Wolloch, Nathaniel (2022): Moderate and Radical Liberalism: The Enlightenment Sources of Liberal Thought. Leiden: Brill. 982 Seiten. £ 167.00

Loughlin, Felicity, und Alexandre Johnston (Hrsg.) (2020): Antiquity and Enlightenment Culture. New Approaches and Perspectives. Leiden: Brill. 247 Seiten. $ 127.00

Weltman-Aron, Brigitte, Ourida Mostefai, und Peter Westmoreland (Hrsg.) (2020): Silence, Implicite Et Non-Dit Chez Rousseau/Silence, the Implicit and the Unspoken in Rousseau. Leiden: Brill. 206 Seiten. $ 119.00

Die Aufklärungsforschung ist seit dem frühen 20. Jahrhundert zu einer Art Selbstvergewisserung der Moderne geworden. Bereits Peter Gays „The Enlightenment. An Interpretation“, neben Ernst Cassirers „Die Philosophie der Aufklärung“ das einflussreichste Werk über die Aufklärung im 20. Jahrhunderts, war darauf gerichtet, die Philosophen nicht nur als Wegbereiter der Französischen und auch Amerikanischen Revolution, sondern der gesamten westlichen Moderne herauszustellen. Seine Arbeit muss freilich im Kontext des Kalten Krieges gelesen werden. Von Beginn seiner Karriere an begann er, die Aufklärung vor Kritikern wie Jacob Talmon und anderen Konservativen zu schützen. Wie Alfred Cobban in seinem Buch „In search of humanity: the role of the Enlightenment in modern history“, versuchte Gay die Legende, dass die Aufklärung für den Terror der Revolution stehe, zu widerlegen. Dabei schuf er eine neue Erzählung: Für Gay hatten die Aufklärer die liberalen Werte und rechtsstaatlichen Institutionen geradezu erfunden, die die westlichen Demokratien so sehr von den entmenschlichenden und illiberalen Regimen Hitlers und Stalins unterschieden. Seine bahnbrechende Arbeit beschrieb die Aufklärer denn auch vereint in einem ehrgeizigen Programm, das nicht nur für Säkularismus, Humanität und Kosmopolitismus stand, sondern für die Freiheit in ihren vielen Facetten. Aufgeklärte Politik war für Gay im Wesentlichen eine liberale Politik, also etwas, was man mit den politischen Forderungen des 20. Jahrhunderts gut verbinden konnte.

Nathaniel Wolloch scheint sich mit seiner Monografie „Moderate and Radical Liberalism: The Enlightenment Sources of Liberal Thought“, dieser These, nämlich dass der Liberalismus ein Kind der Aufklärung, ja, wie er es ausdrückt, der Liberalismus als „Synonym für Aufklärung“ (S. 80) stehe, anzuschließen. Das Problem dieser These ist, dass sie, wie schon Gay vorgeworfen wurde, nicht auf alle Aufklärer zutrifft. Die meisten Aufklärer, vor allem aber so namhafte wie Voltaire oder Montesquieu waren überhaupt nicht liberal gesinnt. In ihrer Verteidigung der Monarchie wird deutlich, dass sie die Ausübung staatlicher Souveränität mit verschiedenen Ständen und untergeordneten intermediären Institutionen verbanden, die kaum zu einem egalitären Rechtsstaat passten. Zugestanden, Wolloch geht nicht den gleichen Weg wie Gay. Dessen Versuch war es, die Aufklärer als Vorreiter der modernen Demokratie darzustellen. Die Amerikanische Revolution wurde in seiner Darstellung zum krönenden Finale der Aufklärungsbewegung. Wolloch versucht dagegen, eine Geistesgeschichte der Aufklärung zu erzählen, die das vorrevolutionäre Denken und das Erbe der Revolutionen, vor allem in Frankreich und Amerika, zu einer liberalen Tradition erklärt, wie sie im 19. Jahrhundert fortgeführt wurde. Sein Fokus liegt dementsprechend auf einem Zeitraum, der von Mitte des 18. Jahrhunderts bis Mitte des 19. Jahrhunderts reicht und so zentrale Figuren wie Jean-Jacques Rousseau, Adam Smith, Edmund Burke, Johann Gottlieb Fichte, Alexis de Tocqueville oder John Stuart Mill umfasst. Die Hinwendung auf die Aufklärung des 19. Jahrhunderts führt Wolloch dazu, Kontinuitäten, wie er es nennt, im postrevolutionären Frankreich, sowie in Großbritannien und den USA nachzuzeichnen, so „that there is no other way to explain and understand liberalism but as a continuation of the Enlightenment“ (S. 29). Denn Aufklärung und Liberalismus bedeuten für Wolloch Demokratie, religiöse Toleranz, Abschaffung der Sklaverei, Kampf um Frauenrechte, Beseitigung wirtschaftlicher Ungleichheit etc. Das führt u. a. dazu, dass die Demokratie bejahende Liberale wie Tocqueville und Mill zu Aufklärern erklärt werden, auch wenn sie selbst eher ein sehr gespaltenes Verhältnis zur Aufklärung und ihrem Vermächtnis hatten.

