Demokratie stehe „als real existierende Herrschaftsform, aber auch als theoretisches und normatives Konzept“ (S. 10) unter Druck, so die HerausgeberInnen in ihrem Vorwort. Von der „Distanz zwischen politischen Akteuren einerseits und Bürgern andererseits“ ist die Rede, von der Herausforderung „politische Realität mit Erwartungshaltungen und Deutungsmustern in Einklang zu bringen“, oder dem „Zwiespalt zwischen individuellem Freiheitsbedürfnis und allgemeinen Sicherheitserwartungen“ (S. 9). Die Beiträge der Tutzinger Call-for-Paper-Konferenz „Demokratie revisited. Theorien – Befunde – Perspektiven“, die im Oktober 2016 stattfand, setzen sich, so die Ankündigung, „mit der Entwicklung der Demokratie in ihren theoretischen wie praktischen Bezügen“ (S. 9) auseinander und seien trotz Verzögerungen im Veröffentlichungsprozess „aktueller denn je“ (S. 10). Auch der Klappentext klingt sehr vielversprechend; man könnte meinen, dass Demokratie, wie in der aktuellen internationalen Diskussion (z. B. in der ECPR-Blogserie THE LOOP Science on Democracy), als ein „essentially contested concept“ anerkannt wird und die Konsequenzen theoretisch-konzeptionell und auf den Ebenen des Regierens sowie auf internationaler Ebene diskutiert werden. Die methodischen Konsequenzen, die sich aus der Anerkennung eines solchen permanenten Wandels des Demokratiebegriffs ergeben, werden jedoch – zur ersten Enttäuschung – weder im Klappentext noch im Vorwort oder in der Gliederung des Sammelbandes als Inhalt der Überlegungen aufgeführt.

Der Sammelband ist in sechs Sektionen strukturiert. In der Sektion I „Krise der Demokratie?“ wird in fünf Beiträgen mit ganz unterschiedlichem Fazit verhandelt, ob von einer Krise der liberalen Demokratie die Rede sein kann (Vorländer, Schultze, Klages, Franzius, Lüddecke). Die Sektion II zu „Demokratie als Parteiendemokratie?“ beinhaltet zwei Beiträge zum Stand der empirischen Repräsentativitätsforschung und ihrer Weiterentwicklung (Kranenpohl und Lehmann). Die III. Sektion zu den Themen „Demokratie, Medien und Demoskopie“ gibt einen Rückblick auf das Arbeitsleben eines Medienschaffenden (Hefty) und diskutiert die Potenziale und Gefahren der Umfrageforschung für die Demokratie (Ohliger/Ohliger). In der Sektion IV „Partizipation, direkte und digitale Demokratie“ werden das demokratiegefährdende Potenzial der digitalen Transformation (Münch), die System(un)verträglichkeit direktdemokratischer Verfahren (Decker und Brettschneider), die Idee einer Referendumsdemokratie in der EU zum Abbau des Legitimitätsdefizits (Kalina) und das Debat-O-Meter als Instrument gegen Politikverdrossenheit (Wagschal et al.) diskutiert. In der Sektion V „Auf dem Weg zur ‚Postdemokratie‘?“ werden in zwei Beiträgen, die in ihrer Ausrichtung innerhalb eines Pols zwischen Bewahren und Progression nicht weiter voneinander entfernt sein könnten, von von Alemann und Seyferth die Postdemokratie als Papiertiger, Begriffshülse und Neologismus diskutiert sowie in einem normativen Vorstoß der Anarchismus als „neue“ Demokratie.

Kalina und Münch fassen im „Epilog: Herausforderungen für die politische Bildung“ in ihrem Abschlussbeitrag „Mobilisierung der Demokratie. Herausforderungen und Ansatzpunkte für politische Bildung“ als HerausgeberInnen des Sammelbandes eine Vielzahl an gegenwärtigen Herausforderungen der Demokratie, die auch in Teilen im Sammelband besprochen wurden, zusammen. Richten soll all das die politische Bildung, so legt der Aufbau der Argumentation dieses Abschlussbeitrags nahe.

Politischer Bildung kommt unhinterfragt gerade in der Frage der Förderung demokratischer Normen und Werte eine große Rolle zu. Aber eine alleinige Heilbringerin für die komplexen Herausforderungen der liberalen Demokratie ist sie gewiss nicht. Eine Rückeroberung der Steuerungshoheit des (neoliberalisierten) Staates als Strategie der Gegensteuerung bleibt als mögliche Antwort auf die aktuellen Herausforderungen ausgeblendet. Um soziale und politische Ungleichheit mit allen Konsequenzen für demokratische politische Systeme zu bekämpfen, stünden dann notwendigerweise Reformoptionen im Bereich der sozialen, wirtschaftlichen oder digitalen Infrastruktur im Vordergrund.

Auch auf theoretisch, konzeptioneller Ebene bleibt der Sammelband insgesamt weit hinter den anfänglich geweckten Erwartungen zurück. Der Schwerpunkt des Buches liegt im Wesentlichen auf der liberalen Demokratie und dem Westen. So kommen beispielweise weder eine globale Perspektive des Konzepts der Demokratie vor noch ein Nachdenken über eine Entkolonialisierung der Demokratietheorie und des Demokratiekonzepts als Antwort auf den globalen Wettbewerb um die beste Regierungsform. Kein Wort fällt über möglicherweise attraktive Systemalternativen, technokratischer Art, Expertenregierungen etc. Auch damit zusammenhängende Überlegungen zur Universalität oder Relativität des Demokratiekonzepts oder wie dieses denn aussehen müsse, wenn es weiterhin einen globalen Anspruch vertreten will, finden nicht statt. Der Essentially-contested-Charakter des Demokratiekonzepts wird lediglich in einem (!) Beitrag des Sammelbandes zur Demokratie im 21. Jahrhundert zur Kenntnis genommen. Auch Überlegungen zu methodischen Konsequenzen eines umkämpften Charakters von Demokratie für die Messung der Demokratiequalität, Demokratiezufriedenheit oder des Demokratieverständnisses bleibt der Sammelband schuldig.

Insgesamt liest sich der Sammelband eher wie ein Buch über Demokratie im 20. Jahrhundert, da die Überlegungen an vielen Stellen nicht zeitgemäß sind und nicht alles liegt an der verzögerten Publikation der Vorträge aus dem Jahr 2016 im Jahr 2020. So dominieren auffallend (viele emeritierte) Männer die Autorenschaft, die auch aus anderen Blickwinkeln nicht sehr divers ist, und die Perspektiven sind, von wenigen Ausnahmen abgesehen, auf den Status quo der Disziplin gerichtet, nicht darüber hinaus. So gelingt z. B. nicht einmal in Ansätzen die Einnahme einer nichtwestlichen oder sogar postkolonialen Perspektive und die liberale Demokratie, wenn auch inzwischen sogar innerhalb des Westens als nicht mehr voll funktionsfähig diskutiert, bleibt dominierender Ausgangspunkt aller Überlegungen. Erstaunlich ist diese einseitige (westliche) Perspektive auf Demokratie insbesondere deshalb, als viele AutorInnen der gesellschaftspolitischen Veränderungen durch Globalisierung und Transnationalisierung durchaus gewahr sind.