Europäisches Lobbying ist ein bekanntes Phänomen und sehr gut erforscht. Informierte Beobachter*innen wissen auch, dass europäisches Lobbying stetig in Bewegung ist: In mehr oder weniger regelmäßigen Abständen findet sich das Thema in der Presse, entweder im Kontext neuer EU-Regulierungen oder gar verbunden mit einem Aufdeckungsskandal. Ebenso dringt die sozialwissenschaftliche Forschung immer tiefer in das europäische Lobbying ein und liefert neue Erkenntnisse zu Akteuren, Instrumenten und Strukturen. Der Soziologe Christian Lahusen hat nun die europäischen Lobbyist*innen selbst zum Objekt der Forschung gemacht und liefert eine umfassende Bestandsaufnahme und Analyse des europäischen Lobbyings aus der Perspektive der Professionssoziologie. Er überprüft „ob Prozesse der Verberuflichung und Professionalisierung durchlaufen wurden, durch die das Tätigkeitsfeld auf Grundlage gemeinsamer beruflicher Laufbahnen, Wissensbestände und Selbstverständnisse konstituiert, organisiert und reguliert wird“ (S. 15).

Das Buch kombiniert qualitative Interviews mit standardisierten Umfragedaten, wobei Lahusen die möglichen Grenzen der Untersuchungsmethoden jeweils klar benennt. Lahusen bietet eine umfassende Übersicht des Forschungsstands zum europäischen Lobbying und zu den vielfältigen Lobbyakteuren. Mit der Unterscheidung zwischen europäischen Lobbying als Organisationsfeld und europäischen Lobbying als Arbeitsfeld führt Lahusen den „Feldbegriff als Analyserahmen“ (S. 61) ein und untersucht empirisch die „Prozesse der Verberuflichung und Professionalisierung“ (S. 60) europäischen Lobbyings.

Die Genese des Arbeitsfelds wird mit einem Parcours durch die europäische Integrationsgeschichte nachgezeichnet, wofür Lahusen vor allem Interviews auswertet. Die Innenansichten über die Entwicklung des Arbeitsfelds berücksichtigen Integrationsschübe und deren Auswirkungen auf die Lobbyadressaten (das EU-Institutionengefüge) wie auf die Lobbyakteure. Deren Schilderungen zeigen, dass es zur Ablösung der „Amateure“ der Anfangsjahre (der „old school“) durch spezialisierte „Professionals“ gekommen ist und sich europäisches Lobbying zusehends als spezialisierter Beruf etabliert (S. 118).

2016–2017 erhobene, personenbezogenen Daten eröffnen einen anderen Blick auf europäisches Lobbying als in der Politikwissenschaft üblich. Sie geben Aufschluss über die nationale Herkunft der Lobbyist*innen, ihren geografischen Lebensmittelpunkt, ihre Reisetätigkeit, ihre Kerntätigkeit (Monitoring und/oder Lobbying) und ihr berufliches Selbstverständnis. Bei der Analyse der Verberuflichung des Lobbyings werden Beschäftigungsverhältnisse, Entscheidungsbefugnisse und Einkommenssituation ebenso unter die Lupe genommen wie die sektorale Durchlässigkeit des Berufsfelds. Die Untersuchung der Bedeutung von Insidererfahrungen (Drehtüreffekt) zeigt entgegen üblicher Klischees, dass nur rund 45 % der Befragten Berufserfahrungen innerhalb der EU-Institutionen haben (S. 218). Das Berufsfeld zeichnet sich durch eine große Vielfalt beruflicher Hintergründe aus, wie die vertiefte Nachzeichnung einzelner Lebensläufe verdeutlicht. Die Professionalisierung des europäischen Lobbyings zeigt sich dadurch, dass akademische Berufseinsteiger*innen die Quereinsteiger*innen verdrängen, wobei die universitären Fachrichtungen Politikwissenschaft, Europastudien, Wirtschaftswissenschaften und Jura dominieren.