Wie Gays Werk gewinnt die Arbeit Wollochs ihren großen Reiz durch die leidenschaftliche Verteidigung der Aufklärung. Der Autor zeigt sich besonders kritisch gegenüber der wachsenden Tendenz, die Gültigkeit der Ideale der Aufklärung zu bestreiten und die intellektuellen Grundlagen der Moderne eher in ein negatives Licht zu setzen. Gleichzeitig zielt sein Werk darauf ab, die Aufklärung vor ihrer Relativierung zu bewahren, zu der sie durch die Betonung der Andersartigkeit in den nationalen Kontexten in den letzten Jahrzehnten gleichsam verurteilt worden ist. Stattdessen bekräftigt Wolloch mit Nachdruck die zentrale These Cassirers wie Gays, dass nämlich die Aufklärung eine Bewegung von weltgeschichtlicher Bedeutung gewesen sei, die in den großen Revolutionen des 18. Jahrhunderts gipfelte und unsere moderne, liberal-demokratische politische Kultur nachhaltig prägte; eine These, die übrigens auch Jonathan Israel in seinen großen Bänden zur Aufklärung immer wieder verteidigt hat.

Abgesehen davon, dass man Wolloch natürlich vorwerfen kann, dass er lediglich einzelne Denker und ihre Rezeption stark macht, aber die politischen Kontexte weitgehend vernachlässigt, steht auch seine These, vom gleitenden Übergang aufklärerischen Denkens zu liberal-demokratischen Überzeugungen, auf wackeligen Füßen. Hier ist das Werk von Alan Kors „D’Holbach’s coterie: an Enlightenment in Paris“ lehrreich. Dieser zeigt mit seiner Studie, dass die meisten Mitglieder der Pariser Salons selbst nach 1789 gegen die Französische Revolution waren. Diese Opposition wurde nicht nur ausgelöst durch die Bedrohung ihrer eigenen Lebensgrundlage, sondern auch durch ihre Angst vor der von der Revolution entfesselten politischen Eigendynamik. Was also lehrt das Werk Wollochs? In dem Streben, den Liberalismus zum Kind und Erben der Aufklärung zu deklarieren, werden einzelne Denker des 19. Jahrhunderts zu Exponenten einer einheitlichen Bewegung gemacht. Doch die Ideengeschichte macht deutlich, dass Aussagen in einem konkreten Kontext gelesen werden müssen, dass Ideen von anderen Denkern nicht in der gleichen Art und Weise verstanden und weitergegeben wurden und deshalb selbst bei nachweisbaren Rezeptionssträngen kein gleiches Grundverständnis vorausgesetzt werden kann. Ist es schon unmöglich, die Genese der Amerikanischen und Französischen Revolution in den Schriften der Aufklärer des 17. und 18. Jahrhunderts zu finden, so ist es noch waghalsiger, die postrevolutionäre Entwicklung daraus abzuleiten. Was die Liberalen der ersten und zweiten Generation im frühen 19. Jahrhundert auszeichnete, um mit und gegen Wolloch zu sprechen, war allerdings, dass sie sich das Erbe der Revolution neu erarbeiteten, und zwar anhand der politischen Auseinandersetzungen ihrer Tage.

