Das „Handbook of Migration and Global Justice“, herausgegeben von Lianne Weber und Claudia Tazreiter, umfasst 18 Einzelbeiträge in einem umfangreichen Sammelband, welcher aktuelle Diskussionen um Migration und globale Gerechtigkeit aufgreift. Besonders werden Fragen von der Relevanz von Nationalstaaten, die Auswirkungen der Coronapandemie und die Zunahme globaler Fluchtbewegungen diskutiert.

Bereits in der Einleitung halten die Herausgeberinnen Lianne Weber und Claudia Tazreiter fest, dass die Frage nach nationalen und internationalen Interessen in der (fehlenden) Steuerbarkeit von Migrationsbewegungen die zentrale Spannung der Auseinandersetzungen des Buches darstellt: „While international law (particularly Human Rights), and so many other regulatory systems, operate with the human as the core concern, the nation-state system continues to prioritize members/citizens“ (S. 1). Diese Spannung hat zur Folge, dass Migrant*innen im nationalstaatlichen Kontext Rechte und Schutz verwehrt bleiben, obwohl sie zeitgleich einen wichtigen ökonomischen Beitrag als günstige Arbeitskräfte leisten. Wie die Autorinnen hervorheben: „Herein lies the central conundrum of contemporary societies under the condition of neoliberal globalization in welcoming the economic contributions migrants make without granting them attendant rights and protections“ (S. 2).

Um diese Spannung herauszuarbeiten, ist das umfangreiche Handbuch in vier Unterabschnitte eingeteilt. In allen Abschnitten findet sich eine Mischung aus empirischen Fallstudien, theoretischen Abhandlungen und methodisch innovativen Beiträgen wie die Evaluation von Twitter-Updates aus dem Geflüchtetenlager auf Manus Island oder der Erfahrungsbericht einer Advocacy-Gruppe aus Australien.

Teil 1 „Migrant Workers as Global Labour“ beginnen Sandro Mezzadra und Brett Neilson mit ihrem Beitrag zu „The geopolitics of labour“ (Kap. 2). Die Autoren heben hervor, dass die nationalstaatliche Kontrolle von Migrationsbewegungen einen maßgeblichen Einfluss auf die geopolitische Verteilung von Arbeitskräften hat. Im Zuge der Coronapandemie und der hiermit zusammenhängenden Grenzschließungen und Kontrollen hat dies zu einer erheblichen Renationalisierung geführt (S. 19). In seiner Fallstudie zu südostasiatischer Migration nach Malaysia in Kap. 3 bietet Immanuel Ness eine empirische Ausführung der zuvor angeführten konzeptionellen Überlegungen von Mezzadra und Neilson. Der Autor hebt hier die prekäre Situation von Migrant*innen in Malaysia hervor, die überwältigende 40 Prozent der malaysischen Arbeiterschaft ausmachen (S. 45). In Kap. 4 führt Maggy Lee aus, wie migrantische Arbeiter*innen im Care-Sektor während der Pandemie eine „Krise innerhalb der Krise“ (S. 59) erlebt haben, da sie sowohl strukturell als auch in ihrer alltäglichen Arbeit Unsicherheit über ihren Aufenthaltsstatus und Angst um ihre Gesundheit ausgesetzt waren. Zu diesen multiplen Krisen trug aus Maggy Lees Sicht bei, dass die Pandemie nicht nur die materiellen, sondern auch die „konzeptionellen Grenzen“ erhärtet hat, da sich rassistische Diskriminierung und nationalistische Tendenzen in dieser Zeit vermehrt haben (S. 51). Abschließend präsentieren die Autor*innen Romina Ramos-Rodrígues, Roberto Dufraix-Tapia und José A. Brandariz in Kap. 5 eine Fallstudie zu migrantischen Arbeitskräften in Nordchile. Die dortige Situation steht exemplarisch für den „migration-security-nexus“ (S. 67), der die gezielte Verfolgung von Migrant*innen als sicherheitspolitische Notwendigkeit rechtfertigt.

Teil 2 des Buches „Failures in Refugee Protection“ beginnt mit einem Beitrag von Sieglinde Rosenberger und Theresa Schütze zu Sozialleistungen für Migrant*innen ohne internationalen Schutz (Kap. 6). Die Autorinnen führen theoretische Überlegungen zum „universal-national paradox“ (S. 95) aus und fragen, inwiefern Sozialleistungen auch außerhalb nationalstaatlicher Strukturen gewährleistet werden können und sollten. Im darauffolgenden Beitrag (Kap. 7) führen Vasileia Digidiki und Jacqueline Bhabha aus, unter welchen verabscheuenswürdigen Bedingungen geflohene Kinder an US-Grenzen festgehalten werden. Die Autorinnen zeigen auf, dass der Umgang mit „non-citizen migrant children“ (S. 101) gegen sämtliche UN-Kinder- und Menschenrechtskonventionen verstößt und resümieren pointiert: „It is hard to imagine a clearer example of global injustice in action“ (S. 113). Kap. 8 von Omid Tofighian mit Behrouz Boochani präsentiert ein „narrative of resistance“ von Behrouz Boochani, eines zuvor von der australischen Regierung auf Manus Island internierten Migranten, anhand seiner aus Manus abgesetzten Tweets zu Selbstmorden in den Internierungscamps. In Kap. 9 befasst sich die Theoretikerin Marina Gržinić mit dem europäischen Umgang mit Geflüchteten, den sie nach Agamben als Nekropolitik einordnet. Zum Abschluss dieses Abschnitts präsentiert Amarela Varela Huerta in Kap. 10 eine Fallstudie zu zentralamerikanischen Migrantinnen, deren vermehrte Migration sie als Flucht vor drohendem Femizid einordnet.

