theoriealternativen („pluralist social egalitarianism“ und „relation-sensitive distributive egalitarianism“), die relevante Überlegungen zum Thema beitrügen, aber aus unterschiedlichen Gründen unbefriedigend seien. Damit hat der Autor alle nötigen Elemente beisammen, um in Kap. 6 seinen eigenen Vorschlag für eine liberale Gerechtigkeitstheorie zu entwickeln, die neben Verteilungsaspekten auch der Vermeidung von „expressive wrongs“ gerecht werde.

In drei weiteren Kapiteln wird der Theorievorschlag abschließend auf seine Konsequenzen für drei konkrete Themenbereiche überprüft. In Kap. 7 geht es um politische Partizipation. Das Hauptaugenmerk liegt hier auf den Grenzen akzeptabler Beschränkungen gleicher politischer Teilnahmerechte zugunsten anderer relevanter Elemente von Gerechtigkeit. Erst Kap. 8 befasst sich mit den Folgen der relationalen Erweiterung der Theorie für die Gerechtigkeit von Verteilungen von Gütern und Lasten, die sich als weitreichend erweisen. In Kap. 9 werden diese Folgen für den Bereich der Gesundheit und der Gesundheitsversorgung genauer aufgezeigt. Schemmels Ziel hier ist es vor allem zu zeigen, dass sein liberaler und expressiver Ansatz der Einbeziehung egalitärer Beziehungen in der Lage ist, für wichtige soziale Lebensbereiche erhebliche Konsequenzen konkret aufzuzeigen, um dem eventuellen Vorwurf eines „social relation fetishism“ (S. 17) zu entgehen.

In einem kurzen Schlusskapitel werden drei Themen für die weitere Auseinandersetzung mit der vorgeschlagenen Theorie angerissen: denkbare Kritikpunkte am liberalen Ansatz, die notwendige Kooperation von Theorie und Empirie bei der Identifizierung und Überwindung real existierender ungerechtfertigter sozialer Hierarchien sowie die schwierige Frage einer möglichen Erweiterung der Theorie auf die internationale Ebene. Bibliografie und Index runden den im Übrigen sehr gut redigierten Band ab.

Christian Schemmel hat damit nach vielen Jahren der Beschäftigung mit dem Thema ein beeindruckend reifes Werk vorgelegt, das mehrere komplexe Theoriestränge (verteilungsorientierte vs. beziehungsorientierte Gerechtigkeitsauffassungen, pluralistischer vs. gerechtigkeitsfokussierter Egalitarismus, liberale vs. neorepublikanische Ansätze) aufgreift, kenntnisreich und scharfsinnig miteinander in Beziehung setzt und so die Diskussion um Verteilungsgerechtigkeit einerseits und gleichen Respekt und Status andererseits auf eine neue Ebene hebt.