Es bleibt also die Frage der Zielrichtung von Wollochs Monografie. Auch hier ist natürlich der Kontext entscheidend. Die Wiederentdeckung und Aufarbeitung des klassischen Republikanismus durch Autoren wie Bernard Bailyn, Gordon Wood, J. G. A. Pocock und Quentin Skinner sowie die breite Debatte, die sich bis heute an ihre Arbeiten anschloss, legten nahe, dass die moderne Vorstellung von Demokratie hauptsächlich durch die republikanische Tradition geprägt wurde. Ob man jedoch den Republikanismus oder den Liberalismus zur grundlegenden Theorietradition für die moderne Demokratie erheb, hat, wie die heutigen Debatten um den modernen Demokratiebegriff zeigen, weitreichende Auswirkungen auf deren Ausdeutung. Das betont auch Wolloch, der in seiner Einleitung unterstreicht, dass seine Studie nicht nur eine historische Arbeit ist. Ob er mit der Reduzierung des modernen Demokratieverständnisses auf die liberale Theorietradition jedoch dessen Kern erfasst hat, sei dahingestellt.

Der Sammelband „Antiquity and Enlightenment Culture“ von Felicity Loughlin und Alexandre Johnston, mit insgesamt zwölf Aufsätzen, bietet einen interdisziplinären Blick auf den Stellenwert der Antike in der Kultur des 18. Jahrhunderts – und greift damit einen der zentralen Topoi der Aufklärungsforschung auf, die immer bekräftigt hat, dass die modernen Vorstellungen von Antike und Moderne im 18. Jahrhundert, vor allem mit der berühmten „Querelle des Anciens et des Modernes“, formuliert wurden. Eine Reihe französischer Intellektueller, die von den Errungenschaften ihrer Kultur und Gesellschaft überzeugt waren, argumentierten in dieser Debatte, dass die Moderne die Alten in den Künsten und Wissenschaften tatsächlich übertroffen hatte. Die Debatte breitete sich schnell in Frankreich, England und auch in anderen europäischen Ländern aus und dauerte bis in die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts. Gleichwohl gab es immer auch wieder Autoren, die behaupteten, dass die Alten in Kunst und Literatur, den schöpferischen Bereichen, immer noch unangefochten waren, während die Moderne die Alten in Philosophie und Wissenschaft nunmehr überflügelt hätte. Die Debatte änderte sich erst grundlegend, als eine Reihe von Aufklärern die Überzeugung äußerten, dass die Gesellschaften ihrer Zeit Entwicklungen durchlebten, die sich grundlegend von denen der Antike unterschieden. Das Ende blutiger Bürger- und Religionskriege, der wirtschaftliche Aufschwung, der weltweite Handel und die Fortschritte in den Wissenschaften und Künsten wurden nun als Ausdruck eines zivilisatorischen Prozesses gewertet. Das bedeutendste dieser Werke ist Marie Jean Antoine Nicolas de Condorcets „Esquisse d’un tableau historiquedes progrès de l’esprit humain“ (1794).

Der Band von Loughlin und Johnston zeigt noch eine andere Seite der Antikenrezeption. Für die gebildeten Europäer des 17. und 18. Jahrhunderts wurden die Werke griechischer und römischer Autoren zu einer Projektionsfläche, um anhand antiker Beispiele die eigene politische Realität zu beschreiben und zu kritisieren. Durch den Bezug auf die Antike gaben sie sich einen relativ gesicherten Rahmen für ihre politischen Aussagen, war das Thema, über das sie debattierten, doch historisches Allgemeinwissen. Der Band zeigt aber auch, wie sich dieser Diskurs Ende des siebzehnten Jahrhunderts mit der „Querelle des anciens et des modernes“ änderte. Betont wurden nun nicht nur die Unterschiede in Kultur und Wissenschaft, sondern es traten auch die gesellschaftlichen Unterschiede zwischen Antike und Moderne in den Vordergrund. Aus der Perspektive der Zeitgenossen waren die antiken Republiken und Königreiche keine Vorbilder mehr. Sie basierten auf Ackerbau und Sklaverei, waren geprägt von Krieg, Bürgerkrieg und Eroberung und kannten weder Rechtsstaatlichkeit noch religiöse Toleranz. Und doch bedeutete die Philosophie, die sie mit der Antike verbanden, für sie die Freiheit, sich mit den Grundlagen des Wissens, der Kultur und Gesellschaft auseinanderzusetzen und diese zu hinterfragen.

