Was macht gutes Regieren aus, wie ist es möglich, und wie unter verschiedenen Bedingungen und Systemkontexten? Damit stellen sich klassische Fragen der Politikwissenschaft schlechthin, die gleichsam kaum aktueller sein könnten. Sie gehören auch zum Zentrum des Forschungsinteresses des vorliegenden Buches von Tanja Börzel und Thomas Risse (folgend Börzel/Risse). Dabei nehmen sie nicht die OECD-Welt als Maßstab, legen den Fokus stattdessen auf das Regieren in Räumen begrenzter Staatlichkeit („areas of limited statehood“, folgend ALS), und möchten herausfinden, wie effektives Regieren – wie die Erbringung öffentlicher Güter und Leistungen – trotz fehlender oder stark eingeschränkter staatlicher Kapazitäten möglich ist (S. 2, S. 254). Ihr Buch, wie das ihm zugrunde liegende Forschungsprojekt, ist auch deshalb enorm relevant, da ALS, wenn auch zu verschiedenen Graden, den Großteil der heutigen Staatenwelt und gar die Geschichte menschlicher Gemeinwesen kennzeichnen; oder wie es Börzel/Risse auch zugespitzt im ersten Kapitel formulieren, „die Welt sei nun mal nicht Dänemark“ (u. a. S. 1; hier wie folgend eigene Übersetzungen).

Ihre leitenden Fragen lauten also genauer: Zum einen warum, wann und wie beteiligen sich diverse (nicht-)staatliche, inter-/transnationale und sonstige öffentliche sowie private Akteure am Regieren unter ALS-Bedingungen; zum anderen unter welchen Bedingungen gestaltet sich jenes Regieren als effektiv und legitim (S. 9, auch S. 58, S. 69, S. 249). Das zu lösende Rätsel („Governance Puzzle“, S. 5–13) ergibt sich nicht aufgrund solcher Fälle, in denen Staatskollaps, Kleptokratie oder Chaos u. Ä. herrscht, sondern gerade weil es in ALS – und dies keineswegs selten – zu verschiedenen Konstellationen des effektiven und stabilen Regierens kommt, das obendrein Legitimität seitens der Bürger*innen genießt. Dies erkennen und erfassen zu können setzt voraus, sich über vielfache westliche Bias bzw. entsprechend geprägte Staatlichkeitsmodelle und Modernisierungstheorien hinwegzusetzen (vgl. insb. S. 13–16).

Kurz resümierend setzt sich das Buch aus einem eher theoretischen Teil (Kap. 2–3), in dem der theoriegeleitete Analyserahmen abgesteckt wird, und einem eher empirischen Teil (Kap. 4–7) zusammen. Im Ersteren werden die Konzepte (insb. Staat/-lichkeit, begrenzte Staatlichkeit und deren Messung sowie Governance) bestimmt und die eigene Theorie zum effektiven und legitimen Regieren in ALS ausformuliert. Diese sieht dreierlei Bedingungen vor: die institutionelle Ausgestaltung der Governance-Arrangements, die u. a. inklusiv und zweckangemessen sein müssen, Legitimität i. S. v. Akzeptanz der Governance-Institutionen und der Regierenden/Governance-Beteiligten, schließlich soziales Vertrauen. Diese könnten zwar als Anforderungen an jede politische Ordnung gelten (S. 58), werden aber als besonders erforderlich für ALS angesichts fehlender bzw. eingeschränkter Kapazität zur hierarchischen staatlichen Steuerung gezählt. Effektives und legitimes Regieren gilt hier als interessierende Variable (explanandum). Börzel/Risse gehen jedoch von einem Verhältnis komplexer Kausalität und multidirektionalen Wechselwirkungen aus, wonach die drei Bedingungen sich gegenseitig beeinflussen und zu einem positiven Kreislauf mit dem guten Regieren führen können (siehe auch Abb. 85, S. 266); wobei „Teufelskreise“ (S. 265) – z. B. mangelnde Effektivität, die nachteilig auf soziales Vertrauen und Legitimität wirkt – gerade für ALS Risiken darstellen. Im empirischen Teil werden Akteurstypen und Governance-Modi erläutert (Kap. 4). Anschließend erfolgen die Fallbeispiele (aus Afrika, Asien, Lateinamerika, dem Nahen Osten). Diese werden entlang Policy-Bereichen angeordnet: Öffentliche Sicherheit (Kap. 5), Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie (Kap. 6) und Soziale Wohlfahrt (Kap. 7).