Teil 3 „Non-citizens, rights, and belonging“ beginnt in Kap. 11 mit einer Fallstudie von Rimple Mehta zu Migrant*innen an der Grenze zwischen Indien und Bangladesch. Beide Staaten wehren Migrant*innen ohne Ausweisdokumente zum Teil ab, was zu absurden Situationen führt, in denen Menschen längerfristig im Niemandsland der Grenzregion ausharren, weil keiner der Staaten sie als Bürger*in anerkennt. Häufig werden diese Menschen im Anschluss langfristig staatenlos. Kap. 12 präsentiert eine beeindruckende Fallstudie von Peter Kivisto zur kleinen Stadt Postville in Iowa, deren Schicksal symbolisch für die globalen Migrationsbewegungen der letzten vier Dekaden steht. In Kap. 13 befassen sich Rachel Sharples und Linda Briskman kritisch mit der Entstehungsgeschichte der australischen Staatsbürgerschaft, die aus Sicht der Autorinnen rassifiziert ist. Lisa M. Simeone und Nicola Piper befassen sich in Kap. 14 mit dem globalen Phänomen von widersprüchlichen pandemiepolitischen Maßnahmen gegenüber migrantischen Arbeitskräften.

Teil 4 „Achieving Global Justice In/Through Migration“ beginnt mit einem Beitrag von David Owen (Kap. 15), welcher verschiedene theoretische Argumente zur Steuerung globaler Migration mit dem Anspruch globaler Gerechtigkeit miteinander vergleicht. Eindrucksvoll zeigt David Owen beispielsweise auf, dass auf dem afrikanischen Kontinent 25 Prozent aller Menschen mit Bedarf nach medizinischer Versorgung leben, allerdings nur 2 Prozent der weltweit verfügbaren Ärzt*innen. In diesem Kontext stellt sich die Frage, inwiefern die Migration von Ärzt*innen aus Afrika in Länder des globalen Nordens gefördert werden sollte (S. 245). In Kap. 16 befassen sich Syd Bolton und Catriona Jarvis mit dem „Last Rights Project“, welches es sich zum Ziel gesetzt hat, die Identität von auf der Flucht verstorbenen Migrant*innen aufzuklären. Kap. 17 enthält einen Erfahrungsbericht von den in der australischen Geflüchtetenhilfe engagierten Caroline Fleay, Mary Anne Kenny, Atefeh Andaveh, Salem Askari, Rohullah Hassani, Kate Leaney und Teresa Lee. Abschließend führen Nancy A. Wonders und Lynn C. Jones in Kap. 18 Überlegungen an, wie globale Ungleichheiten mit migrationspolitischem Aktivismus bekämpft werden können.

Grundsätzlich hält der Sammelband den versprochenen Handbuchcharakter ein und bietet vielfältige empirische Abhandlungen zur zentralen Thematik, welche größtenteils sehr geeignete Lektüre für Lehre in der Migrationspolitik oder -soziologie darstellen. Das Handbuch überrascht mit den für die Fallstudien gewählten geografischen Schwerpunkten. Süd- und Mittelamerika (zwei Beiträge), die USA (zwei Beiträge), Australien (drei Beiträge), Indien/Bangladesch (ein Beitrag), Malaysia (ein Beitrag) und Europa (ein Beitrag, wobei mehr theoretischer Natur) kommen hier vor, aber kein einziger Beitrag befasst sich inhaltlich mit dem afrikanischen Kontinent, wo laut UNHCR (Hoher Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen) immerhin 30 Prozent aller Menschen, die sich auf der Flucht befinden, leben. Auch befasst sich kein Beitrag mit Kanada, welches sich als globaler Vorreiter in seinem Umgang mit humanitärer Migration gibt – eine kritische Abhandlung hierzu wäre bereichernd gewesen. Die konzeptionellen und theoretischen Beiträge sind größtenteils sehr anspruchsvoll und haben eher keinen Einführungscharakter. Vielmehr verhaken sie sich wiederholt in widersprüchlichen Überlegungen zur Relevanz des Nationalstaats, der in der Einleitung und in manchen theoretischen Beiträgen als vergangenes Phänomen, in anderen wiederum als zentrale steuernde Gewalt gegenüber Migrant*innen porträtiert wird. Die Nationalstaaten übergehende Perspektive kontrastiert mit den Fallstudien, die die fortwährende Relevanz nationalstaatlicher Intervention in Migrationsbewegungen besonders hervorheben. In ihrer Überzeugung, dass nationalstaatliche Interessen in der globalen Migrationspolitik eine untergeordnete Rolle spielen, laufen die Herausgeberinnen Gefahr, das Kind mit dem Badewasser auszukippen.