Die Antike als Referenz hatte damit etwas überaus Ambivalentes und es ist diese Perspektive, die den Sammelband lesenswert macht. Denn im Mittelpunkt steht nicht nur die Resonanz auf die Lektüre klassischer Autoren bei Gelehrten des 18. Jahrhunderts, vertreten durch den Aufsatz von Anthony Ossa-Richardson, sondern auch die Sammelleidenschaft und der Dokumentationszwang der sich auf Grand Tour begebenden „Tourists“, wie sie Thomas Hopkinson, Maeve O’Dwyer und Miriam Al Jamil beschreiben. Die Bedeutung der Antike in den Debatten über nationale Identität, thematisiert am Beispiel Schottlands, arbeiten Kelsey Jackson Williams und Alan Montgomery auf; Gleiches in Bezug auf Griechenland findet sich in dem Aufsatz von Marta Dieli. Für die politische Ideengeschichte interessant sind jedoch vor allem zwei Aufsätze: Tim Stuart-Buttle thematisiert eine neue politische Lesart der antiken Moralphilosophie in den Schriften von John Locke und David Hume, und Flora Champy untersucht die Neudeutung antiker Politik im Werk von Jean-Jacques Rousseau. Beide Aufsätze belegen eine deutliche Abgrenzung der Autoren von der Antike. So arbeitet Stuart-Buttle heraus, dass die Philosophie für Hume stets das Produkt ihrer Zeit war, und als politische Philosophie hatte sie sich auch auf ihre Zeit zu besinnen. Eine gute Illustration ist Humes Essay „On the Populousness of Ancient Nations“, der die Abgrenzung zwischen Antike und Moderne als historische Soziologie entwickelte. Humes primäres Ziel war es zu zeigen, dass die alten Nationen nicht bevölkerungsreicher und damit auch nicht prosperierender waren als die modernen, weil sie u. a. unter einem geringen Produktions- und Handelsvolumen litten. Dafür verantwortlich war aus seiner Sicht die Sklaverei, weil sie nicht für eine Bevölkerungszunahme sorgte, sondern genau das Gegenteil bewirkte, da es billiger war, in neue Sklaven zu investieren, als Kinder in einer Stadt aufzuziehen. Damit erklärte er auch, warum die überwiegende Mehrheit der antiken Sklaven „Barbaren“ waren, die aus den Peripherien der griechischen und römischen Welt kamen, und nicht vergleichbar mit den Gesellen und Handwerksmeistern des 18. Jahrhunderts. Zwar begünstige die republikanische Struktur der Stadtstaaten Freiheit und Gleichheit unter den Bürgern, ihre republikanischen Verfassungen waren aber auch anfällig für Fraktionen und Bürgerkriege.

Flora Champy, die letztes Jahr ihr erstes Buch „L’Antiquité politique de Jean-Jacques Rousseau“ veröffentlicht hat, führt in ihrem Aufsatz zwei sehr unterschiedliche Lesarten von Athen und Römischer Republik in Rousseaus Werk auf und geht dann verschiedenen Lesarten dieser Gegenüberstellung nach. So stellt sie u. a. John McCormicks Auslegung, der Rousseaus Präferenz für das sozial ungleiche römische politische System betonte, der Interpretation von Chiara Destri gegenüber, die Rousseaus egalitären Republikanismus stark gemacht hat. Es bleibt dennoch die Frage, ob Champys Deutung, dass die Antike für Rousseau ein Lackmustest für die Fehler der Moderne war, nämlich ihre Unmöglichkeit, sich selbst regieren zu können; oder vielmehr die Betonung des Anderen der Moderne bei Rousseau bedeutete, dass jede Gesellschaft ihre eigene Lösung suchen muss. Diese Antwort hätte zu mindestens auch Hume mittragen können.

