Reinhard Mehring ist unbestritten der profundeste Kenner der Biografie und des Werkes von Carl Schmitt. Vom ihm stammen die heute auch international maßgebliche Schmitt-Biografie (sie ist im Frühjahr 2022 in überarbeiteter Fassung neu erschienen) sowie eine Vielzahl an Aufsätzen und Rezensionen zur Schmitt-Sekundärliteratur. In den vergangenen zehn Jahren ist ein gewichtiger Teil dieser Aufsätze in drei umfangreichen Sammelbänden erschienen. Der vorliegende Band vereint ein weiteres Mal Aufsätze – 25 an der Zahl – zu verschiedenen Themen aus seinen unermüdlichen Schmitt-Forschungen.

Mehrings Schreibstil ist flott, zuweilen wirkt er gar etwas aufzählend abgehackt und atemlos. Schmitt hätte sicherlich anders geschrieben. Aber genau das macht die Stärke von Mehrings Beiträgen aus. Denn sein objektivierender, pathosfreier Stil erzeugt eine Distanz zum Werk von Schmitt, die ihn – und damit auch seine Leser und Leserinnen – vor hagiografischen Anwandlungen schützt, wie sie bei solch einer intimen Kenntnis eines Autors ansonsten fast zwangsläufig auftreten. Ein nicht geringer Teil der apologetischen Sekundärliteratur zu Schmitt bestätigt diese Art von Risiken und Nebenwirkungen der theoriebiografischen Forschung immer wieder aufs Neue. Mehring hingegen redet um Schmitts Engagement für den Nationalsozialismus, seinen lebenslangen Antisemitismus, seine persönlichen Marotten sowie seine verdrucksten Kommunikationen und Kommunikationsabbrüche nicht herum.

Die für diese Aufsatzsammlung titelgebende Formulierung „Carl Schmitts Gegenrevolution“ steht für eine These, die aufbauend in vier Schritten über den Weg theoriebiografischer Detailstudien genauer entfaltet wird. Es beginnt mit einer Rekapitulation der politischen Motive, die bei Schmitt am Anfang der Weimarer Republik standen. Dazu gehören seine Ablehnung des als romantischer Utopismus despektierlich in die Ecke gestellten Werkes von Novalis, seine persönliche Verarbeitung der Revolution von 1918, seine scharfe Beobachtung und Kritik des Anarchismus sowie sein frühes Interesse am spanischen Gegenaufklärer Donoso Cortés. In diesem Abschnitt des Buches findet sich auch ein kurzer Blick auf die Pandemie der Spanischen Grippe 1918/1919 und die Grenzen der Maßnahmenkompetenzen im Falle der Ausrufung eines Notstandes. Grundsätzlich neu ist in diesen ersten sechs Kapiteln nichts – jedes Mal aber werden Details, die bislang nicht bekannt waren, aus Archivmaterialien geschöpft.

Im Zentrum des zweiten Abschnitts steht Schmitts Liberalismuskritik. Es finden sich Studien zu Schmitts Verhältnis zu Max Weber, Moritz J. Bonn und Hans Kelsen. Auch ein älterer Beitrag zu Schmitt und Otto Kirchheimer findet sich hier, den Mehring umsichtig auf den neuesten Stand der Forschung gebracht hat. Originell ist ein kurzer Artikel über Webers letzte Worte, der erstmals im Sommer 2020 in der Süddeutschen Zeitung abgedruckt wurde (und dort später auf Widerspruch stieß). Mehring vermutet, dass nicht „Cato“ der von Max Weber, fiebernd von der Spanischen Grippe, auf dem Totenbett zuletzt gerufene Name gewesen sei, wie Marianne Weber es berichtet hat, sondern der dessen Leben beschließende Ruf nach der Suche nach Wahrheit „Plato“ gegolten habe. Mehring greift für seine Vermutung auf die nietzscheanische Enttäuschungsgeschichte Webers in „Wissenschaft als Beruf“ zurück. Das klingt nicht völlig unplausibel. Als Leser ertappt man sich allerdings unwillkürlich bei dem Gedanken an den satirisch anmutenden Streit darüber, ob Goethe vor seinem Tod nicht vielleicht doch nach „mehr Milch“ statt „mehr Licht“ verlangt hatte.

