Die neuere politikwissenschaftliche Literatur zum deutschen Wahlsystem kann man in zwei große Stränge unterteilen. Zum einen befassen sich zahlreiche Beiträge mit der Vergrößerung des Bundestages durch Überhang- und Ausgleichsmandate sowie den Optionen für eine minimal-invasive und effektive Wahlsystemreform. Zum anderen werden die psychologischen Effekte untersucht, die die Kombination aus Wahlkreis- und Listenkandidaturen auf die Wahlkampfstrategien der politischen Parteien und das Wählerverhalten hat. Die Studie von Franz Urban Pappi, Anna-Sophie Kurella und Thomas Bräuninger, die im Rahmen eines DFG-Projekts entstanden ist, lässt sich dem zweiten Literaturstrang zuordnen. Ihr Ziel ist „die Erklärung des Parteienwettbewerbs auf Basis empirisch geschätzter Wahlfunktionen der Wählerinnen unter den Bedingungen des deutschen Mischwahlsystems“ (S. 3). Im Zentrum steht die „These, dass die relative Mehrheitswahl mit der Erststimme den Parteiendualismus in dem ansonsten – d. h. wegen der Verhältniswahl – aus mehr als zwei Parteien bestehenden System fördert“ (S. 2).

Eingangs erklären Pappi, Kurella und Bräuninger, warum sie den Begriff „Mischwahlsystem“ verwenden, wie sich die institutionelle Entwicklung des deutschen Wahlsystems vollzogen hat und welche „Wirkungsparameter“ (S. 18) das Bundestagswahlsystem zwischen 1949 und 2017 hatte. Dieses Kapitel bildet den schwächsten Teil des Buches. Zunächst bleibt unklar, warum die Autor:innen erhebliche Mühe auf ihre Definition von „Mischwahlsystem“ verwenden, aber im weiteren Verlauf den gebräuchlicheren und weniger kontroversen Begriff „personalisierte Verhältniswahl“ nutzen. Der historische Abriss, der bis zur Mehrheitswahl des Kaiserreichs zurückgeht, wirkt eher eklektisch. So werden die Gründungswahlsysteme der deutschen Länder nach 1946 relativ detailliert dargestellt (S. 14–16), während ihre weitere Entwicklung unerwähnt bleibt. Der komplizierte Reformprozess des Bundestagswahlsystems seit 2008 wird in nur einem Satz abgehandelt (S. 18). Auch die Darstellung der Wahlsystemeffekte auf den Stimmen-Mandate-Proporz und die Konzentration des Parteiensystems enthält nichts wirklich Neues. Sie mündet in die „wichtige Schlussfolgerung, dass man die Entwicklungsdynamik eines Parteiensystems auf der Makroebene aggregierter Wahlergebnisse […] nicht mit einem Wahlsystem erklären kann, das in seinen Grundzügen im gesamten Zeitraum unverändert blieb“ (S. 26). Diese Feststellung ist freilich schon lange Konsens in der deutschlandbezogenen Wahlsystemforschung.

Danach entwickeln Pappi, Kurella und Bräuninger jedoch eine systematische Argumentation, die in theoretischer wie methodischer Hinsicht überzeugt. Zunächst erläutern sie ihr Erklärungsmodell, das in der Tradition von Anthony Downs die Parteien- und Wählerebene zusammenführt und für den „Parteienwettbewerb im gemischten Wahlsystem“ (S. 58) spezifiziert wird. Dieses Kapitel lässt sich auch mit Gewinn als allgemeine Einführung in die räumliche Theorie des Parteienwettbewerbs lesen. In drei weiteren Kapiteln wird das Modell auf den Kontext der Bundestagswahlen angewendet. Die Erklärung der individuellen Wahlentscheidungen und der daraus resultierenden Wahlergebnisse erfolgt anhand von Pauschalurteilen über Parteien, die sich aus „zwei Grundbestandteilen räumlicher Wahlfunktionen“ (S. 63) ergeben: den ideologischen Distanzen zwischen den einzelnen Wähler:innen und Parteien sowie dem Ansehen der Parteien in der gesamten Wählerschaft (Parteivalenzen). Hinzu kommen die wahrgenommenen Parteistandpunkte zu strittigen Wahlkampfthemen (Issues). Die empirischen Analysen, die auf Daten der German Longitudinal Election Study (GLES) und anderer Studien basieren, führen zu interessanten Befunden, die bereits vereinzelte Bezüge zum Wahlsystem haben. Beispielsweise können Pappi, Kurella und Bräuninger für die Bundestagswahlen zwischen 1961 und 2017 zeigen, dass hohe Valenzen, also eine positive Parteireputation in der gesamten Wählerschaft, „die Mehrheitswahlrepräsentation mehr befördern als die Verhältniswahlrepräsentation“ (S. 101).

Die folgenden drei Kapitel konzentrieren sich auf die psychologischen Effekte, die aus der spezifischen Kombination von Wahlkreis- und Listenmandaten resultieren. Genauer gesagt geht es um die Wechselwirkungen, die die beiden Komponenten der personalisierten Verhältniswahl auf das Verhalten von Parteien, Kandidat:innen und Wähler:innen haben. Ein Befund sticht hier besonders heraus: Direktkandidat:innen mit hohem Valenzvorsprung – typischerweise Amtsinhaber:innen – haben nicht nur einen positiven Effekt auf den Zweitstimmenanteil ihrer eigenen Partei, sondern wirken sich auch nachteilig auf den Zweitstimmenanteil der anderen großen Partei aus, während die kleineren Parteien kaum beeinflusst werden (S. 209–213). Aus Sicht der Autor:innen wird dadurch nicht nur „die größte jeweilige Kanzlerpartei über die Zeit hin“ stabilisiert, sondern es werden auch der „Parteiendualismus und de[r] Einfluss der Wähler auf die Regierungsbildung“ gestärkt (S. 220). Allerdings scheint es nur ein „kleine[r] Teil der Wählerschaft“ zu sein, der auf diese Weise „von Qualitätssignalen der Direktkandidaten wie der Amtsinhaberschaft beeinflusst wird“ (S. 213). Außerdem hat sich dieser Effekt „in der jüngsten Periode des Fünf-Parteien-Wettbewerbs“ deutlich abgeschwächt. Darin ist die Bundestagswahl 2021 noch gar nicht enthalten, bei der die Stimmenanteile der Wahlkreissieger:innen auf einem historisch geringen Niveau lagen und die First-past-the-post-Entscheidung vielerorts nicht zwischen zwei, sondern zwischen drei oder gar vier Kandidat:innen fiel. Es wäre mithin interessant zu sehen, inwiefern sich der Mehrheitsbonus durch bipolaren Parteienwettbewerb, der lange Zeit für die personalisierte Verhältniswahl charakteristisch war, auch noch unter den gegenwärtigen Bedingungen zeigt.

Ganz am Ende kommen Pappi, Kurella und Bräuninger kurz auf die noch immer andauernde Reform des Bundestagswahlsystems zu sprechen. Den beteiligten Politiker:innen und Wissenschaftler:innen werfen sie vor, „die zu erwartenden psychologischen Effekte nach Duverger“ (S. 216) nicht hinreichend berücksichtigt zu haben. Leider erklären die Autor:innen nicht, welche Effekte genau unbeachtet geblieben sind und – vor allem – welche konkreten Lehren die vorliegende Studie für den aktuellen Reformprozess bereithält. Schon dafür würde sich eine aktualisierte Auflage dieses lesenswerten Buches lohnen.