Titel und Untertitel machen neugierig. Welche „autoritäre Versuchung“ wird der in Wien lehrende Politikwissenschaftler Fabio Wolkenstein „der“ Christdemokratie attestieren? Und inwiefern ist sie für diese so konstitutiv, dass man sie als ihre dauerhafte, bis heute relevante „dunkle Seite“ bezeichnen kann? Der Verfasser wird sich ja, so vermutet man, kaum ausschließlich auf Historisches kaprizieren, und er wird wohl auch nicht nur die berühmte illiberale Demokratie Viktor Orbáns vorführen wollen. Dass christliche, genauer gesagt protestantische und katholische Politikvorstellungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vielfach, wenn auch keineswegs immer, einer „autoritären Versuchung“ erlagen, ist unstrittig. Unstrittig ist aber auch, dass die europäische Christdemokratie in der Nachkriegszeit – und erst in dieser entstanden die neuen, die früheren Konfessionsgrenzen überschreitenden politischen Sammelparteien dieses Namens – zu einer starken Stütze und treibenden Kraft demokratischer Politik und Verfassungsstaatlichkeit geworden ist, und zwar nicht nur auf nationalen Ebenen, sondern auch im Blick auf die Entwicklung der Europäischen Gemeinschaft. Was also ist die drohende „autoritäre Versuchung“ der Christdemokratie, die es dringlich macht, ihr mit einem auflagenstarken Essay zu Leibe zu rücken? Um mein Leseergebnis vorwegzunehmen: Sie wird mir nicht so recht klar, und auch der Verfasser scheint entgegen seiner Ankündigung keine klare Position zu beziehen. Aber der Reihe nach.

Der sehr informative und gut zu lesende Band besteht aus einem ausführlichen Vorwort, vier thematischen, vor allem historisch gehaltenen Kapiteln und einem knappen Schluss. Der Autor verspricht „eine systematische Antwort“ auf die Frage, „wie die Christdemokratie eigentlich zur Demokratie und ihren Feinden steht“ (S. 9). Und er ventiliert – allerdings nur sehr zaghaft – die These, dass die ersten beiden Nachkriegsjahrzehnte, die von einer demokratischen europäischen Christdemokratie geprägt waren, „eine knapp 20-jährige Anomalie“ (S. 12; auch S. 157) darstellen, da die Christdemokratie danach wieder auf breiter Front zu autoritären Denkweisen und Politikstilen zurückgekehrt sei. Dabei verweist er vor allem auf die ungarische Fidesz-Partei (während die polnische PiS kaum vorkommt), räumt aber ein, dass sie nicht zur klassischen europäischen Christdemokratie zu rechnen ist. Schließlich stammen Orbán und seine Partei ursprünglich aus dem Liberalismus und haben sich erst Ende der 1990er-Jahre vor allem aus wahltaktischen Gründen christdemokratisch-nationalkonservativ umprofiliert (vgl. S. 145–146). Und zudem sei, wie Wolkenstein schreibt, grundsätzlich „eine stärkere ‚Orbanisierung‘ der Christdemokratie nur schwer vorstellbar“ (S. 20).

Das erste, einleitende Kapitel (S. 15–34) skizziert knapp die Entwicklungsdynamik und das aktuelle Erscheinungsbild christlicher Parteien und Programmatiken in Europa, vor allem im Blick auf die deutschen Unionsparteien, die österreichische ÖVP und die ungarische Fidesz. Es kulminiert in der Beobachtung, dass die christdemokratischen Parteien „in der Vergangenheit insgesamt demokratischer“ (S. 27) geworden seien, auch wenn sich ihre autoritären Versuchungen bis heute fortsetzten. Die drei weiteren Kapitel präsentieren einen wertvollen Abriss zur Theorie- und Mentalitätsgeschichte der Christdemokratie und ihrer Vorläufer im 20. Jahrhundert, beginnend mit den „antidemokratischen Wurzeln der Christdemokratie“ (Kap. 2, S. 35–89) in der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg. Hier finden sich sehr schöne Skizzen zur katholischen Soziallehre und zu den politischen Katholizismen in Ländern wie Deutschland, Österreich, Frankreich und Italien. Die beiden weiteren Kapitel (Kap. 3: Selbstbewusste Volksparteien, gute Demokraten?, S. 90–132 und Kap. 4: Christdemokratie im neuen Europa, S. 133–169) beschäftigen sich mit der Christdemokratie der Nachkriegszeit und den ambivalenten, nur teilweise gelungenen Versuchen vormals katholischer Parteien, „sich als demokratische Volksparteien neu zu erfinden“ (S. 93).

