FormalPara Weber, Max (2020): Praktische Nationalökonomie. Vorlesungen 1895–1899. Max Weber Gesamtausgabe Bd. III/2. Hrsg. Hauke Janssen in Zusammenarbeit mit Cornelia Meyer-Stoll und Ulrich Rummel

Tübingen: Mohr Siebeck. 793 Seiten. 389,00 €

Als im Jahr 1984 der erste Band der Max Weber Gesamtausgabe erschien, kritisierte Wilhelm Hennis in einem seiner gewittrigen Artikel in der FAZ den immensen personellen und finanziellen Aufwand des geplanten Editionsunternehmens. Er hielt diesen Aufwand für monströs und übertrieben. Dennoch lobte er den ersten Band als „ein wissenschafts- und editionsgeschichtliches Ereignis ersten Ranges“ (FAZ vom 15. September 1984). Nachdem die Gesamtausgabe nun mit der Edition der Vorlesungen zur „Praktischen Nationalökonomie“ endlich abgeschlossen vorliegt, kann man Hennis’ Lob auf die meisten Bände des Unternehmens ausweiten. Die „Max Weber Gesamtausgabe“ (MWG) ist, gemessen an ihrem personellen und finanziellen Aufwand, das größte sozialwissenschaftliche Editionsunternehmen der Geschichte.

Mit der abgeschlossenen MWG verändert sich der Blick auf Webers Werk. Die „Wissenschaftslehre“ gibt es nicht mehr. Auch Webers vermeintliches Hauptwerk, „Wirtschaft und Gesellschaft“, das Produkt einer kompilierenden Edition eines Torsos von Texten, die zu verschiedenen Zeiten entstanden, zum Teil nur Fragment waren, einer unterschiedlichen Terminologie folgten und jedenfalls keine Einheit bildeten, wurde tranchiert und neu formatiert. Die Texte sind nun auf mehrere Bände verteilt. Blickt man zurück, dann ist die MWG das Ergebnis zäher Kämpfe, zumal einige der Gesamtherausgeber in zentralen editorischen und werkexegetischen Fragen völlig konträre Auffassungen vertraten. Es ist somit kaum verwunderlich, dass manche Redaktionssitzung von erbittertem Streit geprägt war. Hinzu kamen individuelle Aussetzer. Einige Einzelbandherausgeber waren auch nach Jahrzehnten nicht in der Lage, die ihnen anvertrauten Bände publikationsreif zu edieren, sodass sie von ihren Aufgaben entbunden und durch neue Herausgeber ersetzt wurden.

Die Natur eines so großen Unternehmens, das sich über Jahrzehnte erstreckte, mit Dutzenden von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, bringt es mit sich, dass die Einzelergebnisse ungleich ausfielen. Zu den editorischen Glanzleistungen der MWG zählen Christoph Brauns meisterliche Edition der „Musiksoziologie“, die weit über den musiksoziologischen Kontext hinaus Webers Denken und ideengeschichtlichen Hintergrund entschlüsselt; der Band „Landarbeiterfrage, Nationalstaat und Volkswirtschaftspolitik“, herausgegeben von Wolfgang J. Mommsen und Rita Aldenhoff; Knut Borchardts Edition der „Börsenschriften“ und nicht zuletzt die Editionen der Briefbände, die einen neuen Zugang zu Webers Leben und Werk eröffnen, überwiegend ediert von M. Rainer Lepsius und Wolfgang J. Mommsen, den Grandseigneurs der MWG.

