Das neue Buch von Jürgen Habermas lässt sich nicht lesen, ohne permanent seine Thesen zu diesem Thema aus dem Jahre 1962 sowie seine 30 Jahre danach vorgenommenen Revisionen im Kopf zu haben. Das Buch zitiert nicht nur im Titel, sondern mit seinem orangefarbenen Cover auch optisch sein fast auf den Monat genau 60 Jahre zuvor in der Reihe „Politica“ des Luchterhand Verlages erschienenes Werk Strukturwandel der Öffentlichkeit. Für die (damalige) Gegenwart diagnostizierte Habermas in den Schlusspassagen des Buches den Übergang von einem aktiven und räsonierenden zu einem passiven und konsumierenden Publikum in manipulativer Absicht erzeugter Produkte der medialen Öffentlichkeit.

Gegenwärtig, so die titelgebende These des neuen Buches, haben wir es erneut mit einem einschneidenden Strukturwandel der Öffentlichkeit zu tun. In welcher Hinsicht dieser Wandel von eminenter demokratietheoretischer Bedeutung ist, verrät der zweite Teil des Buchtitels. „Deliberative Politik“ – das ist seit Anfang der 1990er-Jahre die Kurzformel des demokratietheoretischen Ansatzes von Habermas, wie er ihn erstmals in seinem „Vorwort zur Neuauflage 1990“ des Strukturwandel-Buches und zwei Jahre später ausführlicher in seinem Buch Faktizität und Geltung entworfen hat. Allerdings war Habermas mittlerweile zu deutlich positiveren Befunden über die Qualität der öffentlichen Kommunikation gelangt, die es nun sozialen Bewegungen und der Zivilgesellschaft ermöglichten, über die Medien der Öffentlichkeit inhaltlichen Einfluss auf die Entscheidungen im Zentrum des politischen Systems westlicher Demokratien zu nehmen.

Wie viele der Publikationen von Habermas ist das neue Buch eine Reaktion auf aktuelle philosophische oder sozialwissenschaftliche Debatten. Diesmal reagiert er auf die Beiträge eines Sonderbandes der Zeitschrift Leviathan aus dem Jahr 2021 mit dem Fragezeichen im Titel „Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit?“. Im Zentrum des Sonderbandes standen vielfältige Aspekte von Kommunikationen im digitalen Raum. Habermas hatte darin in seinem Aufsatz auf die dort abgedruckten 20 Aufsätze kommentierend Bezug genommen und sich dabei in erster Linie auf die politische Kommunikation konzentriert. Dieser Aufsatz findet sich leicht überarbeitet als Hauptbeitrag des neuen Buches. Zudem beinhaltet das Buch Übersetzungen eines Interviews mit ihm und eines Vorwortes aus seiner Tastatur zur selben Thematik.

Anders als die beiden Herausgeber des Leviathan-Sonderbandes hat Habermas bei der Wahl seines Buchtitels auf das Fragezeichen verzichtet. Ihm zufolge stehen wir seit zwei Jahrzehnten inmitten eines dritten Strukturwandels der Öffentlichkeit. Erneut verschiebt Habermas in seinen Überlegungen die Akzente. 1962 sprach er von einem ersten Strukturwandel als Übergang von der feudalen zur bürgerlichen Öffentlichkeit eines räsonierenden Publikums und einem zweiten Strukturwandel hin zu einem die Medien bloß noch konsumierenden Massenpublikum. Die sich daraus ergebende negative Diagnose nahm Habermas in dem bereits erwähnten „Vorwort zur Neuauflage“ von 1990 mit Hinweis auf die von ihm zuvor nicht hinreichend beachtete Komplexität des Rezipient*innenverhaltens zurück. Das Drei-Phasen-Modell in dem neuen Buch holt weltgeschichtlich weiter aus. Als ersten evolutionären Schub in der medialen Kommunikation „unserer redseligen Spezies“ (S. 42) bezeichnet er die Verschriftlichung des gesprochenen Wortes. Als zweite Stufe wird die Einführung mechanischer Druckverfahren identifiziert. In beiden Stufen gab es eine klar hierarchisierte Trennung von Autor*in und Adressat*in. Mit der elektronischen Digitalisierung als dritte Stufe wird diese Trennung aufgehoben. Denn nun kann jede*r Bürger*in zugleich als Autor*in und Adressat*in politischer Artikulationen agieren. Die Kommunikationsflüsse können sich global in Echtzeit ausbreiten. Sie differenzieren und vervielfältigen sich nach Inhalten und Funktionen und können sämtliche schichten- und kulturspezifischen Grenzen überschreiten (soweit nicht eine rigide staatliche Zensur dies erfolgreich zu unterbinden vermag). Die Bewertung dieses Wandels ist ambivalent. Einerseits bergen Plattformen wie Facebook und Twitter grundsätzlich ein „große[s] emanzipatorische[s] Versprechen“ (S. 45). Auf der anderen Seite pickt er sich aus den empirischen Befunden aus dem Leviathan-Sonderband lediglich diejenigen Beiträge heraus, die sorgenvoll auf die dogmatische Abschottung in fragmentierte Öffentlichkeiten hinweisen.

