Die Schrift Dirk Oschmanns ist ebenso ein Politikum wie die Katja Hoyers („Diesseits der Mauer. Eine neue Geschichte der DDR“ 1949–1990, Hamburg 2023). Die Werke fallen ähnlich und doch höchst unterschiedlich aus. Ähnlich deshalb, weil der Tenor in eine spezifische Richtung zielt: Der Text wirbt jeweils um Verständnis für die Menschen im Osten des vereinigten Landes. Unterschiedlich deshalb, weil Hoyer ihre Sicht auf den damaligen Alltag richtet, während Oschmann die Zeit nach der Einheit in den kritischen Blick nimmt.

Der Verfasser, Jahrgang 1967, gebürtiger Thüringer, der seit 2011 an der Universität Leipzig Neuere deutsche Literatur lehrt, hatte am 4. Februar 2022 in der FAZ unter dem Titel „Wie sich der Westen den Osten erfindet“ einen Gastbeitrag zur Diskursmacht des Westens veröffentlicht. Da dieser hohe Wellen schlug (in einem Kapitel, S. 139–154, setzt sich der Autor mit den Reaktionen auseinander), entstand daraus nun eine Schrift: Oschmann artikuliert in neun Kapiteln sein Unbehagen über die anhaltende Hegemonie des Westens auf den unterschiedlichsten Feldern, der Justiz, den Medien, dem Militär, der Wirtschaft, der Wissenschaft. West-Professoren hätten den eigenen Nachwuchs mitgebracht und somit jungen Ostdeutschen den Qualifikationsweg in die Wissenschaft verbaut: „Auch 30 Jahre nach dem Mauerfall hat sich an dieser Situation nichts geändert, denn bekanntlich rekrutieren Eliten in Form eines strukturellen Nepotismus ihren Nachwuchs aus den eigenen Netzwerken“ (S. 68). Diese These stimmt in ihrer Pauschalität jedenfalls für das Fach Politikwissenschaft ganz und gar nicht, wie dies u. a. Ireneusz Pawel Karolewski, Astrid Lorenz, Solveig Richter vom Institut für Politikwissenschaft an der Universität Leipzig bestätigen können. Regionale Herkunft spielt bei der Berufung eine deutlich geringere Rolle als Leistung, das politische Selbstverständnis oder das Geschlecht.

Oschmanns Klagelied wettert gegen die vielfältige Vernachlässigung des Ostens. Der Westen gelte als Maßstab, der Osten als Abweichung davon. Da ist Wahres dran: Zum einen war dies berechtigt, jedenfalls anfangs, zum anderen, in späterer Zeit, nicht mehr. Die Kernthese ist unhaltbar: „Wenn in Deutschland über ‚Westen‘ und ‚Osten‘ nicht grundlegend anders geredet wird, vor allem aber wenn die seit über 30 Jahren bestehenden systematischen Ächtungen und radikalen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Benachteiligungen des Ostens nicht aufhören, hat dieses Land keine Aussicht auf längerfristige gesellschaftliche Stabilität“ (S. 12). Für Oschmann läuft Kritik an dem Westen auf kein Plädoyer für den Osten hinaus. In der Tat gilt die DDR ohne Wenn und Aber als „ein Unrechtsstaat“ (S. 143, S. 176), der keine Träne nachgeweint wird. Der Autor vermisst vielmehr eine neue gemeinsame Verfassung und eine neue gemeinsame Hymne, „statt die von den ersten Strophen chauvinistisch verseuchte beizubehalten“ (S. 52). Oschmann, seit 1990 ein bekennender Wähler der Grünen, „obwohl sie gegen die Wiedervereinigung waren, was ich ihnen bis heute übelnehme“ (S. 43), erwähnt eine Reihe von Beispielen aus dem eigenen Leben, um seine Sichtweise zu untermauern.