Dass die Aufklärungsforschung nicht nur auf die Geschichtswissenschaften und Philosophie beschränkt werden kann, sondern tatsächlich ein interdisziplinäres Projekt geworden ist, zeigt auch der von Brigitte Weltman-Aron, Ourida Mostefai und Peter Westmoreland herausgegebene Sammelband „Silence, Implicite et Non-dit chez Rousseau/Silence, The Implicit and The Unspoken in Rousseau“. Wie im Vorwort erklärt wird, ist der Band ein Buch über Sprache, das Sprechen und die Stimme bei Rousseau, wobei die Stimme das gesprochene und gesungene Wort, aber auch die moralische Stimme des Gewissens oder die politische Stimme im Sinne des Wahlrechts meinen kann. Vor allem aber ist es ein Band über das Unsagbare und Ungesagte bei Rousseau, was ihn so interessant macht, denn entgegen vieler herkömmlicher Rousseau-Interpretationen, die den Autor oft nur allzu leichtfertig in bestimmte Schubladen einordnen oder ihm wie Ernst Cassirer („Das Problem Jean-Jacques Rousseau“, 2016) oder Iring Fetscher („Rousseaus politische Philosophie. Zur Geschichte des demokratischen Freiheitsbegriffs“, 1975), um nur zwei der im deutschsprachigen Raum immer noch prägenden Interpretationen zu nennen, trotz aller zugestandenen individuellen Zerrissenheit eine Kohärenz im Denken und Werk unterstellten, offenbart dieser Band, durch das Benennen des Schweigens oder Unausgesprochenen bei Rousseau, Widersprüche in seinem Werk und in der Forschung.

Das Thema ist freilich nicht neu. Verwiesen sei hier auf Elisabeth Marie Loevlie, die in „Literary Silences in Pascal, Rousseau, and Beckett“ (2004) über Rousseaus Schweigen, genauer gesagt über die „Rêveries du promeneur solitaire“, geschrieben hat. Sie stimmt darin mit Maurice Blanchot und Jean Paulhan überein, dass Rousseau bewusst mit der konventionellen literarischen wie wissenschaftlichen Sprache seiner Zeit spielte und sich von ihr abgrenzte, und das Implizite bzw. das Nichtgesagte in Rousseaus Denken deshalb eine besondere Rolle einnimmt. Das trifft sicher auch auf die „begriffliche Opposition“ zu, die Jacques Derrida Rousseau bereits in „De la grammatologie“ (1967) unterstellt hat. Insofern ist es ein durchaus interessanter Ansatz, bewusst von Rousseaus Sprache und Rhetorik ausgehend, sein Werk erneut zu lesen und zu deuten.

Gleich im ersten Kapitel des Bandes beschreibt Michael O’Dea die Bandbreite von Rousseaus Schweigen und Reden als Teil seines philosophischen und politischen Denkens, aber auch seiner autobiografischen Texte. Für seine pädagogischen Schriften machen dies anschließend im Band Johanna Lenne-Cornuez, Jean-Luc Guichet und Ourida Mostefai deutlich. So zeigt Lenne-Cornuez, was in der Erziehung des Kindes gesagt oder nur angedeutet werden muss, damit es für Rousseau zur Autonomie und einem selbstständigen Denken gelangen kann. Wie bei Guichet wird die Stille als Erfahrungsraum gedeutet, in dem sich das eigene Bewusstsein und Denken entfalten kann. Lenne-Cornuez und Guichet zeigen zudem, wie wichtig es für Rousseau in der Entwicklung des Kindes ist, zu einem authentischen Sprechen zu gelangen, das nur auf einer persönlichen Aneignung und dem Beherrschen von Sprache beruhen kann. Mostefai macht außerdem noch die pädagogische Dimension des Schweigens stark, das bewusst gewählt und dabei nicht nur als pädagogisches Konzept eingesetzt, sondern auch als ein Akt der Toleranz verstanden werden kann.