Theoriestrategisch manövriert sich Habermas aufgrund dieser Negativauswahl in eine vergleichbare Situation wie in den Schlusspassagen seines Buches von 1962. Seine damalige Auswegstrategie bestand in dem Appell, aus den innerorganisatorischen Öffentlichkeiten in Verbänden und Parteien eine „kritische Publizität“ zu entfachen, welche durch „öffentliche Kontroversen“ den bestehenden manipulativen Konsenszwang auflockern solle. Die Auswegstrategie, die er angesichts des neuerlich diagnostizierten Strukturwandels vorschlägt, besteht in ähnlicher Weise aus drei – simultan zu verfolgenden – Reformkomponenten. Die erste Komponente setzt auf Bildungsangebote für bürgerschaftlichen Umgang mit den neuen Plattformmedien. Das wird vermutlich längere Zeit in Anspruch nehmen, denn: „Wie lange hatte es gedauert, bis alle lesen gelernt hatten?“ (S. 46). Die zweite Strategie besteht in einer starken „politischen Regulierung“ (S. 67) der neuen Massenmedien, zum Beispiel in der lückenlosen Erzwingung der Verfolgung von Hassreden und Fake News. Die dritte Reformkomponente besteht im Erhalt und Ausbau von Alternativen zu den von Privatfirmen betriebenen Plattformen. Habermas schlägt in diesem Zusammenhang eine Ausweitung der finanziellen Unterstützung für staatlich finanzierte und demokratisch kontrollierte Fernseh- und Radiosender sowie für Qualitätszeitungen und deren digitale Angebote vor. Zusammengenommen soll eine solche Reformagenda die deliberative Demokratie im digitalen Zeitalter sichern.

Habermas’ Reformstrategie ist in ihrem Versuch, die Organisation der Medienlandschaft der 1970er-Jahre in die heutige digitale Welt zu transformieren, konservativ. Was für sich genommen erst einmal nichts Schlechtes sein muss. Sie wirft allerdings zwei kritische Rückfragen auf. In seinem Buch von 1962 hatte Habermas – wie er rückblickend selbstkritisch einräumte – die bürgerliche Öffentlichkeit glorifiziert. In seinem neuen Buch glorifiziert er erneut eine Medienlandschaft der Vergangenheit. Darf man tatsächlich so leichtfertig über die Dominanz beispielsweise der hetzerischen Springer-Presse in der angeblich besseren medialen Vergangenheit hinwegsehen? Und was die konkreten Inhalte seiner Reformagenda angeht, so stellt sich die nicht-triviale Frage, wie es möglich sein soll, die Strukturen der Öffentlichkeit mittels gesetzgeberischer Maßnahmen zu reformieren, wenn diese Maßnahmen (zumindest in Demokratien) das Ergebnis von (wenig aufgeklärter) politischer Kommunikation sein sollen.

Habermas identifiziert den neuen Strukturwandel der Öffentlichkeit anhand des „Plattformcharakters“ (S. 44) der neuen Medien. Sie seien das „eigentlich Neue an den neuen Medien“ (S. 44). Von dieser Feststellung gelangt er im schnellen Schritt zur metaphorischen Rede von „Echo-Kammern“ (S. 45) und „Filterblasen“ (S. 62), die in der gegenwärtigen Diskussion als Beleg für die These einer extrem fragmentierten digitalisierten Verwendung dient. Gegen diese These ist aus empirischer Sicht der politischen Kommunikationsforschung einzuwenden, dass sie lediglich für eine sehr kleine Gruppe von Nutzer*innen zutrifft. Und aus soziologischer Sicht lässt sich einwenden, dass die zu beobachtenden Fragmentierungen in der digitalen Kommunikation weniger das Resultat von medialen Strukturen, sondern vielmehr das Ergebnis von immer weiter auseinanderdriftenden sozialen Lebenswirklichkeiten sind.

Schließlich ist auch Habermas’ neuerliche Rede vom „Strukturwandel“ nicht unproblematisch. Als er den Ausdruck erstmals Ende der 1950er-Jahre verwendete, hatte er ihn von Franz L. Neumann aus dessen berühmten Aufsatz „Der Funktionswandel des Gesetzes in der bürgerlichen Gesellschaft“ (1937) übernommen, dabei aber „Funktion“ durch „Struktur“ ersetzt. Ein Strukturwandel suggeriert eine lineare Entwicklung zu einer neuen Qualität. Möglicherweise jedoch sind die derzeit zu beobachtenden disruptiven Wandlungsprozesse im Bereich der Öffentlichkeit mit diesem Ausdruck gar nicht mehr adäquat zu beschreiben und es bedürfte eines neuen analytischen Vokabulars.