In der Gegenwart ist die wissenschaftliche Debatte über die Demokratie von düsteren Szenarien geprägt, in denen man einen Niedergang der Demokratie beklagt oder gar ihr Ende prophezeit. Felix Heidenreich reiht sich mit seinem Buch in die besorgte Krisen- und Erosionsdiagnostik ein und beobachtet eine „Entfremdung“ (S. 20) der Bürgerinnen und Bürger von ihrem politischen Gemeinwesen. Dieser Entfremdung hält er die „Zumutungen“ der Demokratie entgegen. Rund um dieses Stichwort breitet er Befunde und Belehrungen der Bürgerinnen und Bürger in den westlichen Demokratien über grundlegende Missverständnisse und Fehleinschätzungen hinsichtlich ihrer politischen Selbstverständnisse, Rollenerwartungen und Aufgaben aus.

Dieser Grundmelodie folgend legt Heidenreich einen breit gefächerten Essay zu den verschiedensten Aspekten solcher Zumutungen vor. Der Text ist reichlich versehen mit theoriengeschichtlichen Referenzen, in denen Heidenreich klar und verständlich, aber oft auch unter Verzicht auf eine eigene Positionierung, die zentralen Argumentationen zu den jeweiligen Themenfeldern aufarbeitet. Alle sehr grundsätzlich behandelten Themen werden mit einem Aktualitätsbezug versehen, in den bereits der Krieg in der Ukraine einfließt. Heidenreich bemüht sich inhaltlich und stilistisch darum, auf eine politikwissenschaftliche Fachsprache zu verzichten und einen flüssigen Sachbuchtext vorzulegen. Das führt bisweilen zum allzu plumpen Rückgriff auf Kniffe des journalistischen Schreibstils, etwa wenn er fast jeden Kapitelanfang nach dem Muster einer Liveticker-Meldung mit der Nennung eines genauen Datums nebst Uhrzeit einleitet – kurioserweise selbst dann, wenn es sich um weit zurückliegende Ereignisse handelt, wie etwa den 25.08.1830 (S. 216).

Der Schlüsselbegriff in Heidenreichs Ausführungen über die Gefährdungen der Demokratie reizt zur Nachfrage. „Zumutung“ ist eine seltsame Umschreibung für ein politisches Rollenverständnis. Im Wort schwingt eigentlich die Vorstellung einer unberechtigten Überforderung mit. Heidenreich will damit jedoch legitime „Ansprüche“ (S. 21) kennzeichnen, die eine funktionstüchtige Demokratie „aus guten Gründen“ (S. 23) an ihre Bürgerinnen und Bürger stellt. Um diese Argumentation auszubreiten, ist ein erster Teil des Buches der diagnostizierten politischen Entfremdung der Bürgerinnen und Bürger von der Demokratie gewidmet. Heidenreich kritisiert die bürgerschaftliche Neigung, die Demokratie als Konsumgut zu betrachten. Dem stellt er ein alternatives bürgerschaftliches Rollenverständnis entgegen, das er ausführlich darlegt. Im Wesentlichen geht es dabei um ein neu konzipiertes Verständnis von politischer Subjektivität. Zunächst referiert Heidenreich die Entwicklungslinien der Subjektphilosophie, in der die sozialen und politischen Implikationen der Subjektivierung mal als blinder Akt der Unterwerfung unter kollektive Normen gefasst werden, mal als Erlangung von Handlungsautonomie durch die kritische Reflexion über ordnungspolitische Erwartungen und Zwänge. Die von Heidenreich auf den Begriff gebrachte „Zumutung“ spricht das Subjekt vor allem in seiner Anforderung an, sich ordnungspolitischen Normen zu unterwerfen. Daraus folgt, dass die Demokratie stets an partizipative Zwänge gebunden bleibt, die ein Staat seinen Bürgerinnen und Bürgern auferlegen muss. Dann gewinnen aber die Demokratie und die Volkssouveränität merkwürdigerweise ihr Profil als ein Set an Regeln und Verhaltensnormen, welche die Bürgerschaft fremdbestimmt befolgen muss. Warum will der sich aufklärerisch gebende Autor Heidenreich die Subjektivierung nicht entschiedener als Förderung von Autonomie verstanden wissen, auf deren Basis man aus eigener Einsichtsfähigkeit begreift, welche kollektiven Bindungen bestehen und welche Konsequenzen für die persönliche politische Betroffenheit und für das bürgerschaftliche Engagement daraus zu ziehen sind? Dann würde es sich bei seinen Empfehlungen gar nicht mehr um demokratietheoretisch begründete „Zumutungen“ handeln, sondern um Implikationen der Einbindung in das kollektive Leben, die noch nicht verstanden und internalisiert worden sind. Von einer „Zumutung“ reden zu müssen würde unter diesen Voraussetzungen lediglich anzeigen, dass die herrschende repräsentative politische Organisationsform gravierende partizipative Mängelerscheinungen aufweist.