In der Sphäre der Politik wird Schweigen meist mit Geheimhaltung gleichgesetzt. In einem negativen Sinne steht dahinter der Verdacht der Korruption und fehlender Rechenschaftspflicht. Aus republikanischer Sicht kann sich dahinter aber auch ein Konzept von überlegenem, weil den täglichen Streitereien entzogenes, beratendes Regierungshandeln verbergen. Beide Aspekte beleuchten Flora Champy und Jason Neidleman und zeigen dabei, dass sich Rousseau bewusst von der genannten republikanischen Tradition abwendet. Masano Yamashita thematisiert dagegen die Verwendung von Metaphern, wie etwa „volonté générale“, durch die bereits existierende, aber als unpassend eingestufte Begriffe ersetzt werden. Zudem verweist er darauf, dass der „contrat social“ als Teil eines weit umfänglicheren Werkes über politische Institutionen, aus dem Rousseau ihn herausnahm, betrachtet werden muss, er also auch auf etwas deutet, was von Rousseau nicht weiter verfolgt wurde. Darauf hat jüngst auch Michael Sonenscher in „Jean-Jacques Rousseau: The Division of Labour, the Politics of the Imagination and The Concept of Federal Government“ verwiesen. Adam Schoene nähert sich Rousseaus politischer Philosophie anhand des Gedichtes „Le Lévite d’Éphraïm“ und verweist dabei sowohl auf den Verlust von Sprache angesichts erfahrener Gewalt als auch auf den emanzipatorischen Ansatz beim schweigenden Aufbau neuer sozialer Bindungen.

Auch in Rousseaus Schriften über die Künste spielt Sprechen und Schweigen eine große Rolle. Für Francesco Boccolari bewertet Rousseau die „stumme“ Malerei, die dennoch sofort „verstanden“ werden kann (S. 141), deutlich anders als die Musik, die erst in aufeinanderfolgenden Sequenzen erfasst werden muss, gleichwohl dem Zuhörer aber deutlich mehr Freiraum eröffnet, seinen eigenen Gedanken und Emotionen nachzugehen und diese zu ergründen. Diese Seite macht Nathan Martin paradoxerweise aber auch anhand der wort- und tonlosen Kunst der Pantomine in Rousseaus Werk stark. Jean-François Perrin widmet sich dem Sinnlichen und Imaginären des Träumers. Der Träumer, so Perrin, verliert nicht den Kontakt zur materiellen Welt, sondern genießt die Freude am Sein oder das stumme Bewusstsein der eigenen Existenz. Céline Spector wendet sich am Schluss des Bandes gegen eine Verurteilung Rousseaus angesichts seines angeblichen Schweigens zum Thema Sklaverei. Sie zeigt, wie Rousseau sowohl in „Julie ou la Nouvelle Héloïse“ als auch in „Emile et Sophie ou Les Solitaires“ die brutale Behandlung von Schwarzen anprangert und den Sklavenhandel verurteilt, wenn auch äußerst knapp. Und doch bleibt auch für sie die Zurückhaltung Rousseaus rätselhaft, gerade weil die Freiheit in seinem Denken eine so zentrale Rolle spielt und Unfreiheit benannt werden muss, wenn man sie beseitigen will.

Insgesamt hinterlässt der Band ein sehr ambivalentes Bild: Weder Sprechen noch Schweigen sind bei Rousseau bestimmten Themen oder Erfahrungsräumen zugeordnet, noch werden damit per se positive oder negative Bewertungen verknüpft. Und doch eröffnet der Perspektivwechsel auf das Sagbare und Ungesagte, wie er in diesem Sammelband vorgestellt wird, das Werk Rousseaus für neue Interpretationsansätze. Vor allem aber unterstreichen die Aufsätze die anhaltende Relevanz des Aufklärers für die Forschung.