Der dritte Teil ist mit „Antwortsuche und mythische Verstrickung“ überschrieben. Einmal mehr geht es um Schmitts Rousseau-Bild, seine Auseinandersetzungen mit Hegel, Savigny und Bruno Bauer. Der spannendste Beitrag in diesem Teil ist aber zweifellos ein Aufsatz über Schmitt als Theatergänger während des Nationalsozialismus. In seinem Spätwerk hatte sich Schmitt nach der Befreiung Deutschlands von der nationalsozialistischen Diktatur mehrfach mit Shakespeare beschäftigt und darüber sogar ein größeres Buch geplant. Es blieb bei kleineren Veröffentlichungen, vor allem sein 1956 erschienenes Buch „Hamlet oder Hekuba“. Mehring erinnert in seinem Aufsatz nicht nur an die Theaterbesuche des Preußischen Staatsrates Schmitt in der Loge von Hermann Göring im Berliner Schauspielhaus am Gendarmenmarkt, sondern fragt auch nach den Inszenierungen, die er dort gesehen haben wird. Mit dem Intendanten und Starschauspieler Gustaf Gründgens, ebenfalls Preußischer Staatsrat, war Schmitt lose bekannt. Gründgens feierte im Berliner Schauspielhaus neben seiner Paraderolle als Mephisto auch als Hamlet große Erfolge. Es liegt nahe, dass diese Inszenierungen den ersten Anstoß für Schmitt gaben, sich genauer mit diesem Sujet zu beschäftigen. Eine der Pointen des Aufsatzes besteht in der Vermutung, dass sich Schmitt nach 1945 auch deshalb mit Hamlet als Typus des Intellektuellen identifizierte, weil er dadurch die für ihn weitaus näherliegende Parallele zu Mephisto vermeiden konnte. Ganz im Vorbeigehen wischt Mehring auch die Interpretation Schmitts, bei diesem Theaterstück Shakespeares handele es sich um den Einbruch der Zeit, in seinem bedeutungsschwangeren Geraune vom Tisch.

Im vierten und letzten Abschnitt widmet sich Mehring verschiedenen Facetten aus dem Spätwerk von Schmitt. Aus dessen Korrespondenz mit dem Max-Weber-Editor Johannes Winckelmann wird einmal mehr deutlich, welche theoriestrategischen Winkelzüge Schmitt im Interesse der Steuerung der eigenen Rezeption unternahm. So stemmte er sich gegen eine liberale Lesart des Werkes von Weber und stimmte Wolfgang J. Mommsens Lesart zu, wonach Weber ein Verfechter des charismatischen Führertums gewesen sei. Schmitt sah sich durch solche Interpretationen, die auf der Linken von Herbert Marcuse oder Jürgen Habermas ihrerseits wohlwollend aufgegriffen wurden, gleichsam historisch rehabilitiert. In diesem Abschnitt finden sich auch zwei interessante Aufsätze zum Verhältnis von Carl Schmitt und Herfried Münkler. Mehring stellt den kurzen Briefwechsel zwischen beiden vor, aus dem deutlich wird, wie Münkler – anders als viele andere Briefpartner Schmitts – nicht in Ehrfurcht vor dem Alten aus Plettenberg in die Knie ging. Münklers Verhalten erinnert darin an zwei andere Briefpartner Schmitts, Otto Kirchheimer und Ingeborg Maus. Mehring hat in diesen Abschnitt ein Kapitel über die Coronapolitik der Regierung Merkel sowie ein sich wie eine Peter-Hacks-Persiflage lesendes „Gespräch mit Damen über den abwesenden Herrn Schmitt“ beigefügt, die beide etwas erratisch anmuten.

Insgesamt aber bietet Reinhard Mehrings ausgesprochen lesenswerter Band viele Detailinformationen und kluge Einzelinterpretationen über ein Leben und ein Werk, von dem man vor Beginn der Lektüre angenommen hatte, es sei bereits nahezu restlos überforscht.