Özmen, Elif (2023): Was ist Liberalismus? Berlin: Suhrkamp. 208 Seiten. 18,00 €

Geuss, Raymond (2023): Nicht wie ein Liberaler denken. Berlin: Suhrkamp. 267 Seiten. 28,00 €

Im Frühjahr 2023 erschienen zur selben Zeit im selben Verlag zwei Bücher zum selben Thema, die unterschiedlicher nicht sein könnten und die man unbedingt lesen sollte. Die Gießener Politikphilosophin Elif Özmen hält ein flammendes Plädoyer für eine Wiederentdeckung des klassischen Liberalismus, ohne den kein Ausweg aus dem Unheil der Gegenwart zu finden sei. Und der emeritierte US-amerikanisch-britische Cambridge-Philosoph Raymond Geuss geht in einem Rückblick auf seine Schulzeit der Frage nach, warum er nie ein Liberaler sein wollte – und warum man das auch heute besser nicht sein wollen sollte.

Özmen macht sich stark für den politischen Liberalismus in der Tradition von Hobbes über Kant und Mill bis Rawls, wie man ihn aus dem hegemonialen Lehrstoff unserer Universitäten kennt. Sie sieht ihn gegenwärtig massiv infrage gestellt und „für nahezu alle Verwerfungen und Pathologien der Gegenwart […] verantwortlich gemacht“ (S. 9). Dabei sei die liberale Demokratie heute mehr denn je die einzig legitime politische Ordnungsform, die man nachdrücklich verteidigen müsse. Und im philosophischen Nachdenken über Individuum, Staat und Gesellschaft werde man, so Özmen im konfessorischen Churchill-Stil, allein schon aus Vernunftgründen zu der Einsicht gelangen: „Alles in allem ist die liberale Demokratie die schlechteste Regierungs- und Lebensform, abgesehen von allen anderen“ (S. 192).

In ihrem gut zu lesenden Essay kommt Özmen allerdings nicht näher auf die Krisen der liberalen Demokratie zu sprechen. Stattdessen entwickelt sie eine prägnante Theorieskizze dessen, was man unter Liberalismus verstehen sollte. Und sie erläutert, warum er sich gegenüber seinen Theoriekonkurrenten als rechts- und freiheitsphilosophisch überlegen fühlen darf. Als Gegenspieler werden u. a. Kommunitarismus und Konservatismus, Populismus, Neomarxismus und radiale Demokratietheorien, Multikulturalismus und Feminismus, aber auch Neoliberalismus und Libertarismus ausgemacht und knapp, aber nicht weniger prägnant vorgestellt. Diese scheitern für Özmen aber allesamt daran, dass sie den Ideen von Freiheit und Gleichheit, wie sie sich in den Grundrechtskatalogen der europäischen Verfassungsstaaten niedergeschlagen haben, nicht in gleicher Weise zu entsprechen vermögen wie der klassische Liberalismus. Dieser zeichne sich nämlich, anders als partikulare Theorien des Guten, des Wünschenswerten, des Gemeinschaftlichen oder der Diversität, durch einen streng politisch-rechtlichen und dabei strikt universalistischen Anspruch aus: durch das „trio liberale von Individualismus, Freiheit und Gleichheit“ (S. 12; Herv. i. O.).

Im Zentrum des Liberalismus stehe, so erklärt Özmen, „der nichtsituierte, nichtsozialisierte, nicht kontextualisierte Einzelne“ (S. 99), den „eine von persönlichen, sozialen und historischen Kontexten unabhängige und allen Menschen gemeinsame Vernunftbefähigung“ (S. 93) kennzeichne. Ein solches Bild des Menschen widerspreche zwar aller Empirie, wie Özmen einräumt, sei aber unverzichtbar „für die normative Frage nach der Legitimität der politischen Ordnung“ (S. 98), in der jede Person „als freies und gleiches Rechtfertigungswesen“ (S. 99) zum Zuge kommen müsse. Der Liberalismus ziele in diesem Sinne auf „eine Konzeption unveräußerlicher, gleicher subjektiver Freiheitsrechte“ (S. 55), denn nur so könnten „die Vernünftigkeit und Gerechtigkeit der politischen Ordnung vor jedem Individuum und gleichzeitig durch die Individuen gerechtfertigt werden“ (S. 52; Herv. i. O.). Den eigentlichen Ausgangspunkt des Liberalismus konstituiere dabei, wie schon bei Hobbes im Blick auf die Religionskriege deutlich geworden sei, die schlichte Angst um das eigene Leben, „das universelle menschliche Interesse, vor Grausamkeit geschützt zu werden“ (Putting cruelty first, S. 104–105). Nur im klassisch liberalen Theorierahmen von Naturzustand, rationalem Gesellschaftsvertrag aller mit allen und dadurch konstituiertem Gewaltmonopol des Rechtsstaates könne ein Höchstmaß an staatlich garantierter Rechtssicherheit mit einem Höchstmaß an individueller Freiheitsentfaltung verbunden werden; und dies mit einem unbedingten Geltungsanspruch, denn die liberale Begründung des freiheitlichen Rechtsstaates sei „für jede Person vorteilhaft, ergo rational, ergo zustimmungsfähig“ (S. 119).