Im Schluss (S. 170–179) diagnostiziert Wolkenstein deshalb „zwei gegenläufige Tendenzen“ (S. 170). Einerseits komme „die dunkle Seite der Christdemokratie wieder verstärkt zum Vorschein“ (ebd.), wobei er vor allem auf Sebastian Kurz und Viktor Orbán verweist. Andererseits herrsche eine „übergreifende Rat- und Orientierungslosigkeit“ (S. 173). Markus Söder und Friedrich Merz jedenfalls versuchten sich gegenwärtig nicht als nationalkonservative Hardliner mit klarer Parteiprogrammatik, sondern als pragmatische Problemlöser, denen Klimawandel und soziale Gerechtigkeit am Herzen lägen und die, ähnlich wie zuvor Angela Merkel, „zur Mitte hin integrieren“ wollen (S. 174).

Wenn der neueste Entwicklungstrend der europäischen Christdemokratie – Kurz hat sich aus der österreichischen Politik völlig zurückgezogen, und die ehemaligen christdemokratischen Sympathien für die Fidesz sind endgültig aufgebraucht (vgl. S. 171–172) – wieder dahin geht, sich „in einer ideologisch nur schwer greifbaren Mitte“ (S. 175) zu verorten, und wenn Wolkenstein betont, dass am Ende auch „die effiziente Verwaltung des Status quo unter dem Vorzeichen der Alternativlosigkeit“ (S. 177) eine erfolgreiche christdemokratische Programmatik sein könne, dann hängt seine Warnung vor der Wiederkehr der dunklen Seite der Christdemokratie aber in der Luft. Sie kommt dann mindestens um einige Jahre zu spät. Die zu Beginn angekündigte „systematische Antwort“ bleibt denn auch aus. Zur Frage, wie es die Christdemokratie nun mit „der Demokratie und ihren Feinden“ hält, liefert der Text kein klares Ergebnis; zumindest dann nicht, wenn man – mit dem Verfasser – rechtspopulistische und nationalkonservative Strömungen nicht einfach unter der Rubrik christdemokratisch verbuchen will. Dabei hätte es die Anomalie-These durchaus verdient, klarer und systematischer angegangen zu werden, auch auf die Gefahr hin, dass sie sich am Ende nicht als tragfähig erweist.

Zum Schluss noch eine wichtige Korrektur: Wolkenstein behauptet irrtümlich, Papst Leo XIII. habe in seiner Sozialenzyklika Rerum novarum (1891) erklärt, der Staat dürfe „vom Vermögen der Untertanen einen übergroßen Anteil als Steuer“ einziehen, um die Handhabung des Eigentumsrechts „mit dem allgemeinen Wohl in Einklang“ zu bringen, was „geradezu progressiv“ anmute (S. 43). Der noch durch und durch feudal denkende damalige Papst hatte jedoch ganz im Gegenteil erklärt, es könne nicht angehen, dass der Staat „seinen Angehörigen so hohe Steuern auferlegt, daß dadurch das Privateigentum aufgezehrt wird“ (RN 35). Das Zeitalter, in dem die Päpste rabiate sozialstaatliche Umverteilungsprogramme einfordern und damit unter Sozialismusverdacht geraten, war da noch nicht angebrochen.