FormalPara Sonenscher, Michael (2020): Jean-Jacques Rousseau. The Division of Labour, The Politics of the Imagination and the Concept of Federal Government

Leiden: Brill. 203 Seiten. 94,00 €.

Michael Sonenscher ist dafür bekannt, dass er komplexe Theorien gern in einem größeren ideengeschichtlichen Rahmen darstellt. Das triff auch für sein neues Buch zu. Rousseau, so Sonenscher, habe als Erster die Trinität von Individuum, Gesellschaft und Staat vollständig verstanden und eine Theorie zu entwickeln versucht, die in der Lage gewesen sei, diese drei Elemente auf demokratische Weise miteinander zu verknüpfen. Dieser Ansatz ist an sich schon beachtenswert. Hinzukommt, dass Rousseau bekanntermaßen bis heute einer der umstrittensten politischen Theoretiker ist. Insofern geht es bei der Analyse dieses Autors immer auch darum, sich im Kontext der Rousseau-Forschung zu positionieren. Und auch hier ist der Ansatz Sonenschers bemerkenswert.

Im ersten Kapitel erläutert Sonenscher, ähnlich wie Richard Tuck in „The Sleeping Sovereign“, Rousseaus Unterscheidung zwischen Souverän und Regierung und grenzt sich damit von solchen Interpret*innen ab, die Rousseau als vormodernen Autor dargestellt haben, weil er mutmaßlich jede Repräsentation ablehnte. Um den allgemeinen Ansatz seiner Studie zu erläutern, greift Sonenscher auf ein im anglo-amerikanischen Adam-Smith-Diskurs diskutiertes Theorem zurück, das danach fragt, wie die Moralphilosophie von „The Theory of Moral Sentiments“ (1759) mit der politischen Ökonomie von „The Wealth of Nations“ (1776) in Einklang zu bringen sei. Sonenscher überträgt die Fragestellung auf Rousseau. Sein „Rousseau-Theorem“ besteht in der Spannung zwischen dem düsteren Blick auf die moderne Gesellschaft in den ersten beiden Diskursen (1750 und 1755), wo Egoismus, soziale Ungleichheit und politische Willkür beschrieben werden, und dem „Contrat social“ (1762), der sich mit der Begründung von Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und Volkssouveränität beschäftigt (S. 13). Die entscheidende Frage für Sonenscher ist also, „wie man von der ersten Geschichte zur zweiten kommt, ohne Teile der ersten über Bord zu werfen oder der zweiten weitere hinzuzufügen“ (S. 13), was, so der Autor, weder Ernst Cassirer, der die Spannung zwischen den Werken erstmals ausführlich beschrieb, noch spätere Interpret*innen des Aufklärers tatsächlich beachtet haben (S. 17).

Im zweiten Kapitel kommt Sonenscher auf Cassirers „Rousseau-Problem“ zurück. Allerdings argumentiert er nun, dass diesem das sogenannte „Fénelon-Problem“ vorgelagert sei: Während internes Wachstum die Situation eines Landes gegenüber anderen Staaten verbessern und sogar das internationale Gleichgewicht positiv beeinflussen könne, trage ein verstärktes internes Wachstum auch zu sozioökonomischer Ungleichheit und politischer Zentralisierung bei. Das ist die These von François Fénelon in seinem berühmtesten Buch „Les Aventures de Télémaque“ (1699), einem der großen Bestseller des 18. Jahrhunderts. Danach gibt es zwei Gefahren für die moderne Welt. Die eine ist eine übermäßige Zentralgewalt, die andere Luxus, der die Sitten verderbe (S. 27). Sonenscher kommentiert, dass diese beiden Gefahren für Fénelon eng miteinander verbunden waren, aber offensichtlich nicht gemeinsam gelöst werden konnten. Der Versuch, die Regierung zu dezentralisieren, bedeutete, den Reichen und Mächtigen entgegenzukommen, ihre sowieso schon beträchtlichen Vorteile auszubauen, während jeder Versuch, den Auswirkungen der Ungleichheit entgegenzuwirken, verhieß, die politische Zentralregierung weiter zu verstärken (S. 27). Wenn man also eines der beiden Probleme zu lösen suchte, riskierte man, das andere zu verschlimmern (S. 48–50; S. 100–103).