In einem Fall ist Widerspruch wahrlich nicht angesagt: Hatte Oschmann in der DDR die Überprüfung auf ideologische Zuverlässigkeit gestört, regen ihn heute Fragen zur Diversität bei Stellenbesetzungen auf. „Es ist nichts weiter als ein leeres Ritual moralischer Selbstermächtigung, mit dem sich die jeweils eingesetzte Kommission ein gutes Gefühl gibt und mit dem sich die Institutionen den Anschein ethischer Avanciertheit, Reflektiertheit und Höherwertigkeit zu geben bemühen“ (S. 175). Relativiert dieser Aspekt seine Kernthese von der Schieflage zuungunsten der neuen Länder leicht, gilt das erst recht für die von ihm angeführten historischen Beispiele: Der Osten firmierte schon im 19. Jahrhundert als rückständiges Gebiet. Gustav Freytags Roman „Soll und Haben“ wird ausführlich als Beleg für derartige Stereotype angeführt. Und erst recht schwächt Oschmann die Triftigkeit seiner Argumentation durch Hinweise auf andere europäische Länder, in denen der Osten oft als provinziell gilt.

Die Schrift, die maßlos übertreibt, und im Grunde weiß dies der Autor, der zu provozieren sucht, ist nicht frei von Wiederholungen, sodass sich manches im Kreise dreht. Vielleicht wäre es deswegen besser gewesen, mehr Lösungsmöglichkeiten für die wahrgenommenen Defizite zur Sprache zu bringen. So wirkt die Argumentation etwas fatalistisch. Der Schluss trifft ins Schwarze: „Man könnte überhaupt aufhören, das unfaire und idiotisch binäre West-Ost-Schema zu bedienen, das ich hier zwangsweise selbst noch einmal vorgeführt habe, und stattdessen das ganze Land im historisch gewachsenen Reichtum seiner unterschiedlichen Regionen, Dialekte und Kulturlandschaften sehen und zugleich als eigentliches Zukunftspotenzial ernst zu nehmen beginnen“ (S. 200). Eben! Niemand hat Oschmann gezwungen, „das unfaire und idiotisch binäre West-Ost-Schema zu bedienen“.

Die immense Wirkung der flüssig verfassten Schrift – sie stand wochenlang an Nr. 1 der „Spiegel“-Bestsellerliste, auch Hoyers Werk, das abgeklärter argumentiert, hielt sich längere Zeit auf dieser Liste – ist kein Indiz für ihre Wissenschaftlichkeit, aber eines für das Rumoren in Teilen Ostdeutschlands, mehr als eine Generation nach der deutschen Einheit. Die mit eingängigen Beispielen anschaulich ausgestattete Publikation kommt einem Stich ins Wespennest gleich. Dass der Großessay zu solch einem Erfolg avancierte, muss zunächst einmal verwundern. Neues wird im Kern nicht geboten, wie Oschmann selber betont. Die lebendige und persönliche Art der Präsentation reizt, selbst wenn sie in ihrem Schwarz-Weiß-Denken mitunter reichlich plakativ anmutet. Der Autor, der den homogenen Osten als eine westdeutsche Erfindung betrachtet, muss seinerseits den Vorwurf hinnehmen, „den“ Westen als eine ostdeutsche Erfindung anzusehen. Vielleicht erklärt sich das große Interesse des (Ost‑)Publikums mit dem dortigen Eindruck, hier werde westlicher Deutungshoheit Einhalt geboten.

Die polarisierende Schrift ist keine politikwissenschaftliche, und doch ist sie politikwissenschaftlich aufschlussreich. Denn sie belegt: Offenbar fühlt sich mancher „Ossi“ noch immer fremd im eigenen Land – die politische Kultur in Ost und West weicht bekanntlich nach wie vor voneinander ab. Wenn Menschen 40 Jahre lang in zwei politisch, gesellschaftlich, ökonomisch und kulturell unterschiedlichen Systemen gelebt haben, kann dies wohl nicht anders sein. Vielleicht ähneln die Ursachen der AfD-Erfolge in den neuen Bundesländern denen für die große Resonanz der Bücher Hoyers und Oschmanns.