In anderen Fällen fiel das Ergebnis enttäuschend aus, so bei der Edition des Erstdrucks von Webers berühmtestem Werk „Die protestantische Ethik und der ‚Geist‘ des Kapitalismus“ in Band I/9 der MWG. Hier sei nur die Behandlung eines prominenten Weberzitats angeführt: „Fachmenschen ohne Geist, Genußmenschen ohne Herz: dies Nichts bildet sich ein, eine nie vorher erreichte Stufe des Menschentums erstiegen zu haben.“ Dass dieses Zitat nicht von Weber selbst stammt, ist klar, denn er setzt es in Anführungszeichen. Aber von wem stammt es? Dies zu ermitteln wäre die Aufgabe eines derart aufwendigen Editionsunternehmens gewesen, zu dessen Zielen es gehört, „direkte und indirekte Zitate Webers“ nachzuweisen, wie M. Rainer Lepsius klarstellte. Doch der Band-Herausgeber Wolfgang Schluchter zuckt nur mit den Achseln und erklärt in einer Fußnote: das Zitat habe „nicht nachgewiesen“ werden können. Das ist kaum zu fassen, schließlich kann man im digitalen Zeitalter mit einem Mausklick herausfinden, woher das Zitat stammt, nämlich aus Gustav Schmollers „Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre“ (1900). Es lautet dort: „Genußmenschen ohne Liebe und Fachmenschen ohne Geist, dies Nichts bildet sich ein, auf einer in der Geschichte unerreichten Höhe der Menschheit zu stehen!“. Ernüchtert wies der Historiker Hans-Christof Kraus in der FAZ vom 30. März 2016 als erster auf diese Quelle hin.

Demgegenüber ist der Band mit Webers Vorlesungen zur „Praktischen Nationalökonomie“, mit dem die MWG nun ihren Abschluss findet, das Musterbeispiel einer vorzüglichen Edition. Der Band, herausgegeben von Hauke Janssen in Zusammenarbeit mit Cornelia Meyer-Stoll und Ulrich Rummel, führt zurück in die Jahre nach Webers erster Berufung auf einen Lehrstuhl für Nationalökonomie und enthält die Vorlesungen, die er zwischen 1895 und 1899 zunächst in Freiburg und dann in Heidelberg hielt. Die Vorlesungen, die Weber zumeist hastig und nur in Stichworten aufs Papier warf, sind in dieser Stichwort-Form ediert. Sie bieten daher keine leichte Lese-Kost. Aber ihr Inhalt ist umso gewichtiger, denn sie zeigen, wie sich Webers Forschungsinteresse zu formen beginnt: ein charakteristischer Denkstil, ein typischer Blick. Sie enthalten im Kern bereits viele Positionen seines Werks, insbesondere zur Werturteilsfrage und zum Zusammenhang von Calvinismus und Kapitalismus.

In den Vorlesungen tritt auch Webers leidenschaftlich nationale Werthaltung hervor, die in seiner Freiburger Antrittsrede in der schroffen Forderung gipfelt, die Nationalökonomie habe den „machtpolitischen Interessen der Nation“ (MWG I/4, S. 561) zu dienen. Es ist keineswegs paradox, dass in den frühen Vorlesungen die Grundlagen seiner späteren Werturteilslehre gelegt werden, denn entgegen einem tradierten Missverständnis vertritt Weber ja keine naiv-positivistische Theorie der Wertfreiheit, sondern er beharrt auf der Wertgebundenheit jeder Wissenschaft. Dennoch steht Webers leidenschaftliche Werthaltung in einem vertrackten Verhältnis zu seinen Reflexionen zur Werturteilsfrage. Wir haben es hier mit einer explosiven Mischung aus kühlen Wertfreiheitsmaximen und hitzigen politischen Forderungen zu tun, wie der Herausgeber Hauke Janssen mit Recht betont (S. 30). Für den jungen Weber ist die Volkswirtschaftspolitik jedenfalls keine „wertfreie“ Wissenschaft, denn sie beurteilt die Wirtschaftspolitik unter dem „Gesichtspunkt dessen, was sein soll“ (S. 132). Sie ist für ihn, wie er in der Freiburger Antrittsrede erklärt, „eine politische Wissenschaft“.

