Die Diskussion der letzten Jahrzehnte über Regression und Krise der Demokratie ist sehr stark auch eine Diskussion über unzulängliche und scheiternde Repräsentation. Vermeintliche oder echte Repräsentationslücken werden für das Erstarken des Populismus verantwortlich gemacht und die geringe und ungleiche Responsivität politischer Entscheidungen für Interessen und Präferenzen der Bürger*innen als gebrochenes Versprechen demokratischer Selbstbestimmung interpretiert. Zugleich mehren sich Stimmen, die bezweifeln, dass Responsivität überhaupt ein angemessener Maßstab zur Bewertung politischer Repräsentation ist. Viele von ihnen, so etwa Achen und Bartels in ihrer aufsehenerregenden Studie „Democracy for Realists“ (2017) stellen die mangelnde Kompetenz der Bürger*innen, ihren eigenen Interessen entsprechende politische Präferenzen zu bilden, in den Vordergrund und bemühen sich, die Idee, dass Repräsentant*innen auf vorpolitische Präferenzen der Bürger*innen responsiv reagieren, als Fiktion zu enttarnen.

Lisa Disch schließt nun mit ihrem schmalen, aber sehr dicht argumentierten Band an empirische Befunde zur Endogenität politischer Interessen und Präferenzen sowie an die konstruktivistische Wende in der Repräsentationstheorie an, plädiert auf dieser Grundlage allerdings für einen ganz anderen Realismus als etwa Achen und Bartels. Im ersten von insgesamt sieben Kapiteln des Buches beginnt sie hierzu mit einer Verteidigung des Mobilisierungsbegriffes. Mobilisierung bezeichnet für Disch einen Mechanismus, durch den Akte politischer Repräsentation soziale und politische Gruppen und Konfliktlinien schaffen und aktivieren. Aus dieser Perspektive reagieren nicht Repräsentant*innen auf Wünsche und Anliegen von Bürger*innen, sondern die Bürger*innen lassen sich von Repräsentant*innen mobilisieren. Ihr zentraler analytischer Begriff ist dabei der der „constituency effects“. Mit diesem identifiziert sie die Auswirkungen, die politische Entscheidungen und Programme auf die Politisierung oder Depolitisierung von Konflikten, auf die Konstituierung sozialer Gruppen und die Bildung von Präferenzen haben. Disch nimmt dabei sehr klug auf Ergebnisse der Policyforschung zu Policy-Feedback Bezug, die, wie sie im Folgekapitel deutlich macht, Anlass dazu geben, die Idee politischer Responsivität grundsätzlich infrage zu stellen.

Das dritte Kapitel greift dann schon im Titel die Frage auf, ob eine realistische Haltung mit einem klaren Bekenntnis zur Demokratie kompatibel ist: „Can the realist remain a democrat?“ Hier nimmt sie sich den Realismus von Achen und Bartels vor, der einerseits die Endogenität politischer Präferenzen betont, dabei aber anderseits an der Idee primordialer Interessen und Gruppen festhält und für Disch im Ergebnis notwendig elitistische und antidemokratische Implikationen hat. Diesem stellt sie ein Verständnis von Realismus als Machtkritik gegenüber, das nach Handlungsmotiven fragt und diese als Funktion institutionellen Designs begreift. Im vierten Kapitel entwickelt sie entsprechend im Anschluss an Schattschneider einen analytischen Rahmen für realistische Analysen, die auf das politisch konstituierte Konfliktsystem einer Gesellschaft und die institutionell bedingten organisatorischen Verzerrungen in diesem Bezug nehmen.

Wenn nun aber politische Interessen und Konflikte selbst politisch konstituiert sind, drängt sich die Frage nach den Gefahren politischer Manipulation durch Eliten auf. Sind Bürger*innen dann nur noch als Stimmvieh zu betrachten, das von den eigenen Repräsentant*innen in die erwünschte Richtung getrieben wird? Disch greift hier eine über 40 Jahre alte Studie von Goodin auf, die, wie sie zeigt, für die Analyse der heutigen internationalisierten und digitalisierten Informationslandschaft aufschlussreich bleibt. Goodin zeigt, so Lisa Disch, dass Manipulationen nicht zwangsläufig zur Gefahr für die Demokratie werden müssen, solange sie prinzipiell enttarnt werden und durch gegenläufige Manipulationsversuche konterkariert werden können. Problematischer sei eine Diskursumwelt, in der betrügerische und strategische Kommunikation verborgen und unwidersprochen bleiben. Ziel ist für sie somit ein „critical framework that trains attention away from the epistemic quality of individual beliefs and toward the systemic conditions under which political opinions and judgments are formed“ (S. 99).

An ein solches Desiderat anschließend plädiert Disch in den abschließenden zwei Kapiteln schließlich für ein radikaldemokratisches Demokratieverständnis in der Tradition von Lefort, Mouffe und Laclau. An dieser Stelle wird der Text für mit entsprechenden Theorien weniger vertraute Leser*innen undurchdringlicher. Hier zeigt sich durchaus auch, warum radikale Demokratietheorien für das außerakademische Publikum oftmals opak bleiben, was unter anderem daran liegt, dass zentrale Begriffe (wie „Antagonismus“ und „Artikulation“) stipulativ am Alltagsverständnis und dem gängigen Gebrauch in der Fachsprache vorbei definiert werden.

Insgesamt ist Lisa Dischs Studie jedoch ein hoch relevanter Beitrag zur zeitgenössischen Demokratietheorie, der das Potenzial hat, Diskussionen über politische Repräsentation in kommenden Jahrzehnten entscheidend mitzuprägen. Die Art und Weise, in der Disch empirische Studien kenntnisreich rezipiert und klug und sorgfältig ihre normativen Implikationen herausarbeitet, ist beeindruckend und zeigt das Potenzial einer vertieften Zusammenarbeit zwischen Politischer Theorie und empirischer Demokratieforschung. Argumentativ ist das Buch insbesondere in den ersten Kapiteln so klar, zugänglich und stringent verfasst, dass es für die empirische Repräsentationsforschung nicht zu ignorieren ist. Jeder, der die Responsivität politischer Entscheidungen untersuchen und zum Maßstab für ihre demokratische Qualität machen möchte, muss auf die von Disch vorgebrachten Einwände eine angemessene Antwort finden – was nicht leicht sein wird.

Nach der ausgesprochen aufschlussreichen und gewinnbringenden Lektüre bleibt dennoch die Frage, ob eine konstruktivistische Perspektive auf Repräsentation auch die Demokratiekonzeptionen von Bürger*innen selbst informieren kann. Müssen sich Bürger*innen nicht zwangsläufig als autonome Quelle von Handlungsgründen begreifen, statt ihre Interessen und Anliegen als reine Reaktion auf politische Mobilisierung durch Eliten zu betrachten? Akademischen Realisten wie Achen und Bartels auf der einen und Disch auf der anderen Seite mögen die nach dem Verzicht auf die Idee der Responsivität verbleibenden Gründe für die Demokratie ausreichen, die Mehrzahl der Bürger*innen wird aber eher nach einem attraktiveren Selbstverständnis suchen.