Mit den „drei Stufen der Erleuchtung“ (S. 290), die europäische Lobbyist*innen erreichen können, hebt Lahusen hervor, dass akademische Bildung alleine nicht ausreicht, um ein guter Lobbyakteur zu sein. Auch die berufliche Sozialisation innerhalb des Berufsfelds zur Gewinnung einschlägiger und praxisrelevanter Wissensbestände und Fertigkeiten gewährleistet noch keinen beruflichen Erfolg. Nur die praktischen „Erkenntnisse darüber, wie diese Instrumente, Werkzeuge oder Methodiken richtig angewendet werden müssen, um wirksame Produkte und Aktivitäten zu generieren“ (S. 296), machen einen europäischen Lobbyakteur erfolgreich. Europäische Lobbyist*innen müssen sich, so das Fazit von Lahusen, als sachlich und politisch versiert präsentieren, um von den Lobbyadressat*innen ernst genommen zu werden, und sie müssen nicht nur das Handwerkszeug beherrschen, sondern sie benötigen auch „eine mentale Fähigkeit, die politische Welt Brüssels richtig zu verstehen und einordnen zu können“ (S. 297). Die Interviewauswertung veranschaulicht die Wichtigkeit der Kontaktnetzwerke und des daraus generierten Insiderwissens für Lobbyakteure. Sie legt auch offen, wie bedeutsam Kenntnisse des europäischen Politikzyklus (ohne, dass der Begriff direkt genannt wird) und die Interessenvertretung zum Zeitpunkt des Agendasettings für erfolgreiches Lobbying sind. Schließlich offenbart sich, mit welcher Sorgfalt Informationen für die Lobbyadressat*innen aufgearbeitet werden müssen und mit welcher Faktenkenntnis und Seriosität europäisches Lobbying betrieben werden muss, wollen die Lobbyist*innen nicht ihren Ruf schädigen. Entsprechend werden zwei „symbolische“ Güter in diesem Berufsfeld hoch gehandelt: Glaubwürdigkeit (S. 333) und Zugehörigkeit, also die Anerkennung durch die Lobbyadressat*innen und -kolleg*innen „Teil der gemeinsamen Brüsseler Welt zu sein“ (S. 336). Im letzten empirischen Kapitel richtet Lahusen den Blick auf die Legitimität des europäischen Lobbyings, wobei vor allem das Verhältnis zwischen Legitimitätsglauben und Berufsethik im Vordergrund steht. Aus Sicht der Lobbyakteure sind Interessengruppen „legitim, sofern sie den notwendigen Input für eine demokratisch geerdete Willensbildung und Entscheidungsfindung bereitstellen“ (S. 386). Allerdings offenbart die Analyse eine wechselseitige Delegitimierung von Wirtschaft und Nichtregierungsorganisationen (NGOs). Obwohl die „Übermacht des Professionalismus“ erdrückend ist (S. 408), herrscht Uneinigkeit darüber, welche Form der politischen Interessenvertretung (Professionalismus oder Aktivismus) anerkennungswürdig ist.

Am Ende lautet der Befund, dass europäisches Lobbying tatsächlich ein Organisationsfeld und ein spezialisierter Beruf ist, der an einen eigenständigen Arbeitsmarkt rückgebunden ist (S. 409) und somit eine Verberuflichung und Professionalisierung stattgefunden hat. Dies ist nicht nur ein Vorteil: Die Schlagkraft und Handlungsfähigkeit der Interessengruppen mag sich erhöht haben, so Lahusen, allerdings wird – auch von den Lobbyist*innen selbst – auf wachsende Ungleichgewichte innerhalb des Felds organisierter Interessen verwiesen und „auf einen entfesselten Wettkampf der Interessen, der Steuerungs- und Demokratiedefizite vergrößert“ (S. 427).

Lahusens Analyse europäischen Lobbyings ist durchweg (trotz oder wegen ihrer Detailliertheit) lesenswert. Sie erweitert den Blick auf europäisches Lobbying und auf die Ursachen für sich vergrößernde Steuerungs- und Demokratiedefizite der EU, die sich im europäischen Lobbying widerspiegeln. Das Buch bietet sich ideal als Pflichtlektüre eines jeden (Master‑)Seminars zum europäischen Lobbying an mit seinem umfassenden Überblick zum aktuellen Forschungsstand, seiner Zusammenfassung der Funktionsweise der EU, seinem breiten Methodenansatz und seiner anschaulichen Beschreibung einer möglichen Berufsoption von Studierenden der Politikwissenschaft (oder anderer Fächer).