Was ist die kollektive deutsche Identität? Braucht eine zunehmend diversere Einwanderungsgesellschaft so etwas wie eine gemeinsame Leitkultur? Wie stark sollten die Idee des Verfassungspatriotismus und die Erinnerung an den Nationalsozialismus das Handeln staatlicher Akteure prägen? Alle diese Fragen sind in der politischen Landschaft Deutschlands seit geraumer Zeit virulent, wie der Historikerstreit in den 1980er-Jahren und die Leitkulturdebatte in den 1990er-Jahren verdeutlichen. Durch das historische Erbe von Nationalsozialismus und Faschismus nimmt das Nachkriegsdeutschland hinsichtlich der Frage der kollektiven Identität, ihrer moralischen Grundlagen und historischen Bezugspunkte seit jeher eine Sonderrolle ein. Spätestens mit den Ereignissen im Jahr 2015 und der großen Zahl ankommender Geflüchteter sind diese Fragen allerdings wieder zu einem zentralen politischen Konfliktthema geworden, das nicht nur das Erstarken des Rechtspopulismus, sondern auch einen Anstieg politischer Polarisierung sowie politisch-motivierter Gewalt verursachte.

Der Politikwissenschaftler Paul Carls beschreibt diese Gemengelage als Ausgangspunkt seiner Studie über die Konflikte zentraler moralischer Ideen in Deutschland zwischen dem Ideal des Multikulturalismus einerseits sowie ethnokultureller Identitätswahrung und Entfremdungsängsten andererseits. Damit beansprucht Carls, von Deutschland ausgehend „a deeper look into the moral psyche of Western Civilization as a whole“ (S. 3) zu ermöglichen. Dass sich dieser Anspruch des Buches durch den gleichzeitig mehrfach vorgenommenen Verweis auf die Einzigartigkeit des deutschen Falls durch die bis heute fortdauernde Bedeutung des Holocaust relativiert (insb. S. 3 und S. 158), sei an dieser Stelle bereits als kritische Nebenbemerkung eingeschoben. Die Strukturierung des Buches folgt dabei der Logik der von Carls ausgemachten wichtigsten sich gegenüberstehenden moralischen Ideen: Nachdem in einer, gemessen an der Komplexität und Bedeutung der Begrifflichkeiten, doch eher kurzen Einführung in das Konzept moralischer Fakten nach Durkheim (Kapitel 1) zunächst eine Übersicht über die wichtigsten Etappen und Konflikte der deutschen Nachkriegsgeschichte dargelegt wurde (Kapitel 2), folgen je vier Kapitel zum moralischen Ideal des Multikulturalismus (Kapitel 3 bis 6) und zum moralischen Ideal der Nation (Kapitel 7 bis 10). Sowohl der Multikulturalismus als auch die Nation werden dabei in zwei Spielarten ausdifferenziert: ein dekonstruktiver Multikulturalismus als radikales Ideal der Nicht-Beherrschung sowie ein liberaler Multikulturalismus in Form des Verfassungspatriotismus auf der einen Seite, ein ethnokulturelles und ein biologistisches Nationsverständnis auf der anderen Seite.

Basierend auf einem strukturalistischen Ansatz nach Durkheim fungiert dabei das Konzept des „moral fact“ (S. 13) als zentrale Erklärungskategorie. Das Ideal des Verfassungspatriotismus und die Idee der Nation sind nach Carls solche moralischen Fakten, die sich in einer demokratischen Gesellschaft idealtypisch gegenüberstehen und für sich je eigene moralische Autoritäten erzeugen: „Morality is thus a socially determined system of rules and values that guide individual behaviour and that a moral authority legitimates“ (S. 13). Diese moralische Autorität komme dann als „idea of the sacred“ (S. 13), als absolute Transzendierung und Überhöhung einer heiliggesetzten Idee zum Ausdruck. Die zentrale These des Buches lautet schließlich: Die (moralisch notwendige) Verteidigung dieser Ideen und die Beanspruchung deren politischer Deutungshoheit sind der Grund für die Virulenz politischer Konflikte, für die Ritualisierung kollektiver Gewalt, für die symbolische Überhöhung einzelner Personen oder Ereignisse: „What ties these moral facts together is that their advocates all seek to work through (or against) the same state institutions in pursuit of the realization of their moral ideal“ (S. 157).