Weber mustert zunächst den Wandel der wirtschaftspolitischen Systeme von der Antike bis zur Moderne, untersucht die unterschiedlichen Maßstäbe der Wirtschaftspolitik und schließlich die einzelnen Zweige der Praktischen Nationalökonomie, die Bevölkerungs‑, Handels‑, Verkehrs- und Gewerbepolitik. Er wehrt sich gegen die verbreitete Auffassung, die Entwicklung der Wirtschaftsformen sei als teleologische Entwicklung hin zu höheren Formen zu verstehen. Es geht ihm darum, das jeweils Typische der verschiedenen Formen herauszustellen. Weber spricht hier zwar noch nicht vom „Idealtypus“, aber die typisierende Methode ist hier bereits angelegt. Zudem ist bereits das charakterologische Motiv zu erkennen, das Wilhelm Hennis hervorgehoben hat: dass jede (Wirtschafts‑)Ordnung auf die Frage hin zu prüfen sei, welchen „Menschentypus“ sie eigentlich forme. Nicht zuletzt präsentiert die Edition einen genealogisch packenden Befund, denn hier finden sich die ersten Spuren von Webers These zum Zusammenhang zwischen protestantischer Ethik und kapitalistischem Geist: In den Ausführungen zu den spanischen Missionskolonien Südamerikas kontrastiert Weber die Praxis in diesen katholischen Kolonien mit der calvinistischen Lebensführung in den protestantischen Handelsstädten Europas, wo die Arbeit zum allgemeinen „Lebenszweck“ geworden (S. 241) und der Erwerbstrieb derart blühte, dass der Kapitalismus entfesselt wurde (S. 243).

Obwohl Weber nach seiner ersten Berufung gegenüber seiner Frau damit kokettiert, er höre gerade „zum erstenmal bei sich selbst die großen nationalökonomischen Vorlesungen“, ist er im Fach keineswegs ein unbeschriebenes Blatt. Er ist Mitglied im „Verein für Socialpolitik“; er hat sich mit einer wirtschaftsgeschichtlichen Arbeit habilitiert und sich mit seiner Auswertung einer agrarökonomischen Enquete zur Lage der ostelbischen Landarbeiter im Fach profiliert. Nicht zuletzt gehört er zu den wichtigsten Börsenexperten in Deutschland, wie der MWG-Band der Börsenschriften dokumentiert. Dennoch ist die Lehre für Weber eine Herausforderung. Ein Großteil des Vorlesungsstoffs ist für ihn Neuland. Er gesteht einem Doyen des Fachs, Adolph Wagner, er sehe sich „auf 9/10 des Gebietes, das ich vertreten soll, als Anfänger“.

Bisher wusste man kaum etwas darüber, wie Weber sich die großen Stoffmengen aneignete. Der Herausgeber Janssen zeigt: Weber griff zunächst auf „die einschlägigen Artikel in den gängigen Handbüchern zurück, die den verzweigten Stoff bereits in übersichtlich komprimierten Einzeldarstellungen darboten. So entpuppen sich Webers Vorlesungsmanuskripte an vielen Stellen im ersten Schritt als ein rasch zusammengestellter Extrakt aus Kompendiumsartikeln“ (S. 9). Dabei verschwieg Weber meist die tatsächlich verwendeten Handbuchartikel und gab stattdessen die vertiefenden Standardwerke an, die er aus den Handbuchartikeln übernahm (S. 12). Heute würde man sagen: ein Fall von Camouflage.

Die Edition der „Praktischen Nationalökonomie“ beruht nicht zuletzt auf einer erfolgreichen Detektivarbeit. Es gehört zu den großen Leistungen Janssens, die Quellen aufgespürt zu haben, auf die sich Weber stützte. Als langjähriger Leiter der Faktenchecker-Abteilung des SPIEGELs ist er für diese Aufgabe geradezu prädestiniert, denn er bringt neben dem detektivischen Spürsinn auch das nötige Misstrauen mit. Er ist es gewohnt, den Quellenangaben eines Autors zunächst einmal nicht zu glauben. Überhaupt verhält er sich gegenüber Weber erfrischend unbefangen. Diese Haltung ist umso sympathischer, als sie Webers eigener Devise entspricht: unbefangen an die Dinge heranzugehen, mit denen er sich beschäftigte. Auch in diesem Punkt findet die Max Weber Gesamtausgabe mit der „Praktischen Nationalökonomie“ einen geglückten Abschluss.