Für die pragmatischen Abschwächungen des Geltungsanspruchs des Liberalismus, wie sie sich etwa beim späten John Rawls oder bei Richard Rorty finden, hat Özmen nichts übrig. Sie wirbt auch nicht für einen charmanten „Seid nett zueinander“-Liberalismus mit entsprechenden Verhaltenserwartungen an die Einzelnen, sondern – ganz klassisch – für einen kantigen Abwehr-Liberalismus, der jedem Individuum das unbedingte Recht einräumt, mit seiner Freiheit, seinem Leben und seinem Eigentum beliebig zu verfahren, ohne sich fremden Tugendzumutungen oder Rechtfertigungspflichten stellen zu müssen. Die Freiheitsrechte seien als „Trümpfe gegen staatliche oder gemeinschaftliche Einmischung zu verstehen – selbst oder vielmehr gerade dann, wenn sie zum mutmaßlich Guten des Einzelnen oder zum Besten des Kollektivs wären“ (S. 124). Der Liberalismus ziele nämlich nicht auf öffentliche Beratung und Beschlussfassung über die res publicae, sondern auf „Grundrechte, Gewaltenteilung, Minderheitenschutz“ (S. 36), um die Freiheit der Einzelnen auch vor „den Launen, Interessenlagen und den Kontingenzen der demokratischen Mehrheitsentscheidung“ (S. 127) zu schützen. Özmen plädiert in diesem Rahmen – in Anlehnung an Bruce A. Ackerman – sogar für ein Prinzip der „Gesprächsbeschränkung“, um kontroverse politisch-moralische Ideale von vornherein der öffentlichen Debatte zu entziehen (vgl. S. 130).

Dass ein solcher Rechte-Liberalismus in einer Welt sozialer Ungleichheiten vor allem den beati possidentes in die Karten spielt, während die Habenichtse im Abseits bleiben, ist offensichtlich und schon oft moniert worden, wird von den Liberalen aber gerne beschwiegen. Auch Özmen bleibt hier wortkarg, schlägt sich aber keineswegs auf die Seite einer libertären bzw. neoliberalen Sozialstaatsverachtung. Mit Verweis auf das Rawls’sche Differenzprinzip betont sie vielmehr, dass soziale Ungleichheiten gegenüber den Benachteiligten grundsätzlich rechtfertigungspflichtig seien. Zur Frage jedoch, ob und wie sich ein demokratischer Wohlfahrtsstaat rechts- und freiheitsphilosophisch legitimieren lässt, hat sie nichts anzubieten. Irgendwie müsse die schwierige Balance von Freiheit und Gleichheit austariert werden; dies sei aber keine theoretische, sondern allein eine politisch-praktische Frage, deren Beantwortung, wie es arg schwammig heißt, „unter Rücksicht auf die empirischen Bedingungen der Anwendung auch verschieden ausfallen kann“ (S. 86). Im Zweifel gilt dabei gut liberal: Vorfahrt für die Freiheit, denn die liberale Demokratie kennzeichne sich nun einmal dadurch, dass sie „die möglichen Inhalte und die Reichweite demokratischer Entscheidungen normativ beschränkt und liberal ‚zurichtet‘“ (S. 192).