Aus den zutage geförderten Erkenntnissen – denen der begrenzte Rahmen der Rezension nicht gerecht werden kann – ergeben sich wichtige Einsichten in die Vielfalt möglicher Konstellationen des gelungenen Regierens in ALS, jedoch auch mehrere analytische sowie praktische Implikationen (ausführlich in Kap. 8). Zu Letzterem gehört das Plädoyer für eine Verschiebung von der Verfolgung eines Staatbildungsansatzes hin zur Governance-Förderung in der internationalen Zusammenarbeit. Eine übergreifende Schlussfolgerung betrifft die Ambivalenz (noch) vorhandener staatlicher Strukturen in ALS (S. 256–271): Denn für nachhaltig effektives Regieren bedarf es einem Mindestmaß an staatlicher Infrastruktur, was tendenziell umso mehr zutrifft, je komplexer die Governance-Aufgaben sind; damit kann wiederum die Gefahr wachsen, dass staatliche Stellen bzw. entsprechende Machtinhaber*innen die Möglichkeiten nutzen, eigene Interessen zu verfolgen und somit effektive und legitime Governance konterkarieren (S. 268, S. 272). Auch die Relevanz der Analysen für die OECD-Staatenwelt zeigt sich gerade im Kontext des Wandels der Staatlichkeit (S. 272–276). Anhand des Bildes der „Anarchie“, in deren „Schatten“ (u. a. S. 9, S. 110, S. 176, S. 277) – ein Pendant zum „Schatten der Hierarchie“ – sich auch Motivation zur Governance in ALS entfalten kann, werden zudem Parallelen zur Internationalen Politik und IB konzipiert.

Der ALS-Begriff lässt sich laut Börzel/Risse auch auf Staaten des Globalen Nordens übertragen. Hierfür dienen als Beispiele temporäre Ausnahmezustände (wie direkt nach dem Hurrikan Katrina in den USA) oder im Normalzustand das Vorhandensein gefährlicher Stadtteile (S. 5, S. 36). Da Anarchie nicht mit Chaos gleichzusetzen ist, lässt sich diese Übertragung hinterfragen. Sie ist eher dann plausibel, wenn Staatlichkeit wie im Buch – nicht nur, aber grundlegend und immer wieder – am Gewaltmonopol in Anlehnung an Weber festgemacht wird. Allerdings wird der Zusatz „legitim“ aus Webers Definition ausgelassen (Ausnahme auf S. 32), was problematisch ist. Denn das Vorkommen illegitimer Gewalt(-tätigkeit) muss nicht zwangsläufig eine – ansonsten als konsolidiert geltende – Staatlichkeit infrage stellen. Oder umgekehrt zugespitzt: Auch in Dänemark gibt es Kriminalität, wie auch unentdeckte Verbrechen oder eingestellte Strafverfahren, und somit Compliance-Versagen (es existiert sogar eine vom Staat geduldete autonome Gemeinde Christiania). Zwar unterscheiden Börzel/Risse zwischen (Herrschafts‑)Kapazität und Bereitschaft, und ziehen Ersteres zur Bestimmung von ALS als relevanteres Kriterium heran (S. 4), was auch ALS vom neoliberalen Staat bzw. gegenüber Privatisierung, Deregulierung, sonstigen Auslagerungen abgenze. Allerdings ist begrenzte Staatlichkeit als Einhegung staatlicher Autorität und Interventionsreichweite geradezu konstitutiv für den demokratischen, gewaltenteilenden Rechtsstaat. Dementsprechend scheint eine systematische Anwendung des Begriffs der begrenzten Staatlichkeit über Systemkontexte schwierig.

Diese kritischen Überlegungen sind freilich nicht originell, sollen aber ein konzeptuelles Bedenken zum Ausdruck bringen, zumal Börzel/Risse selbst zur „Überwindung unserer staatszentrierten Sicht auf die Welt“ (S. 275) anregen. Gewiss haben sie auch empirisch bezüglich der zu erfassenden Phänomene recht, dass wir „die begrenzte Staatlichkeit nicht loswerden“ (S. 2). Dies muss aber nicht unbedingt in begrifflicher Hinsicht zutreffen.

Abschließend liefert dieses Werk einen anregenden, theoriebildenden wie empirisch gesättigten Beitrag, der Anschluss für mehrere sozialwissenschaftliche Forschungsstränge bietet. Es ist auch zu empfehlen für Lehre in mehreren Teilbereichen der Politikwissenschaft, von Vergleichender Politikwissenschaft, über Policy und Governance hin zu Internationalen Beziehungen.