Nun hatte sich für Rousseau aber die Gesellschaft deutlich weiterentwickelt und mit ihr Arbeitsteilung, soziale Ungleichheit und administrative Machtzentralisierung. Sie waren untrennbar ineinander verwoben – und damit längst nicht mehr in der Art und Weise lösbar, wie Fénelon noch geglaubt hatte. Dieser hatte argumentiert, dass man nur das Verhältnis zwischen Stadt und Land wieder in ein Gleichgewicht bringe müsse. Die Idee eines ausgewogenen Wachstums war für Rousseau jedoch eine Schimäre. Er kritisierte, wie Sonenscher zeigt, dementsprechend die verschiedenen vorgeschlagenen Reformen von Fénelon, Montesquieu und den Physiokraten (S. 51). Nicht die Schere zwischen Stadt und Land war das eigentliche Problem, sondern die inhärenten Widersprüche moderner Gesellschaften, die in diese eingeschrieben waren und nicht mehr rückgängig gemacht werden konnten (S. 65).

Sonenscher argumentiert jedoch, dass Rousseau davon überzeugt gewesen sei, dass die katastrophalen sittlichen, sozioökonomischen und politischen Folgen moderner Wirtschafts- und Finanzmarktentwicklungen, die die Gesellschaft selbst zu zerstören drohten, zu handhaben waren. Dazu bedurfte es eines institutionellen und rechtlichen Rahmens (S. 68–69), den Rousseau im Gesellschaftsvertrag darlegte (S. 67). Sonenscher unterscheidet im Weiteren deshalb drei Ebenen des Gesellschaftsvertrages. Erstens sei dieser ein sittlich-moralischer Vertrag „zwischen einem Individuum und sich selbst“, zweitens ein politischer Vertrag, den die Menschen miteinander eingehen und der als Ergebnis eine Regierung schaffe, und drittens ein verfassungsrechtlicher Vertrag, dessen Aufgabe es sei, sowohl den Gemeinwillen zum Ausdruck zu bringen als auch die Freiheit aller zu schützen (S. 68).

Wesentlich für die Lösung des Problems ist nach Sonenscher auch Rousseaus Idee einer föderalen Regierung, die er aber nicht im Gesellschaftsvertrag entwickelte, wo es nur in einer Fußnote heißt, dass auch in größeren Staaten eine gute Regierung mit der guten Ordnung eines kleinen Staates „kombiniert“ werden könne. Sonenscher wendet sich daher im dritten Kapitel vor allem Rousseaus Artikel über die politische Ökonomie (1755) sowie dem „Projet de constitution pour la Corse“ (1765) sowie den „Considérations sur le gouvernement de Pologne“ (1772) zu. In Bezug auf die Abhandlung „Économie politique“ erklärt Sonenscher, dass Rousseau bereits vor der Veröffentlichung des Gesellschaftsvertrags feststellte, dass Gesellschaften aus kleineren Einheiten (oder Gesellschaften) bestehen, die alle einen allgemeinen Willen haben, der für den Rest nichts anderes als ein privater Wille sei (S. 74–75). In den „Considérations sur le gouvernement de Pologne et sur sa réformation projetée“ (1772) machte er sich dann daran, die konstitutionelle Form eines „komplexen Verbundes“ für einen „großen Territorialstaat“ zu entwerfen (S. 76). Wichtig war dabei die Idee einer „aufsteigenden Hierarchie“ allgemeiner Willen, die die Einzelwillen nicht zerstörte oder zum Schweigen brachte (S. 77).

In der Tat interessiert sich Rousseau nach Sonenscher dafür, wie die Idee der Volkssouveränität nicht nur in kleinen Gemeinschaften, sondern in modernen Territorialstaaten umgesetzt werden könne (S. 140). Dies wird im letzten Kapitel des Buches veranschaulicht, das einen weitreichenden Überblick über Rousseaus Vermächtnis und Rezeption bietet, insbesondere unter den deutschen Autoren des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Bemerkenswert ist, dass Sonenscher das Erbe von Rousseau nicht im politischen Denken von Immanuel Kant, sondern von Georg Wilhelm Friedrich Hegel, August Ludwig von Schlözer, Robert von Mohl, Lorenz von Stein, Rudolf von Jhering, Karl Friedrich Christian Krause, Otto von Gierke und Georg Jellinek offenlegt. Für sie war Rousseau der Ausgangspunkt, um über mehrere Fragen nachzudenken, die in der modernen Rousseau-Forschung nach Sonenscher bedauerlicherweise nicht im Vordergrund stehen, darunter Fragen des Wirtschaftswachstums, der Finanzmarktpolitik sowie der Rechtsstaatlichkeit und nicht zu vergessen die Rolle des Souveräns bei der Begrenzung der Staatsmacht (S. 177). Und gerade unter dieser Perspektive lohnt sich die Lektüre von Sonenschers Monografie, die nicht nur einen Einblick in die Komplexität von Rousseaus Denken unter Einbeziehung der Diskurse des 17. und 18. Jahrhunderts bietet, sondern auch deutlich macht, warum dessen Werk Fragen mit fortdauernder Relevanz stellt und dabei überraschende Einsichten bietet.