Das Buch von Elif Özmen ist im Blick auf das heute nahezu ubiquitäre Bekenntnis zu „liberalen“ Wertmustern und Lebensformen (Wer will hierzulande schon als illiberal gelten?) enorm erhellend, weil es einen ungeschminkten Blick auf das gar nicht nette, sondern arg ruppige Theorieprojekt des neuzeitlichen Liberalismus wirft, der keineswegs im wohlverstandenen Eigeninteresse aller liegt, sondern vor allem den Reichen und Mächtigen zu Diensten steht. Das Buch ist aber auch irritierend obsolet. Man gewinnt beim Lesen den Eindruck, es müsse heute noch immer darum gehen, sich aus den Bürgerkriegen des 17. Jahrhunderts zu befreien und der politisch-religiösen Einheitskultur des Mittelalters ein neues Leitbild säkularer Staatlichkeit mit individuellen Freiheitsrechten entgegenzusetzen; und es sei noch immer unsere Aufgabe, den Herrschaftsansprüchen frühneuzeitlicher Fürstenstaaten einen gesicherten Privatbereich von „life, liberty and estate“ abzutrotzen, in dem jeder mit sich und seinem Eigentum machen darf, was er will.

Mir ist schleierhaft, wie uns der Liberalismus, so verdienstvoll er damals war, heute helfen kann, die anstehenden politischen Aufgaben – von der drängenden ökologischen Transformation über die neuen Armuts- und Verteilungsfragen bis zum bedrohten sozialen Zusammenhalt einer sich auch kulturell und emotional zunehmend spaltenden Gesellschaft – produktiv zu bearbeiten. Er wird die grassierende Krise der Politik eher deutlich verschärfen. Wenn er am Ende nur schale Varianten von „Freie Fahrt für freie Bürger“ anzubieten hat – und nicht anders liest sich Özmens Buch –, sollte man ihm einen würdigen Platz im Museum für politische Ideengeschichte herrichten. Das nötige Update, das ihn auf die Höhe der gegenwärtigen Komplexitätslagen und Herausforderungen sowie auf das heutige Diskursniveau der normativen Selbstverständigungsdebatten bringen könnte, scheint jedenfalls noch auszustehen. Und Özmen bemüht sich auch gar nicht erst darum – womöglich deshalb, weil ein solches Update theorieimmanent ohnehin nicht möglich ist.

Während Özmen von der liberalen Demokratie schwärmt und diese „rein philosophisch-rational“ zu legitimieren versucht, konstatiert Raymond Geuss in seinem autobiografischen Buch – mit deutlicher Genugtuung – das „Hinscheiden des Liberalismus“ (S. 13), genauer gesagt: das Ende der Hoffnungen der 1990er-Jahre, dass „die gesamte Welt die kapitalistische liberale Demokratie“ (S. 12) übernimmt. Mit der Präsidentschaft Donald Trumps und dem britischen Ausstieg aus der Europäischen Union habe sich diese Erwartung erledigt. Allerdings setzt sich auch Geuss nicht näher mit den illiberalen Tendenzen der Gegenwart auseinander. Auch beabsichtigt er keine systematische Bestimmung des Liberalismus als solchen, nennt aber eine Reihe von Vorstellungen, die ihm als typisch liberal und zugleich als hochgradig unplausibel gelten.

Das „Kernstück des Liberalismus“ bildet für ihn „die Fantasie, ein völlig souveränes Individuum“ (S. 28) zu sein; umgeben von einem „‚Privatbereich‘, zu dem Zugang nur auf Einladung erlaubt ist“ (S. 51). Weitere liberale Grundprinzipien seien die Gewaltenteilung, die Nichteinmischung in die Angelegenheiten anderer sowie die Überzeugung, „so viele Gebiete wie möglich (einschließlich des religiösen Glaubens) als bloße Geschmacks- und Meinungsangelegenheiten aufzufassen“ (S. 49), denen gegenüber man tolerant oder gleichgültig sein könne und müsse. Auch die Überzeugung, dass politische Entscheidungsprozesse „auf freier Diskussion und freier wechselseitiger Zustimmung“ (S. 49) beruhen müssten, gehört für Geuss zu den liberalen Grundprinzipien. Deshalb zählt er auch Habermas, wenn auch in einer „leicht abweichenden Form“ (vgl. S. 228), zu den Liberalen und attestiert ihm „einige besonders naive Ideen zur idealisierten freien Diskussion“ (ebd.). Ob Diskurs und Gespräch aber per se als liberal zu qualifizieren sind, wäre noch einen Disput wert. Bruce A. Ackerman und Elif Özmen jedenfalls halten ja aus guten Gründen nicht die „freie Diskussion“, sondern gerade die „Gesprächsbeschränkung“ für typisch liberal (s. oben).