Würde Heidenreich also die Demokratie deutlicher in einer inhärenten Bindung an die kollektiven Belange verorten und das politische Handeln der Bürgerschaft auch als eine Art Freiheit zur Politik betrachten, dann ergäbe sich ein veränderter Blick auf die Themenfelder, mit denen er sich in seinem Buch beschäftigt: Dann wäre die beklagte postdemokratische Erwartungshaltung, Politik werde als eine Dienstleistung begriffen, bei der die Bürgerinnen und Bürger Entscheidungen konsumieren, nicht als Systemfehler der Demokratie zu werten, sondern als Missstand des politischen Betriebs. Es ergäbe sich auch eine veränderte Sicht auf das Bündel an Maßnahmen in Richtung einer stärkeren Bürgerbeteiligung, das Heidenreich im letzten Drittel des Buches ausbreitet. Dann wäre die dort diskutierte Pflicht zu Wehr- und Bürgerdienst keine Errungenschaft politischer Beteiligungsformate, sondern das Armutszeugnis einer Staatsraison, aus der die Elemente der kollektiven Verantwortung und Verbindlichkeit entschwunden sind. Dann erschiene die ausführlich behandelte Wahlpflicht nicht als Maßnahme der Förderung von bürgerschaftlicher Teilhabe, sondern als unbeholfene Reaktion auf eine Legitimationskrise repräsentativer Regierungssysteme. Dann erschöpfte sich die zuletzt behandelte politische Bildung nicht in erzieherischen Versuchen der Förderung staatstragender Attitüden, sondern – hier leistet Heidenreich immerhin ein wohltuend klares Bekenntnis – erwiese sich als Element einer „école républicaine“ (S. 265), die durch Bildung persönliche Lernerfahrungen über die politische Selbstbindung in Gang setzt.

Heidenreich misstraut jedoch den autonomiefördernden Aspekten der Subjektivierung. Im Schlusskapitel seines Buches schlägt er nämlich eine verbindliche Pflicht zu Bürgerdiensten vor, die sich von der Kommune bis hin zu den Institutionen der Europäischen Union erstrecken könnte. Damit legt Heidenreich seine Einschätzung der Demokratie unmissverständlich offen: Das demokratische Grundmuster einer Herrschaft des Volkes erweist sich aus seiner Perspektive prinzipiell als defizitär, die Demokratie benötigt unweigerlich autoritative Anreizstrukturen, um ihrer eigenen Funktionslogik genügen zu können. Gegen diesen Befund gibt es freilich nicht nur demokratietheoretische Bedenken, sondern auch empirische Einwände: Die Bereitschaft zu protestförmiger Partizipation steigt doch an – offenbar weitab von der Empfindung einer politischen Zumutung. Für Heidenreich erweisen sich die „Zumutungen“ jedoch als geradezu unerlässliche Zwangsmaßnahmen zur Förderung von Partizipation. So muss man sein Buch wohl nicht nur als engagierte Stellungnahme anlässlich gravierender politischer Krisen lesen, sondern als impliziten Aufweis der konzeptionellen Unzulänglichkeit von Demokratie schlechthin.