Der Blick in die Nachkriegsgeschichte Deutschlands zeige, so Carls, die gleichzeitige Dauerhaftigkeit und Wandelbarkeit solcher moralischen Fakten. Bereits das 1949 verabschiedete Grundgesetz und dessen Verweis auf die unantastbare Menschenwürde in Artikel 1 deutet Carls als Zeichen für die Sakralisierung der individuellen Person, denn „human dignity thereby becomes a pure sacred and a moral authority that legitimates a moral order, constituting a version of the cult of the individual“ (S. 29). Daraus seien schließlich nicht nur die Ideen einer wehrhaften Demokratie entstanden, sondern auch die Ablehnung starker ethnokultureller Kontinuitäten. Aber die Leitkulturdebatte und insbesondere deren kulturalistisches und bisweilen biologistisches Begriffsverständnis verdeutlichen im Umkehrschluss auch die Gegenposition in Form von Ablehnung multikultureller Ideen und das Streben nach Bewahrung der deutschen Nation. So postuliert Carls die Kontinuität zentraler politischer Narrative zwischen Multikulturalismus und Nationsgedanken von der Gründung der Nachkriegs-BRD bis zur Migrationskrise 2015, welche „thus situated actors within stories of good and evil, fighting for or against fascism, communism, or democracy“ (S. 46).

Die überaus dichte und informative Beschreibung – stellenweise kommt die Erklärung leider etwas kurz – entlang Carls’ Argumentation in den weiteren Kapiteln kann hier nicht im Einzelnen nacherzählt werden. Exemplarisch sollen allerdings das fünfte und zehnte Kapitel erwähnt werden, wo jeweils das moralische Ideal aufseiten der Autonomen und neurechter Gruppierungen sowie daraus abgeleitete rituelle und kollektive Verhaltensweisen der Gewalt beschrieben werden. Hier zeigt sich auch, wie das „pure sacred“ der einen Gruppe gleichzeitig das „impure sacred“ der anderen Gruppe konstituiert: „this mutual sacrileg is at the center of the conflict between the opposing groups“ (S. 157). Ein antiautoritäres Ideal der Nicht-Beherrschung, verbunden mit einem daraus abgeleiteten Gebot des Antifaschismus, stellen einen moralischen Fakt der autonomen Bewegung dar, aus dem sich die Gewalt gegen jene Akteure, die dieses Ideal gefährden, legitimiert. Gleiches gilt auch für Akteure wie die rechte Gruppe Freital, die wiederum ihr moralisches Ideal, die Bewahrung der deutschen Nation, gefährdet sehen und daraus ihre Handlungslegitimation ableiten. Demzufolge wird hier bisweilen ein fast schon religiös aufgeladener Gut-gegen-Böse-Konflikt beschrieben, deren Ausgangspunkt ein je eigenes moralisches Ideal ist, „that structures the bounds of what is morally appropriate in terms of what should be thought, said, or acted“ (S. 160).

Die Studie liefert wichtige Erkenntnisgewinne für all jene, die die politischen Ereignisse im Deutschland der jüngeren Vergangenheit in den umfassenderen Kontext zentraler Fragen nationaler Identität und (partei-)politischer Konfliktlinien einordnen wollen. Beispielhaft kann hier das Netzwerkdurchsuchungsgesetz von 2017 genannt werden, das Carls in Kapitel 4 als Sinnbild der „German tradition of militant democracy“ (S. 62) beschreibt: Ein starker Staat soll auch im Internet in der Lage sein, Minderheiten vor Diskriminierung zu schützen und die heilig gesetzte Idee einer unantastbaren Menschenwürde zu garantieren.

Allerdings bleiben insbesondere aus demokratietheoretischer Perspektive doch einige Fragen offen: Was bedeutet es für eine demokratische Gesellschaft, wenn politische Streitfragen so moralisch aufgeladen sind, dass jede Seite sich verpflichtet und legitimiert fühlt, ihr Gegenüber notfalls mit Gewalt zu bekämpfen? Gedanken zur Lösung dieser Konflikte bleibt der Autor schuldig, was insbesondere deswegen erstaunlich ist, weil die Gleichzeitigkeit widersprüchlicher Wertepaare wie Universalismus und Partikularismus oder Freiheit und Gleichheit in der Geschichte der Demokratie an sich nichts Neues ist. Auch fehlt an einigen Stellen der Bezug zu wichtiger Fachliteratur, so wird beispielsweise das Ideal der Nicht-Beherrschung eingeführt, ohne auf Philip Pettits entsprechenden Freiheitsbegriff zu rekurrieren. Die Verweise auf den Identitätsdiskurs bleiben an einigen Stellen ebenfalls dünn, so hätte man zum Beispiel erwähnen können, dass die zwangsläufige Gleichzeitigkeit von Gut und Böse dem relationalen Charakter des Identitätsbegriffes entspricht (kollektive Identitäten entstehen durch Abgrenzung). Am Ende bleibt der von Carls beschworene analytische Mehrwert einer solchen Konfliktbeschreibung durch die begriffliche Brille des französischen Soziologen Émile Durkheim also zumindest aus demokratietheoretischer Sicht doch etwas fraglich.