Immer wieder gelinge es dem Liberalismus, und diese Diagnose liegt Geuss besonders am Herzen, sich „gegenüber allen totalisierenden ideologischen Konstruktionen wie dem Kommunismus und dem Katholizismus […] als die Antiideologie schlechthin“ zu präsentieren – und damit „die wirklich totale Ideologie unserer Ära, die Verbindung aus Demokratie, Liberalismus und Kapitalismus“, unsichtbar zu machen (S. 17). Unbestreitbar sei jedoch, dass der Liberalismus vor allem „den Eigeninteressen der mächtigen wirtschaftlichen und sozialen Gruppen entgegenkommt“ und „tatsächlich wirksam und spürbar einigen mächtigen Wirtschaftsakteuren“ dient (S. 28).

Der 1946 geborene Raymond Geuss, der in einer katholischen Stahlwerker-Familie aufwuchs, erzählt in seinem Buch anschaulich von persönlichen Begegnungen und philosophischen Prägungen während seiner Schulzeit, die er in der Nähe seiner Heimatstadt Philadelphia in einem Internat des Piaristenordens verbrachte, für das er ein Stipendium erhalten hatte. Dieses Internat wurde von ungarischen Patres geleitet, die nach dem Aufstand von 1956 in die Vereinigten Staaten geflüchtet waren und dort eine Lehranstalt betrieben, in der es unmöglich war, „auch nur eine Spur Liberalismus zu finden“ (S. 47). Hier hatte Geuss, wie er schreibt, einen nichtthomistisch-dogmatisch, sondern eher existenzialistisch orientierten Katholizismus erlebt, der zwar dezidiert nichtliberal, aber keineswegs autoritär war. Geuss bestimmt diesen Katholizismus als historisch und theoretisch verdichtete ideologische Formation einer kulturellen Untergruppe, die ihren Mitgliedern „einen kognitiven Vorteil“ (S. 15) bietet. Denn er habe es ermöglicht, sich vom Konformitätsdruck der herrschenden Mehrheitsgesellschaft zu emanzipieren; und dies gelte auch dann, „wenn die Ideologie der betreffenden Untergruppe für sich betrachtet nichts ist, was man nach reiflicher Überlegung annehmen wollen würde“ (S. 15).

Der skeptische Atheist Geuss („Weder das Schicksal noch Gott existieren […], und eine Teleologie ist nirgendwo in Sicht“, S. 36) berichtet vor allem vom Religionsunterricht, den der von der Psychoanalyse beeinflusste Pater Béla Krigler erteilte. Er erzählt aber auch von seinem Schulleiter Stephen Sénje, der eigentlich Mathematik unterrichtete, sich aber für die französischen Literaten Paul Verlaine und François Villon begeisterte und bei jeder Gelegenheit seinen Wahlspruch „Aude discrepare“/„Wage es, anders zu sein“, zum Besten gab. Im Religionsunterricht begegnete Geuss der Auffassung Kriglers, dass kein menschliches Individuum „wirklich unabhängig und selbstgenügsam“ (S. 62) sei und man in der Regel nicht einmal genau wisse, was man eigentlich denke, glaube und wolle. Auch die Vernunft sei nicht einfach „absolut, vollständig selbstgenügsam und gänzlich selbstbegründend“ (S. 70). Vielmehr seien dies „Illusionen der Reinheit, der absoluten Autonomie und Selbständigkeit, die selbst unbegründet sind (und von einem religiösen Standpunkt betrachtet sündhaft, da sie Ausdruck menschlichen Stolzes sind)“ (S. 72). Nicht zuletzt hat Geuss, wie er betont, bei den emigrierten ungarischen Patres auch eine große Sympathie für menschliche Vielfalt sowie einen starken „Unwillen“ kennengelernt, „die unangefochtene Absolutheit des Ethischen zu akzeptieren“ (S. 123); eine philosophische Position, die ihm auch während seines anschließenden Studiums an der New Yorker Columbia-University begegnen sollte.

