Die Identifikation geeigneter Lektüren über die Europäische Zentralbank (EZB) für politikwissenschaftliche Lehrveranstaltungen ist knifflig. Man hat die Wahl zwischen zwei gleichermaßen unbefriedigenden Optionen. Entweder finden sich grundlegende, aber forschungsferne Texte, die im Wesentlichen Institutionenkunde betreiben und entsprechend blutleer über die Unabhängigkeit und die geldpolitischen Instrumente der EZB aufklären. Oder man wählt forschungsnahe Lektüren, die die Probleme einheitlicher Geldpolitik in heterogenen Währungsräumen berücksichtigen, aber Gefahr laufen, Studierende ohne wirtschaftswissenschaftlichen Hintergrund zu überfordern. Wer beides will, Forschungsnähe und hohe Zugänglichkeit, sucht meist vergeblich.

Deshalb ist die Publikation des von Michael Heine und Hansjörg Herr verfassten Bandes „Die Europäische Zentralbank“ erfreulich. Den Autoren gelingt es, die ökonomischen und politischen Spannungsfelder der Währungsunion greifbar darzustellen, ohne dass das Ergebnis durch Vereinfachung an falscher Stelle verflachen würde. Wobei der Titel den Inhalt des Bandes eigentlich unter Wert verkauft, denn das Buch beschäftigt sich mit mehr als der EZB. Behandelt werden die Geschichte der europäischen Währungsunion von Bretton Woods bis zum Eintritt in die Pandemiekrise und die Wirkungen der Notenbankpolitik im Kontext von Lohn‑, Fiskal- und Finanzmarktpolitik.

Zu den Autoren sollte man wissen, dass sie sich der postkeynesianischen Theorieschule zuordnen. Sie gehen davon aus, dass Inflation und Deflation nicht ausschließlich monetäre Phänomene sind, und nehmen an, dass Stabilisierungspolitik eines herausfordernden Zusammenwirkens der Fiskal‑, Geld‑, Wechselkurs- und Lohnpolitik bedarf. Das Finanzsystem sehen sie als inhärent instabil und entsprechend steuerungsbedürftig an. Von den Dogmen der Modern Monetary Theory (MMT), die als radikale postkeynesianische Schule seit einiger Zeit Kontroversen auslöst, halten sich Heine und Herr indes fern. So warnen sie beispielsweise vor entfesselter Staatsverschuldung und lassen Sympathien für Schuldengrenzen und Fiskalregeln erkennen.

Die zwölf Kapitel lassen sich vier Teilen zuordnen. In einem ersten Schritt befassen Heine und Herr sich mit der Vorgeschichte der Währungsunion (Kap. 1–3). Der zweite Teil führt in die Theorien optimaler Währungsräume ein und befasst sich mit dem institutionellen Rahmen der EZB, ihrer geldpolitischen Zwei-Säulen-Strategie und den Entwicklungen bis zur Finanz- und Eurokrise (Kap. 4–7). Der dritte Teil analysiert die Ursachen und Abläufe der Krisen (Kap. 8–10), bevor der letzte Teil die Probleme der Wirtschaftspolitik und der Finanzmärkte im Euroraum (Kap. 11–12) sowie die aktuellen Herausforderungen bis kurz vor dem Eintritt in die derzeitige Inflation in den Blick nimmt (Kap. 13–14).

Wie die Autoren verdeutlichen, haben sich die Hoffnungen der Architektinnen und Architekten des Euros nicht erfüllt. Man hoffte, aus der Währungsunion selbst werde ein Sog entstehen, der den Euroraum schließlich an die Merkmale eines optimalen Währungsraums annähern würde. Das ist nicht geschehen. Heute wissen wir, dass sich die Planerinnen und Planer des Euros mit den falschen Themen beschäftigten. Statt nach einem Design der EZB zu suchen, das die Notenbankunabhängigkeit maximiert und die EZB von der Wirtschaftspolitik der Euro-Teilnehmenden abschirmt, hätte man sich mit den Voraussetzungen einer europäischen Lohnkoordination beschäftigen müssen, mit den Problemen einer europäischen Fiskalkoordination und mit den Logiken des Zusammenwirkens von export- und binnenorientierten Wachstumsmodellen unter einem gemeinsamen geldpolitischen Dach.

Als Lösung plädieren die Autoren in den abschließenden Abschnitten, nicht überraschend, für einen nachholenden, großen Integrationsschub: für eine diskretionär einsetzbare europäische Fiskalpolitik, für Lohnkoordination und für die Transformation der EZB zu einem verlässlichen Kreditgeber der letzten Instanz. Das alles kann man auf dem Reißbrett entwerfen und stimmig anmahnen – was aber, wenn sich herausstellt, dass diese Schübe nicht nur heute, sondern auch in absehbarer Zukunft nicht erreichbar sind? Wenn wir von den in Kap. 5 beschriebenen anspruchsvollen Voraussetzungen eines wenn nicht optimalen, so doch zumindest leidlich funktionsfähigen Währungsraums absehbar so weit entfernt bleiben, wie wir es in den 1990ern waren?

Mit dieser Anschlussfrage bleiben die Leserinnen und Leser letztlich allein und genau das würde ich ins Zentrum einer Seminardiskussion nach Lektüre ausgewählter Kapitel des Bands stellen. Für solche Zwecke ist das rezensierte Buch ohne Abstriche zu empfehlen. Erfreulich ist auch, dass Metropolis den Band zu einem Preis vertreibt, den Studierende und Promovenden stemmen können.