Geuss’ Erinnerungen an seinen Religionsunterricht stehen im Zentrum dieses faszinierenden Buches. Aber auch zu seiner Studienzeit ergänzt er drei knappe Skizzen, in denen es um seine Professoren, um Robert Paul Wolff, Sidney Morgenbesser und Robert Denoon Cumming geht. Bei letzterem verfasste er 1971 seine Dissertation. Alle drei seien „Kritiker des Liberalismus aus linker Perspektive“ gewesen (S. 161). Wolff etwa habe mit „The Poverty of Liberalism“ (1968, dt. 1969) schon sehr früh eine Kritik an Rawls’ Vorarbeiten zur „Theory of Justice“ vorgelegt, die ihm als Versuch galten, massive soziale Ungleichheiten nicht etwa zu skandalisieren, sondern auf trickreiche Weise liberal zu rechtfertigen. Wolff habe ihm gewissermaßen eine „Schutzimpfung gegen Rawls“ (S. 228) verpasst. Der ruhige und zurückgezogene Cumming habe mit „Human Nature and History“ ein allzu voluminöses Gelehrtenwerk verfasst, das in den Regalen verstaube, ihn aber gegen Mill „geimpft“ habe. Und der extrovertierte Morgenbesser habe sich gerne lustig gemacht über die damaligen Oxforder Moralphilosophen, die glaubten, „dass jeder mit einer angeborenen Kenntnis der Cricket-Regeln auf die Welt käme“ – und wenn sie dann auf Menschen trafen, die derartige Fairplay-Regeln nicht kannten und befolgten, hätten sie ihre Auffassungen keineswegs geändert, sondern „einfach den Rest der Welt als unzurechnungsfähig“ (S. 192) abgeschrieben.

All diese Begegnungen zwischen kirchlichem Internat und säkularer Universität haben Geuss zu der Einsicht geführt, nicht wie ein Liberaler denken und empfinden zu wollen. Heute ist er mehr denn je davon überzeugt, dass man sich vom Liberalismus verabschieden müsse. Er sei „für das menschliche Wohl bestenfalls irrelevant und schlimmstenfalls aktiv schädlich“ (S. 236). So sei im Blick auf Banken- und Finanzmarktkrisen zu fragen, ob uns der Liberalismus nicht „auf die schwächste Regulierung für die Industrie der Finanzdienstleister und auf die Respektierung aller existierenden Eigentumsformen und Anspruchsformen verpflichtet“ (S. 237). Und mit Blick auf die Klimakatastrophe, deren Bekämpfung „erhebliche Zwangsmaßnahmen gegen die Akteure und tonangebenden Institutionen unseres gegenwärtigen Wirtschaftssystems“ erfordere, falle dem Liberalismus nichts anderes ein, als „auf die Unantastbarkeit des individuellen Geschmacks und der individuellen Meinung“ zu verweisen und darauf zu pochen, dass „ein Höchstmaß an ungehinderter Wahl zu schützen“ sei (S. 73).

So zutreffend dieses Urteil sein dürfte; es bleibt die drängende Frage: Wer kann und darf die „erheblichen Zwangsmaßnahmen“ festlegen und durchsetzen, wenn nicht zu erwarten ist, dass sie sich durch freie Diskussion und bewusste Zustimmung legitimieren lassen? Steht als Alternative zum Liberalismus nichts anderes zur Verfügung als ein brachialer Weltrettungsautoritarismus, vor dem uns nicht ohne Gründe gruselt? Oder könnte es Verfahrensweisen einer leistungsfähigen Demokratie geben, die sich von der Hegemonie des Liberalismus befreit, ohne den Anspruch auf öffentliche Beratung und Beschlussfassung über die Regelung der gemeinsamen Angelegenheiten aufkündigen zu müssen? Wie auch immer: Raymond Geuss hat ein philosophisches Lesebuch im besten Sinne des Wortes vorgelegt, ein echter Lesegenuss – und für stramme Liberale eine nachdrückliche, aber niemals penetrante Einladung zu einem „Aude discrepare“/„Wage es, anders zu sein“.